Hamburg. Seit Hersteller wie Biontech mehr liefern, nimmt die Kampagne an Fahrt auf. Doch Diskussionen um Astrazeneca erschweren die Lage.

„Sind Sie schon geimpft?“ „Nein.“ „Dann machen wir das mal eben.“ Mal eben. Als ob es nichts wär‘. Einfach eine Spritze setzen gegen das tückische Coronavirus. 14 Monate Pandemie und Lockdown-Jo-Jo. Wut, Schweiß und Tränen. Und dann: ein Piks. Hausarzt Dr. Björn Parey nimmt eine der Spritzen aus der grauen Pappschale, die aussieht, als hätte man einen 6-er Pack Bioeier kunstvoll verbogen. Ein Teil der Aufklärung für die Corona-Impfung hat schon stattgefunden. Pareys Fragen an Christine Richter (56) sind kurz und klar: nach Schwangerschaft, gerinnungshemmenden Mitteln, akuten Infekten. „Haben Sie noch Fragen?“ „Nein.“ Piks.

Vorsichtshalber zwei Tage kein Sport. 15 Minuten möge sie noch in der Praxis warten, ehe sie nach Hause geht. Christine Richter arbeitet in einer Berufsschule. Monatelang musste sie sich gut schützen. Das wird auch zunächst nicht aufhören. Die Maske bleibt Pflicht. Abstandsregeln gelten weiter. Noch ein paar Wochen durchhalten. Privilegien für Geimpfte? Was heißt das juristisch, wirtschaftlich, politisch, ethisch? Die großen Debatten – hier zählt der Mensch. Nach der Impfung sagt Christine Richter: „Das war ja harmlos.“

Impfen in Hamburger Hausarztpraxen: „Rufen! Sie! Nicht! An!“

In Hamburg-Volksdorf wurde der Impf-Turbo gezündet. Er glüht und röhrt und immunisiert im ersten Stock eines unscheinbaren Hauses, in dem sich die Praxis von Dr. Björn Parey und seinen Kolleginnen befindet. Acht Zimmer, die vom verglasten Empfangstresen abgehen. Die Fensterfront lässt viel Licht hinein, der Boden ist schlicht und hell. Impfzentren hin und her – in ihren Räumen können Deutschlands niedergelassene Ärzte zeigen, wer Millionen Patienten versorgt, wer sie kennt, sie versteht.

Dr. Björn Parey impft Christine Richter.
Dr. Björn Parey impft Christine Richter. © Michael Rauhe | Unbekannt

Und ihnen in diesen pandemischen Tagen auch mal die Leviten lesen muss. „Rufen! Sie! Nicht! An!“ Das ist der Schlachtruf, den alle Praxen im Chor brüllen könnten. So freundlich Arzthelferin Melanie Ingwersen auch sein mag. Sie und ihre Kolleginnen der Medizinischen Fachangestellten sind gestresst vom Betteln der Patienten. Bis abends um neun klingeln die Leute durch. Dabei soll es umgekehrt laufen. Die Ärzte schauen in ihre Akten, suchen die Impfberechtigten und die besonders Schutzbedürftigen heraus und rufen sie an. Wer dann darf, ist gut gelaunt. Ingwersen sagt: „Die Patienten kommen oft schon recht fröhlich in die Praxis. Wenn sie gehen, lassen viele kleine Aufmerksamkeiten da.“

14 Monate Corona: "Helferinnen gehen auf dem Zahnfleisch"

Liana Franz, Luisa Bento und Melanie Ingwersen.
Liana Franz, Luisa Bento und Melanie Ingwersen. © Michael Rauhe | Unbekannt

Ihr Chef Parey sagt, die Mitarbeiterinnen trügen seit 14 Monaten eine Hauptlast und gingen auf dem Zahnfleisch. „Auch die Patienten könnten sie entlasten, wenn sie die Anrufe reduzieren. Jeder Anruf kostet so viel Zeit wie eine Impfung.“

Parey, der den Notdienst wie kein Zweiter kennt, macht auch Hausbesuche. Wer Impf-Praxis sagt, darf diese Knochenarbeit nicht vergessen. Das ist ein Nebenaggregat des Impf-Turbos. Die vergessenen Kranken zu Hause, die nicht mal eben die wenigen Stufen zum Piks hochsteigen können – sie wedeln mit der Impfberechtigung und hoffen auf ihren Doktor.

Und hier zeigt sich im Detail einer durchdachten Organisation, dass die bislang 1000 niedergelassenen Ärzte, die in Hamburg impfen, auf dem Boden der Realität zu Hause sind. Denn der Weg zum Piksen kann holprig sein. Kopfsteinpflaster, wie in Teilen des beschaulichen Volksdorf, geht gar nicht. Sagt Dr. Barbara Hempel, die mit Kristina Hauschild die Spritzen mit Biontech oder Astrazeneca vorbereitet. Drei Stunden dauert das an diesem Nachmittag, bis abends kommen 100 Patienten. Wer mit diesen impffertigen Spritzen auf Hausbesuch fährt, darf sie nicht rütteln, schütteln und auch nicht mehr fachgerecht schwenken, wie es Kristina Hauschild so sorgsam beim Aufbereiten tut. Fahrradtouren sind quasi tabu. Mit dem Auto sollte man die Schlaglöcher umkurven.

Was die Hausärzte pro Corona-Impfung verdienen

20 Euro bekommen die Hausärzte pro Spritze, deren Inhalt ja von der Bundesregierung bezahlt wird. 20 Euro für das Herausfischen der richtigen Personen aus der Kartei, die Anrufe, die Diskussionen, die längeren Öffnungszeiten der Praxen, die Zusatzkosten für das Personal, die ausgefallenen Erlöse, weil ja während des Impfens keine anderen Patienten behandelt werden können.

Die fertig aufbereiteten Spritzen.
Die fertig aufbereiteten Spritzen. © Michael Rauhe | Unbekannt

Da macht so ein 100-Prozent-Extra-Aufschlag für einen Hausbesuch schon richtig was aus. Ach so, dokumentiert werden muss das Ganze natürlich. Abgerechnet wird mit der Krankenkasse, die Zahlen täglich frisch ans Robert-Koch-Institut gemeldet. Hier ist der Impf-Turbo kein Kassenschlager.

Für die Ärztin Hempel ist das zweitrangig. Sie will mit aller Besonnenheit die Zweifler überzeugen, sich impfen zu lassen. Will so sorgfältig es geht den Impfstoff aufziehen. Will die Pandemie beenden. Blaue Gummihandschuhe, FFP2-Maske, im engen Raum ohne Fenster stundenlang an den Tisch mit den begehrten Fläschchen gefesselt. „Fläschchen“ – hier heißen sie Vial oder Phiole. Comirnaty steht drauf. Das ist der Impfstoff von Biontech/Pfizer. Bei Astrazeneca heißt das Vakzin Vaxzevria.

Biontech und Astrazeneca: Da sind mehr Dosen drin

Ein Biontech-Vial.
Ein Biontech-Vial. © Michael Rauhe | Unbekannt

Und für alle, die damit hantieren, steht unmissverständlich auf dem Biontech-Fläschchen: 6 doses. Bei „Astra“ sind es zehn.„Es ist für uns inzwischen kein Problem, sieben Dosen aus einem Biontech-Vial zu nehmen“, sagt Hempel. Zunächst waren die Vials für fünf Dosen zugelassen, der Hersteller hat dann bei der Europäischen Arzneimittelbehörde sechs beantragt. Für sieben liegt kein Antrag vor, keine Zulassung. In diesem Graubereich wandert die Haftung auf die Ärzte über. Keiner würde eine siebte Spritze aufziehen, wenn er Zweifel hätte, dass nicht genügend Impfstoff drin ist.

Bei sorgfältiger Arbeit heißt das: ein Sechstel mehr Impfstoff, 116 statt 100 Patienten. Grippeimpfung ist leichter: Da kommt die Fertigspritze, Piks, weiter. Barbara Hempel sagt: „Das ist alles eine Frage der Organisation. Unsere Praxis ist ein Impfzentrum in klein geworden.“

Corona-Impfung: Erst Impfzentrum, dann Hausarzt?

Das stimmt und sagt sich leicht. Doch wer im Impfzentrum die erste Spritze bekam, will jetzt vielleicht lieber zum Hausarzt. Dr. Parey sagt: „Patienten, die im Impfzentrum erstgeimpft wurden, sollen auch dort ihre zweite Impfung bekommen. Hoffentlich ist das Impfzentrum in der Lage, die Termine vorzuziehen.“

Überall steigt die Ungeduld. Seit Astrazeneca mit ärztlicher Zustimmung auch an Jüngere verimpft werden kann, seit die Zwölf-Wochen-Spanne auch verkürzbar erscheint, sind zwischen Hamburger Praxen und Patienten alle Dämme gebrochen. Am Freitag war der Run auf die Niedergelassenen mit Anrufen, Mails und persönlichem Erscheinen so gewaltig, dass die positive Impfstimmung zu kippen drohte.

Diskussion um Impfintervall bei Astrazeneca

RKI-Chef Lothar Wieler (l.) und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU).
RKI-Chef Lothar Wieler (l.) und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). © dpa | Tobias Schwarz

Der Präsident des Robert-Koch-Institutes, Prof. Lothar Wieler, sagte über seine eigene Impfung mit Astrazeneca: „Natürlich werde ich mich erst nach zwölf Wochen impfen lassen. Je länger der Abstand zwischen Erst- und Zweitimpfung ist, desto besser ist der Schutz.“ Die Bundesregierung will es den Ärzten überlassen, ob sie die Spanne von zwölf auf bis zu vier Wochen verkürzen.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Das erhöht die Attraktivität von Astrazeneca ungemein. Die Impfkandidaten schielen auf einen früheren Urlaub, auf die Testpflicht, die für sie schneller fallen könnte. Der Sprecher der medizinischen Leiter des Hamburger Impfzentrums, Dr. Dirk Heinrich, sagte dem Abendblatt: „Bei dieser Frage sind Studien, also echte wissenschaftliche Evidenz gefragt und weniger persönliche Erfahrungen. Ich bin da ganz bei Prof. Wieler. Längerer Abstand ist besser – sowohl epidemiologisch als auch persönlich für den Impfling.“

Was dürfen Corona-Geimpfte?

Der Hamburger Hausarzt Dr. Björn Parey.
Der Hamburger Hausarzt Dr. Björn Parey. © Michael Rauhe | Unbekannt

Dr. Björn Parey steht in seiner Praxis, verschränkt die Arme und sagt: „Wir haben mehr Biontech bestellt, weil jetzt vermehrt jüngere Patienten kommen. Bei Astrazeneca müssen wir sehen, wie wir es unter die Leute bringen. Eine gute Idee wäre jetzt, da sich auch Jüngere dafür entscheiden können: Man sollte den Abstand zwischen beiden Impfungen von zwölf Wochen auf deutlich weniger reduzieren. Das ist innerhalb der Zulassung möglich. Die Patienten wollen nicht zwölf Wochen warten, ehe sie ohne Test zum Friseur gehen oder mit vollem Impfschutz in den Urlaub fahren können.“

Die Hausärzte und der Impf-Turbo: Es sind noch ein paar Runden zu drehen im Rennen gegen das Coronavirus und seine vermaledeiten Varianten. Im Treppenhaus zur Parey-Praxis windet sich eine kleine Schlange von Eingeladenen mit Abstand hoch zur Tür. Sie lässt sich während der Impfsprechstunde nur von innen öffnen. Ein Patient geht nach Spritze und Viertelstunde Wartezeit hinaus wie in ein neues Leben. Seit er hier eintrat sind 19 Minuten und 43 Sekunden vergangen. Handgestoppt.