Hamburg. Experten streiten um Google-Suche nach Buch des Amokläufers. Warum der Tatort bewacht wird und die Zeugenbefragung “schwierig“ ist.
Der Tatort des Amoklaufes an der Deelböge in Hamburg-Alsterdorf wird nach wie vor von der Polizei gesichert, über den Zustand der überlebenden Opfer mit Schussverletzungen ist wenig bekannt – und die Debatte um die Frage, ob der Attentäter Philipp F. hätte im Vorwege gestoppt werden können, hält an.
Hätte eine tiefere Google-Suche der Ermittler beim Waffenbesitzer Philipp F. zu seinem kruden Buch über Gott, Jesus und den Satan geführt? Und hätte das als psychologisches Merkmal oder „Einschätzung“ ausgereicht, ihm schnell die Waffe zu entziehen?
Prof. Rafael Behr von der Hochschule in der Akademie in der Polizei hält die „Jagd nach Fehlern in der Polizeiarbeit“ für überzogen. Er sagte dem Abendblatt: „Es ist ein Fehlschluss, zu glauben, dass der Amoklauf durch eine tiefer gehende Polizeiarbeit sicher hätte verhindert werden können. Selbst wenn man bei Internet-Recherchen auf das Buch gestoßen wäre und dem späteren Täter daraufhin die Waffe entzogen hätte, wäre das keine Garantie dafür gewesen, dass er seinen Plan mithilfe illegal im Darknet besorgter Waffen nicht ausführt.“
Amoklauf Hamburg Alsterdorf: Gab es Mitwisser?
In dieser Gemengelage mit vielen Konjunktiven wie „hätte“ und „wäre“ gehen Polizeiarbeit und politische Aufarbeitung weiter. Polizeisprecherin Sandra Levgrün sagt dem Abendblatt, die Ermittler hätten Kontakt zur Familie von Philipp F. Über bisherige Erkenntnisse könne die Polizei noch keine Angaben machen. Levgrün sagte, es werde nach wie vor untersucht, ob der 35-Jährige, der sieben Menschen und anschließend sich selbst tötete, Mitwisser gehabt habe. Befragt werden offenbar auch Mitglieder des Gun Club, einer Schießvereinigung in der Hamburger Innenstadt, die auf ihrer Webseite mit dem Slogan wirbt: „Der Weg zur eigenen Waffe“.
Die Abläufe in der Waffenbehörde, die den späteren Amokläufer nach Hinweisen zu Hause aufsuchte, würden ebenfalls untersucht. Das Umfeld des Täters, der seinen beruflichen Werdegang und seinen familiären Hintergrund auf verschiedenen Plattformen und seiner inzwischen abgeschalteten Homepage im Internet geschildert hatte, wird ebenfalls hinterfragt. Es ist nach Ermittlerangaben nicht ausgeschlossen, dass dort irreführende Angaben standen. Die Befragung der Zeugen Jehovas gestaltet sich nach Polizeiangaben „schwierig“. Die Glaubensgemeinschaft gilt als verschlossen.
Amoklauf: Tatort Deelböge wird weiter gesichert
Polizeisprecherin Levgrün sagte, am Tatort sei weiter die Spurensicherung der Mordkommission im Einsatz. So lange werde das Gebäude noch bewacht. Am Saal der Zeugen Jehovas in dem schmucklosen Bau an der verkehrsreichen Straße in Alsterdorf stehen nach wie vor Beamte.
Unterdessen melden sich weitere Stimmen, die die Polizeiarbeit im Zusammenhang mit der Waffenbesitzkarte von Philipp F. kritisch sehen. Der Internetsoziologe Prof. Stephan Humer von der Fresenius Hochschule Berlin wertete das Vorgehen der Hamburger Behörden im NDR als „krassesten Fall digitalen Versagens“. In dem Buch des späteren Amokläufers, das die Polizei bei ihrer Google-Suche nach einem anonymen Hinweis nicht gefunden habe, seien ausreichend Hinweise auf die gewalttätige Gesinnung des Mannes. Seit Dezember sei das Werk beim Internetbuchhändler Amazon gelistet gewesen. Dort ist es inzwischen nicht mehr aufzufinden. Humer sagte, „aller Wahrscheinlichkeit nach“ hätte die Tat mit einfacher digitaler Suche verhindert werden können. Dem widersprach der Hamburger Polizeiexperte Behr.
Kriminalbeamte: Software "Palantir" hätte bei Ermittlungen geholfen
Jan Reinecke vom Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) bringt im Zusammenhang mit dem Amoklauf die Analysesoftware „Palantir“ ins Gespräch, deren Einsatz durch die Polizei nach den bisherigen Regeln vom Bundesverfassungsgericht als grundgesetzwidrig eingestuft wurde. „Diese Software macht genau das, was jetzt alle fordern. Es ermöglicht der Polizei im Rahmen der Gefahrenabwehr, sowohl polizeiliche wie auch öffentlich frei zugängliche Daten schnell auszuwerten und schnell zusammenzuführen. Ein Mensch ist einfach nicht in der Lage, mit Einzelabfragen und eigener, händischer Recherche das zu leisten.“
Die Verfassungsrichter hatten die Software nicht generell verboten, sondern engere Grenzen gefordert, damit nicht unschuldige Personen mit harmlosen Querverbindungen zu mutmaßlichen Tätern ebenfalls ins Visier von Fahndern gelangen.
Die Trauerfeier für die Opfer soll am Sonntag in der Hauptkirche St. Petri (17 Uhr) stattfinden. In der Einladung heißt es: „Wir wollen gemeinsam beten und unsere Anliegen vor Gott bringen.“ Die Zeugen Jehovas wollen auf einer eigenen Veranstaltung der Opfer gedenken.