Hamburg. Das Spitzentreffen im Juli 2017 sollte Hamburg weltweit bekannt machen. Am Ende kam alles anders – besonders für Olaf Scholz.
Es hätte nicht viel gefehlt, und die politische Karriere des Olaf Scholz, die 2021 mit dem Einzug ins Kanzleramt ihren Höhepunkt fand, wäre im Juli 2017 abrupt beendet gewesen: „Wenn jemand stirbt, kann ich nicht im Amt bleiben. Das war mir vorher klar“, gestand der damalige Bürgermeister im November 2017 vor dem Sonderausschuss der Bürgerschaft zum G20-Gipfel.
Das war mehr als politische Rhetorik: Wohl kein anderes Mal hat der SPD-Politiker so mit sich, seinem Amt und der Wirklichkeit gehadert und gerungen wie in diesen Julitagen. Blickt man auf die Krawalle aus Anlass des G20-Gipfels, muss man konstatieren: Viel hätte nicht gefehlt, und es hätte Tote gegeben. Und einen Rücktritt.
G20 in Hamburg: Gleich zweimal steht die Elbphilharmonie im Blickpunkt
Erst am 13. Juli, als der Pianist Sebastian Knauer und das Hamburger Abendblatt zum Danke-Konzert unter dem Titel „Respekt“ in die Elbphilharmonie laden, fällt der Druck vom Bürgermeister ab. Olaf Scholz, der in den Tagen zuvor auch für seine engsten Berater kaum noch erreichbar war, geht nach dem Konzert plötzlich gelöst, geradezu überschwänglich durch die Reihen der Polizisten, klönt hier, plauscht da. Von da an gehen wieder andere Bilder aus Hamburg um die Welt – Bilder eines Konzerts, organisiert im bürgerlichen Engagement für die Polizisten, die in den Tagen zuvor ihren Kopf hinhalten mussten. Und auch andere Bilder des Bürgermeisters aus der Elbphilharmonie.
Nur sechs Tage zuvor war er am selben Ort Gastgeber für die Staatschefs und Autokraten der G20-Staaten, für Politiker wie Emmanuel Macron, Angela Merkel oder Justin Trudeau, aber eben auch für Donald Trump, Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdoğan. Als im Konzerthaus noch Beethovens 9. Sinfonie ertönte, brannten im Schanzenviertel schon die Barrikaden. Und viele Bürger in der Stadt fragten sich fassungslos: Wo ist Olaf Scholz?
Treffen in Hamburg: Eigentlich sollte der G20-Gipfel für Olympia werben
Es dürfte gerade diese Elbphilharmonie, erst ein halbes Jahr zuvor fertiggestellt, und die zwischenzeitlich längst gescheiterten Olympia-Ambitionen gewesen sein, die dieses Welttreffen ausgerechnet in die „schlafende Schöne“ an die Elbe brachten. Angela Merkel und Olaf Scholz versprachen sich schöne Bilder, die um die Welt gehen sollten, Bilder einer gastfreundlichen, modernen Metropole. Tatsächlich gingen Bilder um die Welt, aber ganz andere als erhofft.
Es sind die Bilder von Schaufenstern, die Straßenzug um Straßenzug in Scherben fallen, Autos, die in Flammen aufgehen, Molotowcocktails (für Freunde sensibler Sprache – benannt nach einem Massenmörder), die Menschen um die Ohren fliegen, bürgerkriegsähnliche Zustände auf den Straßen der Hansestadt. Es sind Bilder von Halbstarken für die asozialen Netzwerke, für die Liveticker der Nachrichtensender, gern gesehene Schockmomente für die bürgerlichen Wohnzimmer.
Die Gewaltexzesse zeigen: Es gibt eine tief sitzende Sehnsucht nach Anarchie
Es sind Bilder, die moderne Medien nicht nur verbreiten, sondern geradezu verlangen. Wo es brennt und kracht, gehen die Einschaltquoten in die Höhe. Vielleicht schlummert in uns eine tief sitzende Sehnsucht nach Anarchie: Eine Umfrage des ARD-Deutschlandtrends förderte dieses Verlangen 2017 zutage: 20 Prozent der Deutschen haben „Verständnis für die Proteste gegen den G20-Gipfel, auch wenn es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt“.
Verständnis? Im Pulverdampf und Feuerschein gingen alle berechtigten Forderungen an die Staatschefs unter, die notwendige Kritik an Umweltzerstörung und Unterdrückung. Die gewaltbereiten Gipfelgegner feiern Pyrrhussieg um Pyrrhussieg: Sie diskreditieren den gewaltfreien Widerstand, sie überlagern die wichtige Agenda, und sie stören sogar das Programm: Merkels Ehemann, der renommierte Wissenschaftler Joachim Sauer, wollte seine Gäste ins Klimarechenzentrum führen und unter anderem Melania Trump auf die Gefahren des Klimawandels hinweisen. Daraus wurde nichts. Das haben die Gegner prima hinbekommen.
Die Haspa brennt nieder, zum ersten Mal in mehr als 100 Jahren wird ein Budni geplündert
Wer erinnert sich noch an die vielen friedlichen Demonstrationen? Im kollektiven Gedächtnis bleiben nur Bilder der Gewalt, keine der Diplomatie: Am 7. Juli zogen Vermummte durch Altona, zündeten an der Elbchaussee und angrenzenden Straßen Pkw an, schlugen Scheiben ein, griffen einen HVV-Linienbus an und zerstörten Polizeiwagen. Am selben Abend brannte es dann im Schanzenviertel: Zuerst hatten 500 Personen Barrikaden errichtet und angezündet, dann bewarfen sie die Einsatzkräfte mit Steinen, Böllern und bewaffneten sich mit Eisenstangen. Viele Läden wurden geplündert – darunter ein Budni, übrigens zum ersten Mal in der über 100-jährigen Geschichte des Unternehmens. Die Haspa am Schulterblatt brannte völlig aus, auch weil die Feuerwehr den Einsatzort nicht erreichte. Es dauerte Stunden, bis die Polizei das Geschehen in der Schanze wieder in den Griff bekam.
Sogar Andreas Beuth, der damalige Sprecher der Roten Flora, war über diese Gewaltorgie im eigenen Vorgarten entsetzt: „Wir als Autonome und ich als Sprecher der Autonomen haben gewisse Sympathien für solche Aktionen, aber bitte doch nicht im eigenen Viertel, wo wir wohnen. Also, warum nicht irgendwie in Pöseldorf oder Blankenese?“ Die Menschen in der Stadt reagierten empört, 25 Bürger erstatteten Strafanzeigen. Schließlich wurde das Verfahren eingestellt, aber erst, als sich die Gemüter schon wieder beruhigt hatten.
10.000 Menschen kommen am Morgen zusammen und räumen auf
In diesen heißen Julitagen blickte die Stadt tief erschüttert auf die Orgie der Gewalt – und griff zu Besen und Kehrblech. Rund 10.000 Menschen folgten dem privaten Aufruf auf Facebook „Hamburg räumt auf.“ Und sahen hautnah, welche Zerstörungswut Teile des Schulterblatts in Schutt und Asche gelegt hatte.
Die Bilder, die in Hamburg Wirklichkeit wurden, wirken wie eine Visualisierung der Gedanken, die der kürzlich verstorbene Intellektuelle Hans-Magnus Enzensberger in seinem großartigen Buch „Aussicht auf den Bürgerkrieg“ formuliert hatte: „Der Bürgerkrieg kommt nicht von außen“, schreibt er. „Begonnen wird er stets von einer Minderheit; wahrscheinlich genügt es, wenn jeder Hundertste ihn will, um ein zivilisiertes Zusammenleben unmöglich zu machen. Noch gibt es in den Industrieländern eine starke Mehrheit, der der Frieden lieber ist.“
Wie sehr diese Mehrheit schwindet, zeigen auch die Reaktionen auf den G20-Gipfel. Zweifellos gab es während der Proteste Fälle von Polizeigewalt – dass einigen der 30.000 Polizisten im Dauereinsatz gegen entfesselte Autonome die Sicherungen durchknallen, musste erwartet werden. Und gehört aufgearbeitet.
Im Nachgang geht es viel um Polizeigewalt und nur sehr wenig um Autonome
Die folgende aufgeregte Debatte in Öffentlichkeit und Medien indes beantwortete der Philosoph, Theologe und SPD-Politiker Richard Schröder auf ganz eigene Weise: „Gab es beim G20-Gipfel Polizeigewalt? Meine Antwort lautet: Das will ich doch aber sehr stark hoffen. Wenn es sie unter den gegebenen Umständen nicht gegeben hätte, wäre das ein ganz massives Staatsversagen. Denn Gewalt, hier verstanden als durch Gesetz legitimierter Zwang gegen den Willen der Betroffenen, ist, wenn anderes nicht hilft, die Aufgabe der Polizei.“
In vielen Medien, sozialen Netzwerken, aber auch Parlamenten entstand eine andere Debatte: Sie zeigt zugleich die asymmetrische Berichterstattung: Medien rückten immer mehr die Polizei in den Fokus, die Extremisten hingegen blieben so konturlos wie ihre Uniform in der Nacht: schwarze Masse, schwarze Klamotten, und kaum einer schaut dahinter. Weil weder die Rote Flora noch spanische Anarchisten parlamentarische Anfragen beantworten, vor Sonderausschüssen erscheinen oder auf Presseanfragen reagieren, bleiben sie unbehelligt. Die staatlichen Stellen hingegen werden mit Anfragen überzogen.
157 Verfahren gegen Polizisten, aber keine Anklage
Man sieht nur noch den Splitter im Auge der Polizei, aber den Balken im Auge der Autonomen nicht mehr. Nach Jahren dieser Geschichtsklitterung dürften die ersten Menschen glauben, Polizisten hätten die Elbchaussee verwüstet, Autos angezündet und einen Linienbus angegriffen und österreichische Spezialeinheiten das Schanzenviertel in Schutt und Asche gelegt.
Tatsächlich zeigt die juristische Aufarbeitung ein anderes Bild: Bei der Staatsanwaltschaft Hamburg wurden insgesamt 157 entsprechende Verfahren erfasst. Es gab keine Anklage, einen Antrag auf Erlass eines Strafbefehls, eine Verfahrenseinstellung gemäß § 153a StPO gegen Zahlung einer Geldauflage. „Mit Stand von Juni waren 149 Verfahren gemäß § 170 Absatz 2 StPO eingestellt, hiervon wurden 76 Verfahren gegen einen oder mehrere namentlich konkretisierte Beschuldigte geführt“, teilte die Generalstaatsanwaltschaft Hamburg mit. Mit Verfügung vom 11.8.2023 wurden in zwei Verfahren die Ermittlungen aber wieder aufgenommen, nachdem die Verfahrenseinstellungen von der Generalstaatsanwaltschaft beanstandet worden sind.
G20-Gipfel in Hamburg: Hunderte von Verfahren gegen Gewalttäter
Die Zahl der Ermittlungsverfahren gegen Straftäter, Hooligans und Pyromanen sind kaum zu zählen: Der Anhang zu einer Anfrage der Linkspartei, der sämtliche Verfahren auflistet, umfasst 109 Seiten klein gedruckt. Besonders schwerer Landfriedensbruch, gefährliche, vorsätzliche oder schwere Körperverletzung, räuberischer Diebstahl, illegaler Waffenbesitz, Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, Hehlerei, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, gefährlicher Eingriff in den Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr, Brandstiftung, Sachbeschädigung; Erwerb, Beförderung, Verkehr oder Umgang von und mit explosionsgefährlichen Stoffen. G20 war ein Ritt durch das Strafgesetzbuch, die Zahl der Verfahren vierstellig.
Was aber blieb vom G20-Gipfel? Ein zerknirschter Bürgermeister, der zu Protokoll gab: „Die Aussage, man könne die Sicherheit garantieren, würde ich heute vorsichtiger formulieren. Dies hat sich nicht bewahrheitet. Das treibt mich um und wird mich noch lange umtreiben.“ Großspurig hatte er vor dem Gipfel erklärt: „Wir richten ja auch jährlich den Hafengeburtstag aus. Es wird Leute geben, die sich am 9. Juli wundern werden, dass der Gipfel schon vorbei ist.“
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Nach dem Gewaltexzess überraschte ein kämpferischer Bürgermeister mit der klaren Ansage an die Rote Flora: „Mein Geduldsfaden ist gerissen. So, wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben.“ Am Ende aber konnte man den Autonomen in der Schanze keine aktive Mittäterschaft nachweisen – offenbar lief auch für sie die Mobilisierung im In- und Ausland aus dem Ruder. Und alles blieb, wie es ist.
Längst ist über den G20-Gipfel in Hamburg die Geschichte hinweggegangen. Große diplomatische Erfolge blieben aus, die Karawane zog weiter und lieferte neue Bilder mit Händeschütteln und Hässlichkeiten. Der Gipfel in Hamburg hat am Ende wohl nur Verlierer hinterlassen – mit Ausnahme der Hamburger Glaserbetriebe.