Ein HamburG20-Tagebuch. Folge 1: Die seltsame Solidarität der Genossen mit Olaf Scholz, autonome Exzesse und ein autofreies Zentrum.
Die Politik könnte wunderschön sein, wenn nur die Parteifreunde nicht wären. Schon 2015 hatte Angela Merkel (CDU) für ihren möglichen Kontrahenten und politischen Gegner Olaf Scholz (SPD) das schlimmste Danaergeschenk seit dem Trojanischen Pferd parat: Der G20-Gipfel sollte in Hamburg stattfinden – die einzige „Unterstützung“ der Kanzlerin für den später geplatzten Traum von Olympischen Sommerspielen in Hamburg. Der Gipfel der Weltlenker, so der Gedanke, könnte die unbekannte Weltstadt auf die internationalen Karten bringen. Und, noch wichtiger, sie selbst als Weltkanzlerin im Wahljahr ins Blitzlichtgewitter.
SPD lässt Scholz im Regen stehen
Inzwischen dämmert nicht nur Scholz, dass der Gipfel etwas anders laufen könnte: Für viele staugeplagte Bürger, lärmgenervte Anwohner und die gesamte politische Linke ist Olaf Scholz über Nacht zum Hauptfeind avanciert – knapp hinter US-Präsident Donald Trump. Das ist so unfair wie absurd, aber das Leben ist eben nicht immer fair und rational. Was für die Politik im Allgemeinen gilt, gilt für die SPD im Besonderen.
Scholz bezieht Prügel für Merkels Einladung nach Hamburg, und seine Parteifreunde lassen ihn im Wasserwerfer-Regen stehen: Wenige Stunden vor dem Gipfel legt die SPD-Spitze ein Papier vor, das „fünf Ziele für eine neue Phase der internationalen Zusammenarbeit“ definiert. Noch vor Beginn der Gipfels kommen die Parteistrategen Sigmar Gabriel und Martin Schulz zur Erkenntnis, dieser G20 müsse der letzte Gipfel seiner Art gewesen sein – demnächst sollten sich Politiker und Demonstranten gefälligst in New York treffen.
Das nennt man im Kurt-Schumacher-Haus wohl Solidarität. Offenbar will man es sich mit den Linken nicht verscherzen. Besser wäre eine Erinnerung an den großen Sozialdemokraten Helmut Schmidt gewesen. Der Langenhorner wusste: „In der Krise beweist sich der Charakter.“
G20: Der Protest ist massenkompatibel
Demonstrieren ist herrlich einfach geworden. Den 68ern sagte man ja nicht ohne Grund nach, ihren Widerstand stets auch als Kampf verstanden zu haben – man musste sich durch Theodor Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und natürlich Karl Marx arbeiten und diese Lektüre dann noch stundenlang diskutieren. Heute ist der Protest massenkompatibel. Für den Widerstand reicht ein Astra in der Hand – oder ein zünftiger Rave: „Lieber tanz ich als G20.“ Lästern ist leichter als loben. Denn das muss auch einmal gesagt werden: Tausende beim Tanz durch die Stadt, Tausende beim Massencornern – dieser Protest bringt Menschen in Bewegung. Er war bunt, laut, beeindruckend, nahezu gewaltfrei. Wollen sie die Welt bewegen? Oder nur sich selbst? Oder beides? Gibt es doch ein richtiges Leben im falschen?
Der Sound dieser Tage sind Martinshorn und Hubschraubergeknatter. Früher hielten wir jede Polizeisirene für den Beginn einer Geschichte, in diesen Gipfeltagen wird sie zum Hintergrundrauschen. Nur der Blitzer am Rödingsmarkt kennt keinen Ausnahmezustand – er schießt eifrig Foto für Foto von den Polizeikolonnen. Ansonsten ähnelt Hamburgs Zentrum einer Geisterstadt. Kein Auto nirgends, die Fahrradmetropole ist plötzlich da. Über allen Gipfeln ist Ruh. Für einen Moment. An der Alster hingegen stauen sich die Fahrzeuge: Es gibt noch Hamburger, die völlig überrascht angesichts der Sperrungen schimpfen. Gut, der Gipfel kam auch überraschend.
"Polizeistaat" in Hamburg?
Was ist das für ein seltsamer Polizeistaat, von dem derzeit überall die Rede ist? Selbst der „Faktenfinder“ von tagesschau.de schreibt, „kurz vor dem G20-Gipfel gibt es in Hamburg quasi nur noch ein Thema: das Vorgehen der Polizei gegen Protestierende“. So? Wir kennen noch ein paar Themen mehr, aber wissen auch nicht genau, wo die „Tagesschau“-Kollegen ihre Fakten suchen. Jedenfalls fuhr um 8.25 Uhr an Gleis zwölf der Sonderzug aus Basel ein, der 700 Protestler nach Hamburg brachte. Sie wurden gefilzt und dann aus dem Bahnhof begleitet. Die Deutsche Presse-Agentur berichtet von Feindseligkeiten in den Zugabteilen gegen Polizei und Presse. Über Medien werde geschimpft, die blau uniformierten Beamten, die aktionslos an den Zwischenhalten stehen, würden pauschal als „Schweine“ verurteilt.
Dann wandern einige mobile Autonome Richtung Altonaer Volkspark zum Übernachtungscamp. Andere schlendern entspannt zum Fischmarkt an die Elbe – zum Startpunkt der Autonomen-Demo. Wie das halt so ist in einem Polizeistaat.
Fuhlsbüttel live im Fernsehen: Um 16.03 Uhr rollen Mitarbeiter des Flughafens den roten Teppich aus – drei Minuten später steigen Donald Trump und die First Lady Melania Trump aus der Air Force One. Olaf Scholz und Hamburgs „Außenminister“ Wolfgang Schmidt begrüßen den Präsidenten mit dem US-Generalkonsul, nach 180 Sekunden ist für die beiden der Spuk schon wieder vorbei. Der Hubschrauber hebt ab Richtung Senatsgästehaus, die ARD schaltet um zur „Tagesschau“.
Kampagne gegen Demonstranten?
Der Kampf gegen den G20-Gipfel ist auch ein Kampf um die Deutungshoheit. Den (über)harten Polizeieinsatz auf Entenwerder nutzen die Gegner geschickt, um Stimmung für sich zu machen. Das Campverbot führt zu überraschenden Solidarisierungen – etwa der Kirche, von Privatleuten oder des FC St. Pauli, die allesamt Schlafplätze zur Verfügung stellen.
Kurz vor der Demo „Welcome to Hell“ warf nun Anmelder Andreas Blechschmidt von der Roten Flora Innenbehörde und Verfassungsschutz „eine massive Kampagne“ gegen Demonstranten vor. „Das Bündnis, für das ich hier stellvertretend spreche, ist seit einer Woche Ziel einer massiven und denunzierenden Stigmatisierung, mit haltlosen und aus der Luft gegriffenen Gewaltszenarien“, sagte er.
Aus der Luft gegriffen? Wenige Stunden später werden die Gewaltszenarien Wirklichkeit. Es sieht aus wie eine groteske Abart von Räuber und Gendarm. Was sich am Fischmarkt um 19.30 Uhr abspielt, ist erschütternd: Auf der einen Seite eine Polizei, die das Interesse hat, diese Demo mit dem martialischen Namen maximal schnell zu stoppen – auf der anderen Seite ein Schwarzer Block, der nicht für Parolen, sondern für Randale angereist ist. Es ist ein erschreckendes Bild, pickelige Teenager zu sehen, die erst fröhlich zur Musik tanzen und sich dann binnen Sekunden in schwarze Krawallbrüder verwandeln. Es dauert nicht lange, da werfen die „stigmatisierten“ Demonstranten Flaschen, Böller, Steine.
Abstoßend auch die Schaulustigen, die einen Hafengeburtstag des Krawalls erwartet haben. Alkoholisiert stehen sie auf den Fußwegen, auf Hafentreppen und Brücken und werden schon unruhig, als sich Polizei und Schwarzer Block 45 Minuten gegenüberstehen, ohne dass etwas passiert. Im Moment der Eskalation beschimpfen sie die Polizei – und ergreifen dann unter wüsten Verwünschungen die Flucht. „Polizeistaat“ und „Scheiß-Staat“. Mindestens so bedrohlich für die Demokratie wie die Zahl der Autonomen ist das Ausmaß dieser saturierten Demokratieverachtung.
Die Polen bejubeln Donald Trump
Scheiß-Staat? Polizeistaat? Das gleichen wir noch einmal kurz mit der Wirklichkeit ab. Kurz vor Recep Tayyip Erdogans Abflug nach Hamburg haben die türkischen Sicherheitskräfte einen Deutschen bei Istanbul festgenommen – weil er an einer Menschenrechtskonferenz teilgenommen hatte. Damit ist die Zahl der in der Türkei inhaftierten Deutschen auf 30 gestiegen.
Und was macht US-Präsident Trump vor seinem ersten Treffen mit dem russischen Präsidenten Putin? Er eskaliert. Mit Drohgebärden gegen Russland und Nordkorea sorgt er für Unruhe. In Polen kündigte Trump Schritte gegen das „destabilisierende Verhalten“ Moskaus an und will dem Nato-Partner „Patriot“-Raketen liefern. Und die Polen, unsere europäischen Partner, jubeln: „Donald Trump. Donald Trump.“