Hamburg. Sieben Verhaltensweisen liegen der Erziehungsmethode zugrunde. Frauke Ludwig erklärt, wann Eltern Grenzen ziehen sollten.

Als der amerikanische Kinderarzt Dr. William Sears in den frühen 1980er-Jahren merkte, dass er sein fünftes Kind mit dem ihm bekannten, damals gängigen Erziehungsmethoden nicht erreichte, versuchten er und seine Frau Magda die Bedürfnisse dieses Babys durch vermehrte Aufmerksamkeit und Zugewandtheit zu stillen. Sie achteten intensiv auf die ausgesandten Signale und reagierten sofort. Erfolgreich.

Gepaart mit Studien anderer Autoren, die sich dafür aussprachen, den Bedürfnissen von Kindern nachzukommen, sich dem Kind gegenüber maximal responsiv zu verhalten und beispielsweise auf Flaschenfütterung und Schieben im Kinderwagen zu verzichten, entstand daraus eine neue Erziehungsphilosophie, die in Deutschland unter dem Begriff „Attachment Parenting“, also bindungsorientierte Elternschaft, abgekürzt AP, für Kontroversen sorgt.

Hamburgerin gibt Kurse für Eltern

Sieben Verhaltensweisen im Umgang mit dem eigenen Kind liegen hier zugrunde, diese sind das Schlafen im Familienbett, das häufige Tragen am Körper, das Stillen, der Verzicht auf Schlaftrainings, das Bonding (Blick- und Körperkontakt sofort nach der Geburt), promptes Reagieren auf Weinen. Alles zielt darauf ab, dass die Bezugsperson, zumeist die Mutter, eine sehr enge Verbindung zu ihrem Säugling hat.

Fachfrau für Eltern, Kinder und deren Beziehung ist die Hamburgerin Frauke Ludwig, die ihre Trageschule betreibt und Kurse für Eltern gibt. In der aktuellen Folge unseres Familienpodcast beschreibt sie ihre Haltung. „Die Bewegung in Deutschland hat sich eher zu einer beziehungs- und bedürfnisorientierten Erziehung, abgekürzt BO, hin entwickelt.“ Es gehe nicht um einen dogmatischen Stil, bei dem – so einer der am häufigsten angeführten Kritikpunkte an AP – die Selbstaufgabe der Mutter eine in Kauf genommene Nebenwirkung sei. Denn wie soll man duschen, wenn das Baby gleichzeitig anfangen könnte zu schreien und man nicht augenblicklich reagieren kann? Jemals außerfamiliär betreuen lassen? Tragetuch trotz Rückenschmerzen?

Lösen von althergebrachten Erziehungsvorstellungen

Sicher, da muss man durch, wenn man eine enge Bindung erreichen will. Was anklingt ist, dass die AP-Bewegung von vielen kompromisslos gelebt wird. Ludwig hingegen ist von der Grundidee überzeugt, aber „wenn man es als Programm fühlt und nicht die Intention lebt, dann sollte man es nicht machen. Für mich ist es eine Haltung, bei der man Bock darauf hat, liebevoll und bindungsorientiert mit seinem Baby zu interagieren.“

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Liebevolle Interaktion macht Bindung. Es gehe auch darum, sich zu trauen, sich von althergebrachten Erziehungsvorstellungen zu lösen. "Das Nicht-schreien-Lassen ist für mich eine der essenziellsten“, sagt Ludwig. Noch unsere Großeltern, einige Eltern waren beispielsweise mit Strategien der Erziehungsratgeberin und Buchautorin Johann Haarer aus der Zeit des Nationalsozialismus vertraut. Kinder dürfe man nicht verwöhnen – durch zu viel auf dem Armhalten. Besser ablegen oder Babys müssten schreien, um die Lungen zu stärken. Der beliebte deutsche Protoyp von Babys seien teilweise immer noch "pflegeleichte Kinder", die sich "leicht abgeben lassen" würden.

Eltern wollen gute Beziehung zu ihren Kindern

Heute wollten die meisten Eltern eine gute Bindung und Beziehung zu ihren Kindern. BO und AP zielen genau darauf ab, ein sicher gebundenes Kind großzuziehen. Doch wird dem Kind dadurch nicht auch eine Freiheit genommen? Bei so viel Nähe – traut sich ein junger Mensch dann, in die Welt zu ziehen, ohne Mutter und Vater in Rufnähe?

Ja, sagt Ludwig, genau dann gehe das besonders gut. "Dafür ist frühkindliche Bindung ja so essenziell. Wenn ich durch die Welt gehe und habe einen Hafen, dann traue ich mich das." Wer gute Bindungserfahrungen erlebt habe, entwickle ein starkes Selbstwertgefühl und könne auch später im Job erfolgreicher sein. Der Job der Eltern spielt übrigens ebenfalls eine Rolle. Oder vielmehr die damit verbundene außerfamiliäre Betreuung. „Kinder brauchen keine Kita. Aber wir“, sagt Ludwig.

Kita bedeutet Arbeit für Kinder

„Und bei der bedürfnisorientierten Erziehung geht es ja auch um unsere Bedürfnisse als Eltern.“ Ludwig hat ihren Weg mit ihren Töchtern gefunden, hat sie mit 15 Monaten, „mit der nötigen Hirnreife“, in eine Kita gegeben und sich mit der Eingewöhnung viel Zeit gelassen. „Egal, wann ein Kind in die Kita geht, wir sollten uns klarmachen, dass es Arbeit für unser Kind ist und die Kinder dort viel kooperieren müssen. Deshalb sind die Kinder manchmal auch so anstrengend nach dem Abholen oder nörgelig.“ Übrigens ein gutes Zeichen, „denn da zeigen uns die Kinder ‚bei dir darf ich sein:‘ Die Welt ist vielleicht kein Ponyhof, aber zu Hause sollte der Ponyhof sein.“

Doch wie Idylle, Ruhe und Zugewandtheit ausstrahlen und für das Kind herstellen, wenn einem ein anstrengender Arbeitstag in den Gliedern sitzt, wenn man selbst erschöpft ist am Nachmittag? Wo bleibt das Bedürfnis der Mutter, der Eltern dann? „Eigentlich haben wir 2,5 Jobs, gerade mit kleinen Kindern. Es ist zu viel. Man muss lernen abzugeben. Sich Hilfe holen und diese annehmen.“ Mütter seien noch immer die, die alles meinen organisieren zu müssen. „Wir müssen lernen zu sagen, dass man nicht mehr kann.“

Ludwig nimmt sich regelmäßig „frei von Familie“

Ludwig selbst hat sich stets einmal im Monat ein Wochenende „frei von der Familie“ genommen. War dann feiern und schnackte mit Freundinnen. „Danach hatte ich dann immer wieder Kraft für den ganzen Monat“, sagt sie. Kraft fürs Familienbett, Vorlesen und nah neben den Kindern schlafen. „Aber bitte das Kind nur ins eigene Bett holen, wenn man es möchte. Wenn nicht, dann nicht. Denn sonst sende ich die Botschaft: ‚Ich gehe über meine Grenze, übergehe meine Bedürfnisse für andere.‘“ Und das sei gerade nicht bedürfnisorientiert.