Hamburg. Der Weg zur Macht – die Serie zur Kanzlerschaft des Hamburgers Olaf Scholz. Teil 5: Wo der Bürgermeister wirklich angreifbar gewesen wäre.
Dies ist die Geschichte eines Politikers, der belächelt und als „Scholzomat“ verspottet wurde, den die eigene Partei lange nicht geliebt hat und der trotzdem fest daran glaubte, eines Tages Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden. So fest, dass Olaf Scholz schon 2018 genau voraussagte, was drei Jahre später bei der Bundestagswahl passieren würde ...
Der 7. Juli 2017 sollte ein einmaliger, ein besonders schöner Tag für Olaf Scholz und Hunderte andere wichtige Menschen aus Hamburg und Deutschland werden. Angela Merkel hatte zusammen mit ihrem Ehemann Joachim Sauer zu einem Konzert im neuen Wunderwerk der klassischen Musik eingeladen, der wenige Monate zuvor eröffneten Elbphilharmonie.
Die Kanzlerin hatte sowohl den Dirigenten, Kent Nagano, ausgesucht als auch das Programm, Beethovens 9. Sinfonie. Und wirklich alle sollten kommen: der amerikanische Präsident Donald Trump, der französische Präsident Emmanuel Macron, der russische Präsident Wladimir Putin (der für leichte Aufregung sorgen würde, weil er sich deutlich verspätete).
G20: Olaf Scholz wurde von Angela Merkel gefragt
Es war der erste Tag des G-20-Treffens der mächtigsten Staats- und Regierungschefs in Hamburg, die Welt schaute auf eine Stadt, die bisher international kaum Schlagzeilen gemacht hatte.
Die Konferenz war bereits Ende 2015 nach Deutschland vergeben worden. Die Bundesregierung hatte sich darum beworben und Angela Merkel bei Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz angefragt, ob man dort, bei ihm, den Gipfel ausrichten könne.
Bei der Matthiae-Mahlzeit am 12. Februar 2016 gab Merkel im Rathaus offiziell bekannt, dass die Mächtigsten der Welt sich im Sommer 2017 in Hamburg treffen würden. Kurz zuvor hatte das Hamburger Abendblatt exklusiv darüber berichtet, ein hoher Beschäftigter der Stadt hatte sich bei einem Mittagessen verplappert.
Olaf Scholz: „Wir richten ja auch den Hafengeburtstag aus“
Man entschied, dass G20 mitten in der Innenstadt einen Platz finden sollte, getagt werden sollte in den Messehallen, die in unmittelbarer Nähe des alternativen Schanzenviertels liegen.
Die Auswahl des Tagungsorts unweit der Roten Flora war der erste einer Reihe von Fehlern, die am Ende zu einer Sonderausgabe des Hamburger Abendblatts mit Bildern aus dem brennenden Schanzenviertel und der Schlagzeile führte: „Was habt ihr mit unserer Stadt gemacht?“
Die Sorge vor dem, was bei einem G-20-Treffen im Zentrum einer Millionenmetropole passieren kann, war bei den Verantwortlichen vor den heißen Tagen im Juli nicht besonders ausgeprägt. Wer Bürgermeister Olaf Scholz zuhörte, musste denken, dass Hamburg solche Veranstaltungen regelmäßig durchführte.
Scholz sagte: „Wir richten ja auch jährlich den Hafengeburtstag aus. Es wird Leute geben, die sich am 9. Juli wundern werden, dass der Gipfel schon vorbei ist.“ Und: „Wir können die Sicherheit garantieren. Wir werden Gewalttaten und unfriedliche Kundgebungsverläufe unterbinden.“ Außerdem: „Es ist eine gute Sache, dass es diesen G-20-Gipfel in Hamburg geben wird.“
G20: Der Spaß war schnell vergangen
Das Zitat mit dem Hafengeburtstag wollte Scholz vor allem auf die Verkehrssituation in der Stadt bezogen wissen. Dass am 6. Juli, dem Tag, an dem die meisten Gipfelteilnehmer anreisten, der Verkehr in Teilen Hamburgs so zusammenbrach, dass es Autofahrer gab, die sich fünf Stunden (!) nicht von der Stelle bewegen konnten, hätte eine Warnung vor dem sein müssen, was da noch kommen würde.
Über unserem Redaktionsgebäude kreisten die Hubschrauber mit und von Donald Trump, es war ein spektakuläres und zugleich absurdes Schauspiel, genauso wie die endlose Fahrzeugkolonne des Präsidenten, die später durch die Stadt jagen sollte.
Olaf Scholz hatte Trump und seine Frau Melania in Fuhlsbüttel empfangen, es gibt viele Bilder von der Szene und ein Video, in dem man sieht, wie Scholz nach dem direkten Weiterflug von Trump mit seinem engen Vertrauten Wolfgang Schmidt abdreht und lacht. Gut möglich, dass sich die beiden über Trump lustig gemacht haben.
24 Stunden später war ihnen der Spaß an G20 vergangen. Als ich am Morgen des 7. Juli nach kurzer Nacht und so früh wie selten in die Redaktion kam, die Einladung zum Konzert in der Elbphilharmonie in der Sakkotasche, liefen auf den Bildschirmen dort Szenen, die mich an einen Bürgerkrieg denken ließen.
„In Hamburg haben wir Erfahrung mit Demonstrationen“
Auf der Elbchaussee hatte ein vermummter Mob begonnen, parkende Autos anzuzünden. Er zog durch die Straßen, als gäbe es kein Recht und Gesetz mehr und vor allem keine Polizei. Keine Sirenen waren zu hören, keine Einsatzkräfte zu sehen.
Stattdessen die Fahrgäste eines Linienbusses mit verstörten Gesichtern, als plötzlich die Randalierer auf sie zukamen. Ein Kollege, der in der Ecke wohnte und die Ausschreitungen live mitbekommen hatte, erzählte uns am Telefon, dass er sich in seiner Wohnung verbarrikadiert habe: „Leute, ich habe echt Angst. Das ist hier außer Kontrolle.“
Was hatte Olaf Scholz gesagt? „In Hamburg haben wir Erfahrung mit Demonstrationen, auch mit solchen, deren Anmelder den Satz ‚Ich rufe alle Teilnehmer auf, friedlich zu sein‘ nicht über die Lippen bringen.“ Die Polizei habe sich, unterstützt von Beamten aus anderen Ländern, auf alles Wahrscheinliche und Unwahrscheinliche vorbereitet, niemand müsse sich Sorgen machen.
Schließlich seien mehr als 30.000 Einsatzkräfte in Hamburg, so viele wie nie zuvor in der Geschichte der Stadt. Verhindern konnten sie das, was an diesem Morgen an der Elbchaussee und später im Schanzenviertel passierte, nicht.
Der längste Tag in Scholz' Karriere
Und das fiel am Ende vor allem auf Olaf Scholz zurück, der entgegen sonstiger Gewohnheiten den Mund zu voll, viel zu voll genommen hatte. Der 7. Juli 2017 wurde für uns alle ein langer Tag, für Olaf Scholz muss es der längste Tag seiner Karriere gewesen sein.
All das, was er sich in den Jahrzehnten zuvor aufgebaut hatte, sein Image als vielleicht spröder, aber wenigstens verlässlicher, kompetenter und vertrauenswürdiger Politiker, stand in diesen Stunden, und der Zeit danach, auf dem Spiel.
Scholz hat gesagt, dass er als Erster Bürgermeister zurückgetreten wäre, wenn es bei den Krawallen im Schanzenviertel, denen die Polizei lange tatenlos zusehen musste, Tote gegeben hätte. So weit ist es nicht gekommen, aber das war auch die einzige erfreuliche Nachricht an einem Tag, an dem Olaf Scholz seine politischen Instinkte verließen.
Er wollte ein guter Gastgeber sein
Während sich im Schanzenviertel zusammenbraute, was sich zusammenbraute, stellte sich der Bürgermeister mit Trump, Trudeau, Merkel und Co. zum Gruppenfoto vor der Elbphilharmonie auf. Und setzte sich hinterher mit den Staats- und Regierungschefs in den Großen Saal, um Beethoven zu hören, während ein paar Kilometer entfernt Teile der Stadt in Flammen aufgingen.
Er habe ein guter Gastgeber sein wollen, hat Scholz später zu Protokoll gegeben, und dass er das Konzert selbstverständlich nicht habe genießen können (was auch noch schöner gewesen wäre), sondern die ganze Zeit nur die eingehenden Lageberichte aus dem Polizeipräsidium auf seinem Handy verfolgt hätte. Mitten in der Nacht meldete sich der Bürgermeister mit einer Videobotschaft aus der Elbphilharmonie, die so verunglückt wie skurril war.
Er appellierte an die Gewalttäter
Man sah einen Hamburger Bürgermeister, der wie immer versuchte, Ruhe und Gefasstheit auszustrahlen, diesmal aber damit scheiterte, als er Folgendes sagte: „Ich bin sehr besorgt über die Zerstörungen, die stattgefunden haben. Ich bin bedrückt, was viele zu ertragen haben, die die Gewalt unmittelbar erlebt haben, indem zum Beispiel Fahrzeuge oder ihr Eigentum zerstört worden sind, oder sie gesehen haben, mit welcher Brutalität auch gegen Polizistinnen und Polizisten vorgegangen wird. Deshalb möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich Dank sagen an die Polizeikräfte in unserer Stadt, die aus Deutschland und aus anderen Ländern angereist sind und die Hamburger Polizei bei ihrer schweren Arbeit unterstützen. Das sind wirklich großartige Leute, sie sind in einem heldenhaften Einsatz unterwegs. Und ich appelliere an die Gewalttäter, mit ihrem Tun aufzuhören und sich zurückzuziehen und die Gewalttaten nicht mehr zu verüben, sondern ein friedliches Miteinander in dieser Stadt weiterhin möglich zu machen.“
Ein Regierungschef „appelliert“ an Gewalttäter, „mit ihrem Tun aufzuhören“. Verzweifelter, aber auch ratloser kann man als Politiker kaum sein. Dies war der Tiefpunkt in Scholz’ Karriere, ein Tiefpunkt, der sich in einem etwa 60 Sekunden langen Film manifestiert und der für viele andere in vergleichbarer Position das politische Ende bedeutet hätte.
Konzert in der Elbphilharmonie: Viele haben gehadert
Ich frage mich bis heute, wie es passieren konnte, dass Olaf Scholz an jenem 7. Juli in die Elbphilharmonie gegangen ist. Dass er nicht gesehen hat, welche für ihn verheerenden Bilder er damit produzierte, und dass es ihm niemand übel genommen hätte, wenn er seine Gastgeberrolle Gastgeberrolle hätte sein lassen und dort gewesen wäre, wo in dieser Nacht wirklich die Musik spielte: im Polizeipräsidium, in das er nach dem Konzert schließlich gefahren ist.
Man weiß nicht, wie es so weit kommen konnte, aber man kann eine Ahnung davon erheischen, wenn man, wie Olaf Scholz, selbst eine Einladung zu dem Konzert erhalten hatte. Ein Konzert, Seite an Seite mit den mächtigsten Menschen dieser Welt, in der eigenen Stadt, in der Elbphilharmonie. Das ist einer
dieser Once-in-a-lifetime-Momente, die man ungern verstreichen lässt.
Ich kenne viele, auch Chefredakteure, die im Besitz einer Eintrittskarte waren und mit sich gehadert haben, ob sie nun wirklich hingehen oder sich die Gelegenheit entgehen lassen. Es war, so viel kann man sagen, keine leichte Entscheidung.
Auch ich habe lange überlegt, aber die Eintrittskarte am Ende dort gelassen, wo sie den ganzen Tag gewesen war, in der Sakkotasche, weil ich das Gefühl hatte, in der Redaktion deutlich dringender gebraucht zu werden als in der Elbphilharmonie.
G20 – ein Schatten auf Scholz' Lebenslauf
Warum hatte Olaf Scholz dieses Gefühl nicht? War es ihm wichtiger, bei den Großen dieser Welt zu sein (die sich im Zweifel gar nicht um ihn kümmerten), als sich um das Wohl seiner Stadt zu kümmern? Oder hat er die Lage, was auch nicht viel besser wäre, einfach nur falsch eingeschätzt?
So oder so: Die G-20-Katastrophe von Hamburg war und ist der große Schatten auf dem politischen Lebenslauf von Olaf Scholz, insbesondere deshalb, weil Einschätzung und Wirklichkeit so eklatant auseinanderklafften und weil diejenigen, die Führung bestellt hatten, sie diesmal nicht bekamen.
Wer Scholz’ Schwächen thematisieren und ihn dort angreifen will, wo er wirklich verwundbar ist, der spricht über die Juli-Tage des Jahres 2017. Es ist erstaunlich, dass das die politischen Gegner im Bundestagswahlkampf 2021 nicht oder kaum getan haben. Vor allem CDU/CSU und FDP haben bei ihrem Kampf gegen Scholz auf die falschen Skandale gesetzt.
Olaf Scholz: Cum-Ex, Wirecard und Razzien
Vielleicht hatten sie gehofft, dass durch eine Aneinanderreihung von Themen wie Cum-Ex, Wirecard und Razzien im Bundesfinanzministerium der Eindruck entstehen könnte, dass der SPD-Kandidat nicht nur von politischen Gegnern, sondern auch von Affären umzingelt ist, und dass man so einen auf keinen Fall ins Kanzleramt wählen darf.
Das Problem war nur: Gerade die Cum-Ex-Geschäfte sind so kompliziert, dass einem nicht einmal Wikipedia dabei helfen kann, sie zu verstehen. Dort heißt es: „Unternehmen schütten ihren Aktionären meist einmal im Jahr Dividende aus. Das ist die Gewinnbeteiligung für die Aktionäre am Unternehmensgewinn. Auf Dividende ist Kapitalertragsteuer fällig.
Die Beteiligten verschoben die Aktien innerhalb kurzer Zeit hin und her. Das Ziel dabei war, dass der Staat die Kapitalertragsteuer wieder zurückzahlt. Bei diesen Geschäften wurde die Steuer sogar mehrfach zurückerstattet, teilweise sogar an Beteiligte, die gar keine Steuern gezahlt hatten.“
Niemand ist auf die Kritik gekommen
Welche Rolle dabei nun die Warburg-Bank in Hamburg gespielt hat oder gespielt haben soll, was Tagebücher des Bankenchefs damit und mit Bürgermeister Olaf Scholz zu tun haben könnten und wie eigentlich genau der Zwischenstand im Cum-Ex-Untersuchungsausschuss in der Hamburgischen Bürgerschaft ist, war komplex.
So komplex, dass nicht einmal Christian Lindner, der sich vor der Bundestagswahl als nächster Bundesfinanzminister anbot, in seinen Vorwürfen gegen Olaf Scholz konkret werden konnte und nur, wie auch im Fall des untergegangenen Finanzunternehmens Wirecard, von „Verantwortungsbereichen“ sprach, für die man einstehen müsse: „Herr Scholz hat immer gesagt, wer bei ihm Führung bestellt, bekommt Führung. Wer so selbstbewusst auftritt, muss dann auch Verantwortung übernehmen“, sagte Lindner noch wenige
Tage vor dem 26. September.
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Das stimmte, aber dafür waren Cum-Ex und Wirecard die falschen Beispiele, weil Scholz in beiden Fällen bis dahin keine persönlichen Fehler nachgewiesen werden konnten. Bei G20 wäre das ganz anders gewesen. Aber auf die Idee, einem Mann, der Bundeskanzler werden und im Zweifel mit den Regierungschefs der Welt über Krieg und Frieden, Wohlstand und Sicherheit verhandeln will, vorzuwerfen, dass er nicht einmal eine zweitägige Tagung ordentlich organisieren kann, ist niemand gekommen.
Das war Olaf Scholz’ Glück. Und ein wenig auch jenes von Angela Merkel. Denn offiziell war nicht Hamburgs Bürgermeister, sondern die Bundeskanzlerin Einladende und Gastgeberin eines G-20-Treffens in Deutschland, das zufällig in Hamburg stattgefunden hat. Ihr hat das nicht geschadet. Und Olaf Scholz, ihrem Nachfolger, am Ende dann auch nicht.
Lesen Sie in der nächsten Folge: Der Mensch hinter dem Politiker