Hamburg. Dass der Olaf aus Hamburg eines Tages Kanzler werden würde, war für die meisten eine absurde Vorstellung. Wie es dennoch dazu kam.
Einer der letzten Drehtage für den Abendblatt-Kinofilm, der zum 75. Geburtstag (erfahren Sie hier mehr zum Abendblatt-Jubiläum) erscheint, führte uns an einen Ort, der sich für einen Hamburger seit Ende 2021 wie ein Stück Heimat anfühlt. Wir waren im Bundeskanzleramt, trafen dort erst auf Regierungssprecher Steffen Hebestreit, dann auf Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt und schließlich auf Olaf Scholz, den Bundeskanzler, das Trio, das es aus dem Hamburger Rathaus in die Zentrale der Macht nach Berlin geschafft hat. Etwas, was außer den Dreien lange Zeit kaum jemand für möglich gehalten hat, selbst in der eigenen Partei nicht.
An Olaf Scholz lassen sich mindestens zwei außergewöhnliche Geschichten erzählen. Die erste ist die, dass unter den bisher neun Bundeskanzlern, die die Bundesrepublik gehabt hat, zwei überzeugte und bekennende Hanseaten sind, und eine weitere, nämlich Angela Merkel, immerhin in der Hansestadt geboren wurde. Wenn man so will, hat unser kleiner Stadtstaat damit ein Drittel der Regierungschefs gestellt, was mindestens statistisch gesehen eine Sensation ist. Offensichtlich vertrauen die Menschen aus den anderen Teilen Deutschlands Politikern aus dem Norden, wenn es darum geht, das wichtigste Amt im Staat zu besetzen, und vielleicht machte das Beispiel von Helmut Schmidt und von Angela Merkel auch Olaf Scholz Mut, den Weg zu gehen, den er gegangen ist.
75 Jahre Abendblatt: Schon in der Schule galt Olaf Scholz als Besserwisser
Womit wir bei Geschichte Nummer zwei wären. Denn dass der Olaf aus Hamburg, der laut Aussagen seines Vaters schon in der Schule ein Besserwisser gewesen sei und der in seinen jungen Jahren „so links war, wie ich niemals hätte denken können“ (Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi), eines Tages wirklich Bundeskanzler werden würde, war für die meisten Experten eine absurde und deswegen unmögliche Vorstellung. Dabei war, so hat es auch von Dohnanyi erzählt, Scholz‘ Wunsch, im politischen System der Bundesrepublik bis ganz nach oben zu kommen, früh zu spüren gewesen, weit vor der Zeit, in der er Bürgermeister Hamburgs wurde.
Spätestens seitdem hätten aber alle, die genau hinhörten, wissen können, dass Olaf Scholz nicht von Berlin zurück in seine Heimatstadt gekommen war, um zu bleiben, so wohl er sich hier auch fühlte. Doch wenn er davon anfing, was er auf Bundesebene anders machen würde, wenn er Pläne und Strategien vorstellte, die ihn selbst ins Kanzleramt bringen könnten, nahmen ihnen die meisten nicht ernst. „Der Scholz wieder“, war ein geflügeltes Wort, und ein weiteres: „Der glaubt echt immer noch, dass er eines Tages Bundeskanzler wird.“ Was allein deshalb ausgeschlossen schien, weil man sich als journalistischer Beobachter lange nicht vorstellen konnte, dass die SPD Olaf Scholz jemals zum Kanzlerkandidaten machen würde. Das Verhältnis der Partei zu ihrem heutigen Kanzler war immer ein gestörtes.
Die SPD brachte Scholz nie die Liebe entgegen, wie es umgekehrt der Fall war, auch wenn er gern sagt, dass er sich nicht beschweren will. Schließlich habe ihm die Partei ermöglicht, Generalsekretär zu werden, Bundesarbeitsminister, Hamburger Bürgermeister, Bundesfinanzminister und schließlich Bundeskanzler, da könne er nun wirklich nicht undankbar sein. Aus der Rückschau betrachtet, also vom Kanzleramt aus, kann man das heute so sagen, zwischendurch stimmte das nicht. Weil die SPD ihn jahrzehntelang im wahrsten Sinne des Wortes links liegen gelassen hat, ist das, was Olaf Scholz am Ende gelungen ist, umso erstaunlicher.
75 Jahre Abendblatt: Als Olaf Scholz plötzlich bei mir im Büro stand
Ich erinnere mich gut an ein langes Gespräch, das wir in meinem Büro in der Abendblatt-Redaktion am Großen Burstah führten, als feststand, dass Olaf Scholz als Bürgermeister in Hamburg aufhört und Bundesfinanzminister und Vizekanzler in der neuen Großen Koalition in Berlin wird. Er kam zu solchen Gesprächen zu Fuß aus dem Rathaus, das waren nur wenige Minuten, und ich wunderte mich jedes Mal, wenn plötzlich einer seiner Sicherheitsleute in meinem Büro stand; und niemand sagen konnte, wie er reingekommen war. Einmal habe ich einen der Beamten gefragt, er hat nur gegrinst und gesagt: „Wir kommen überall rein.“
Scholz hatte an diesem Nachmittag viel Zeit, er ist sowieso keiner dieser Politiker, die nur mal schnell reinschneien, was sagen und dann wieder verschwinden. Man kann mit ihm lange und detailliert über Politik sprechen, es macht ihm Spaß, und er hört sich dabei ganz anders an, als wenn Mikrofone oder Aufnahmegeräte eingeschaltet sind. Bei den regelmäßigen Besuchen des Bürgermeisters Scholz in der Abendblatt-Redaktion gab es immer wieder Kolleginnen und Kollegen, die nach zum Teil sehr ausführlichen Fragerunden verwundert feststellten, dass „der ganz anders ist, als wir ihn bisher wahrgenommen haben“. Warum Scholz diese Seite nur zeigt, wenn er in einem möglichst geschützten Raum, also in sogenannten Hintergrundgesprächen, ist, bleibt ein anderes Thema (mit dem sich mein Berliner Kollege Jörg Quoos und ich uns übrigens in unserem gemeinsamen Buch „Der Blabla-Wumms“ beschäftigen).
Zurück ins Jahr 2018: Scholz blieb deutlich mehr als eine Stunde, er war ziemlich entspannt, voller Vorfreude auf Berlin und versuchte mir zu erklären, was in den kommenden Jahren passieren werde. Ich hörte höflich zu, wie man das als Journalist macht, wenn ein aktueller Bürgermeister und künftiger Vizekanzler vor einem sitzt, aber ich hatte Mühe, zu folgen. Nicht, weil ich nicht verstand, was Scholz da alles erzählte, sondern, weil ich nicht glauben konnte, dass er das wirklich ernst meinte. Die Scholz-Story, die er damals erzählte (und die seine rechte Hand Wolfgang Schmidt so lange wiederholte, bis sie Wirklichkeit wurde), ging so: Er, Olaf Scholz, wechsele nach Berlin, nicht nur, um Bundesfinanzminister, sondern auch, um am Ende der Legislaturperiode Kanzlerkandidat zu werden.
„Sie werden niemals Kanzlerkandidat der SPD, die Partei mag Sie nicht“, ging ich dazwischen, eine Bemerkung, auf die Scholz gefühlt nur mit einem „doch“ reagierte. Weiter im Plan: Erst kurz vor der Bundestagswahl würden viele Menschen registrieren, dass jetzt, nach 16 Jahren, wirklich Schluss sei mit Angela Merkel, mit der sie eigentlich ganz zufrieden gewesen waren.
Wolfgang Schmidt bezeichnete Olaf Scholz als „Angela Merkel mit Plan“
„Und dann“, sagte Scholz, „werden die Wählerinnen und Wähler nach jemandem Ausschau halten, der so ähnlich ist wie die Merkel, und werden mich finden.“ Wolfgang Schmidt bezeichnete seinen Chef schon damals gern als „Angela Merkel mit Plan“, Scholz selbst sprach von sich als einer Art „männlicher Merkel“. Der Vergleich ist nicht von der Hand zu weisen, die beiden ähneln sich in ihrer nüchternen, analytischen Art, Politik zu machen, und in ihrem Einsatz. Sie schonen sich nicht, sie geben alles für die Aufgabe, sieben Tage die Woche, meist von 7 Uhr bis kurz vor Mitternacht. Aber ob das reichte, die SPD, die damals, 2018, in Umfragen eher in Richtung 15 Prozent als in Richtung 30 Prozent unterwegs war, wieder nach oben zu bringen? Ich hatte meine Zweifel, aber auch die wollte Olaf Scholz nicht gelten lassen. Er sagte: „Die Stimmung wird zugunsten der SPD fünf, sechs Wochen vor der Bundestagswahl umschwenken. Und am Ende werden 25 bis 26 Prozent reichen, um Bundeskanzler zu werden.“
Wegen dieser Prognosen, die aus dem Blick des Jahres 2018 fast wie eine Verschwörungstheorie klangen, kann ich mich so gut an dieses Gespräch erinnern. Und natürlich, weil es bei der Bundestagswahl 2021 exakt so gekommen ist, wie Olaf Scholz sich das vorgestellt hatte. Wahrscheinlich war das der entscheidende Grund für seinen Sieg, mal abgesehen von den Fehlern, die CDU-Kandidat Armin Laschet im Wahlkampf gemacht hat. Scholz hatte einen Plan, der komplett aufging, bis in einem Punkt. Ursprünglich hatte er nämlich nicht damit gerechnet, mit der SPD stärkste Fraktion im Deutschen Bundestag zu werden. Sein Ziel war eigentlich nur, vor den Grünen zu landen, um mit diesen (und gegebenenfalls mit einem weiteren Partner, wie es die FDP geworden ist) die neue Regierung zu bilden.
Man kann sich vorstellen, was für eine Genugtuung es für den vom Berliner Politikbetrieb dauerbelächelten Scholz gewesen sein muss, dass er es tatsächlich ins Bundeskanzleramt geschafft hat. Man kann sich aber auch vorstellen, was das für all die bedeutet, die seitdem versuchen, den Kanzler von einem Plan oder einer Idee abzubringen. Es gibt die schöne Geschichte, dass Berater in den ersten Monaten der Kanzlerschaft auf Olaf Scholz eingeredet haben sollen, doch endlich etwas an seinem Kommunikationsstil zu ändern, der zwischenzeitlich ein schwerer Rückfall in längst überkommen geglaubte Scholzomat-Zeiten erfahren hatte. Der Kanzler soll auf den und andere Vorschläge in diese Richtung nur gegrinst haben, möglicherweise schlumpfig, und gesagt haben: „Wer ist noch mal der neunte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland geworden?“
Journalisten hadern nach wie vor damit, dass er viele Fragen nicht beantwortet
Die Frage, als was für ein Bundeskanzler er in die Geschichte eingehen wird, kann man jetzt, nach gut zwei Jahren, nicht beantworten. Scholz‘ Amtszeit ist wegen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine schwer mit denen seiner Vorgänger zu vergleichen, sein Regierungsstil schon eher: Er ist, anders als geplant, abgewichen von der spärlichen Kommunikation einer Angela Merkel, gibt erstaunlich viele Interviews und nimmt sich Zeit für Journalistinnen und Journalisten, auch wenn die nach wie vor damit hadern, dass er auf viele ihrer Fragen nicht direkt antwortet.
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Scholz könnte das gleiche Problem bekommen wie Gerhard Schröder, sein Ziehvater, mit dem er – auch wegen Russland – keinen Kontakt mehr hat: Schröder setzte als Kanzler die Agenda 2010 durch, die ihn am Ende das Amt kostete und von der seine Nachfolgerin Angela Merkel viele Jahre lang profitieren sollte. Olaf Scholz bringt mit seinem Kabinett derzeit viele Gesetze auf den Weg, deren Auswirkungen, wenn überhaupt, nur leicht bis zur nächsten Wahl zu spüren sein werden. Wenn alles gut geht für Deutschland, und das ist Scholz‘ Hoffnung, wird sich all das, was seine Ampel-Regierung derzeit beschließt und was für viel Unmut und Unruhe in der Bevölkerung sorgt, erst in den 30er-Jahren auszahlen. Und dann, so viel kann man sicher sagen, wird Olaf Scholz in der aktiven Politik keine Rolle mehr spielen.
Wobei, auch das steht fest, er entschlossen ist, bei der nächsten Wahl wieder als Kanzlerkandidat der SPD anzutreten (was diesmal niemand infrage stellt) und noch einmal zu gewinnen. Klingt aus heutiger Sicht seltsam, aber denken Sie an die Geschichte aus dem Jahr 2018 …