Hamburg. Siele können zehn Prozent der Regenfälle bei Unwetter nicht sicher ableiten. Ab wann es in Hamburg zu Überschwemmungen kommt.
Hamburgs Unterwelt stammt vom britischen Ingenieur William Lindley. Er erfand nach dem großen Brand 1842 für Hamburg die mächtigen Mischwassersiele aus rotem Backstein. Seit den 1980er-Jahren aber sattelt die Stadt noch erheblich drauf.
Unter Lindleys Kanälen für Schmutz- und Regenwasser entstanden noch mächtigere Kanäle mit Querschnitten von bis zu 4 Metern im größten Sammler. Im Schildvortriebsverfahren baute Hamburg Wasser ein Netz von Wasserautobahnen direkt unter das alte Sielsystem. Um dem Klimawandel und der immer noch anhaltenden Nachverdichtung etwas entgegenzusetzen.
695 Millionen Euro für den Sielausbau
„Zwischen 1990 und 2020 entstanden für 695 Millionen Euro 25,39 Kilometer neue Sammler und Transportsiele und zehn Rückhaltebecken in vier Entlastungsprogrammen für Alster, Elbe, Bille und Innenstadt“, sagt Janne Rumpelt, Sprecherin von Hamburg Wasser.
Nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zum alten, bis auf das Geest-Stammsiel vollständig durchsanierten Mischwassersystem in der inneren Stadt. Aus Lindleys Leitungen kann das Wasser jetzt hinunterstürzen ins neue System und, relativ unbehelligt von kleinen Zuflüssen, direkt und beschleunigt zum Klärwerk Köhlbrandhöft fließen. Für die Umwelt und für den Schutz der Bürger vor Binnenhochwasser.
Denn in der inneren Stadt nimmt das Siel auch das Regenwasser auf und leitet es ab. So das denn überhaupt möglich ist. Denn die Wassermenge wächst nicht nur durch den Klimawandel und die Starkregenfälle, sondern auch durch die immer dichtere Besiedlung der Stadt. Der Kreis, in dem die Flächenversiegelung 80 bis 100 Prozent erreicht, wird immer größer. Während in der Natur etwa 40 Prozent des Regenwassers verdunsten, geht dieser Wert in der inneren Stadt gegen null. Und alles Wasser, was nicht verdunstet oder versickert, fließt. Entweder ab ins Klärwerk oder in natürlich Flüsse und Kanäle oder eben in die städtische Fläche und in die Keller.
Versteckte Mischwasser-Speicher unter eleganten Büros
Der Einstieg ist kreisrund und eng. Es müffelt weniger als erwartet. Die Holme der Leiter ragen griffbereit oben heraus, aber der Schirm des Helms stößt gern an die Sprossen, wenn der ungeübte Kletterer in die Tiefen des Mischwasserrückhaltebeckens steigt. Unter dem gläsernen Berliner Büro-Bogen am Anckelmannsplatz liegen drei nebeneinanderliegende Hallen im Halbdunkel, hinten links in rund 50 Meter Entfernung die Andeutung einer Öffnung. Da sitzt der Schieber.
Wenn die elektronische Steuerung aufgrund erhöhter Pegelstände ein Signal sendet, hebt er sich und lässt die Halle volllaufen. Sinken die Pegel, wird das Wasser zurückgepumpt. Wirbeljets ziehen Luft und verwirbeln damit das Wasser. Das sorgt dafür, dass keine Sedimente im Becken verbleiben.
22.000 Kubikmeter fasst das unterirdische Rückhaltebecken. Es ist das größte seiner Art in Hamburg. Mit dem Rückhalt des Wassers wird Zeit gewonnen. Starkregenfälle sind heftig, aber in der Regel sehr kurz. Das Wasser kann gerade in der inneren Stadt weder versickern noch verdunsten und fließt in die Gullys. Die Überlast wird innerhalb des Siels aufgefangen und gespeichert, um sie anschließend kontrolliert und langsam ins Netz einzuspeisen und durchs Klärwerk zu schicken.
Die Grenzend des Wachstums: Sielausbau am Ende
Da es sich um Mischwasser handelt, soll es nur noch im Notfall in natürliche Gewässer ablaufen. Das verlangen EU-Vorgaben zur Gewässerreinhaltung. Die Investitionen ins Sielnetz dienten auch diesem Ziel. Die Überläufe in Alster und Elbe haben sich um 90 bzw. 70 Prozent verringert. Aber die Regenmassen der gesamten Stadt kann auch das ausgebaute Siel nicht bewältigen.
„Der Ausbau der Siele in der inneren Stadt ist abgeschlossen und hat die technischen Grenzen erreicht“, sagt Janne Rumpelt. „Mehr geht schon aus Platzgründen eigentlich nicht mehr. Von den Kosten ganz zu schweigen.“ Bei katastrophenartigen Starkregenfällen wie jetzt im Ahrtal können die Siele das Wasser nicht fassen. Sie würden überlaufen.
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Aus den Außenbezirken nimmt das System unter der Innenstadt deshalb nur das Schmutzwasser auf. Weil es geklärt werden und insofern den Weg zum Köhlbrandhöft an der Elbe finden muss. Aber das Regenwasser aus der Vorstadt bleibt außen vor. Dafür gibt es ein eigenes System mit 360 natürlichen Rückhaltebecken in der Zuständigkeit der Bezirke, das vielfach Gräben und natürliche Gewässer als Siele nutzt und auch auf Versickerung und Verdunstung setzt.
Im 2015 von der Stadt und Hamburg Wasser herausgegebenen „Strukturplan Regenwasser 2030“ ist folgerichtig von „angemessenem“ Schutz vor Binnenhochwasser die Rede. Es geht um das richtige Maß. Um eine Abwägung, die Schutz, Kosten und Schadensrisiken ins Verhältnis setzt.
Hamburg Wasser hat Online-Starkregenindex entwickelt
Wissenschaftler um Theo Schmitt von der TU Kaiserslautern haben den Starkregenfällen Zahlen von 1 bis 12 zugeordnet. In Anlehnung an die Werte für Windstärken soll damit plastischer und schneller begreiflich werden, welche Wucht uns erwartet. Hamburg Wasser hat das System auf die örtlichen Verhältnisse heruntergebrochen und den ersten deutschen Online-Starkregenindex entwickelt. Er ist in Echtzeit abrufbar.
Demnach kann Hamburg Starkregenfälle der Stärken 1 und 2 sicher ableiten. Das sind rund 90 Prozent der Regengüsse. Die Mischwassersiele der inneren Stadt mit ihren unterirdischen Rückhaltebecken und Sammlern verkraften etwas mehr. Diese Grenzen markieren das Maß des Hamburger Binnenhochwasserschutzes. Alles, was die Stärke 2 übersteigt, lässt in der inneren Stadt das Mischwassersiel überlaufen und das nur mechanisch vorgeklärte Wasser in Alster, Elbe und Bille fließen. Ab Stärke sechs beginnt die Katastrophe. Im Ahrtal erreichten die Regenfälle die Stärke elf.
Starkregen wie im Ahrtal gab es auch in Hamburg schon
Besonders war im Ahrtal die Dauer des Regens. Ein Tief hatte sich festgesetzt, sodass fortgesetzt warme Luft nach oben gezogen wurde, an immer derselben Stelle auf Kaltluft stieß und abregnete. Die Topografie tat ein Übriges, sodass die Folgen der katastrophenartigen Regenfälle heftiger waren, als sie für Hamburg wahrscheinlich sind. Einen Starkregen der Stärke 11 gab es auch hier schon. Am 10. Mai 2018 gingen Sintfluten über Lohbrügge nieder, trieben Erdmassen vor sich her, unterspülten Gehwege und die Fundamente eines Hauses. Es konnte saniert werden. Kein Vergleich also zum Ahrtal. Der Starkregen, der am 6. August 2021 über Sasel hereinbrach und den Wiesenweg flutete (wir berichteten), erreichte die Stärke 8.
Damit ist für Hamburg Wasser, die Behörden und auch den Grundeigentümerverband klar, dass Heimsuchungen in Hamburg möglich sind und der Binnenhochwasserschutz nur relativ sein kann. Vor allem ist er die Sache aller.
Das „Integrierte Regenwassermanagement“ von Umweltbehörde und Hamburg Wasser sieht vor, Prinzipien der Stadtentwässerung in die Bauplanung aufzunehmen. Notwege für Wasser, Flächen, auf denen kurzzeitig mal Wasser stehen kann, Versickerungs- und Verdunstungsmöglichkeiten sollen in die Bebauungspläne integriert werden, um den Zielkonflikt zwischen Nachverdichtung (Versiegelung) und Wasserwirtschaft konstruktiv zu wenden.
Bei Straßen- und Hausbau den Starkregen bedenken
Auch der Straßenbau kann reagieren und Fahrbahnen so überformen und neigen, dass das Wasser sinnvolle Wege finden und dahin laufen kann, wo es nicht stört oder sogar nützt. In wenigen Einzelfällen geschieht das schon: In Volksdorf wurde die Straße Wiesenhöfen so umgebaut, dass sie Wasser in den angrenzenden Ohlendorffs Park leiten kann und die Keller verschont.
Die Regeninfrastrukturanpassung (RISA) sieht aber auch vor, Grundeigentümer auf ihre Eigenverantwortung hinzuweisen. Basis dafür ist die Starkregengefahrenkarte, in der Eigentümer ablesen können, ob Risiken für ihr Grundstück bestehen. Eine Broschüre gibt Tipps, wie es geschützt werden kann. Im Grundsatz will der neue Umgang mit Regen nicht nur ableiten, sondern naturnah mit dem Wasser umgehen. Idealerweise soll es da versickern und verdunsten, wo er niedergeht. Auch deshalb wird mit Rückhalt gearbeitet. Gründächer und -fassaden, aber auch einfache Mulden mit versickerungsförderndem Untergrund lassen das Wasser zumindest temporär vor Ort stehen und geben damit natürlichen Prozessen eine Chance.