Hamburg. Nanée kommt mit unzähligen Muttermalen zur Welt, das größte bedeckt fast ihren gesamten Oberkörper. Wie sie damit lebt.
An einem Sommermorgen steht eine junge Frau an der U-Bahn-Station Ritterstraße, und ihr Herz pocht bis zum Hals. Heute hat sie sich etwas getraut, das für sie lange Zeit undenkbar gewesen wäre: Sie hat ein ganz normales T-Shirt angezogen, sodass ihre Haut an Armen und Hals für alle sichtbar ist.
Schon oft hat sie daran gedacht, es einfach zu tun. Aber heute fühlt sich der Gedanke zum ersten Mal richtig an. Zum ersten Mal ist der Wille größer als die Angst. Und da steht sie nun mit ihrem T-Shirt. Kein Schutz mehr vor den Blicken. Jeder kann nun sehen, dass sie anders ist. Dass ihre Haut bis zum Hals von einem Muttermal bedeckt ist, das sich über ihren gesamten Oberkörper erstreckt. Gleich starren alle, denkt die damals 30-Jährige.
Seltene Krankheit: „Mutausbruch“ in ein neues Leben
Und dann passiert etwas, womit sie nicht gerechnet hat: einfach gar nichts. Keiner sagt was, keiner guckt blöd. Dieser Moment, den sie heute als ihren „Mutausbruch“ bezeichnet, ist der erste Schritt in ein neues Leben.
Die Frau von der U-Bahn-Station heißt Nanée. Und als sie geboren wird, machen die Ärzte den Eltern wenig Hoffnungen. Sie sollten sich nicht zu sehr an das Kind gewöhnen, sagen sie. Es würde wahrscheinlich nie älter werden als zwei.
Nanées Körper ist über und über mit Muttermalen bedeckt. Wegen dieser extremen Häufung und der Größe der Muttermale gehen die Ärzte davon aus, dass das Risiko, an Hautkrebs zu erkranken, um das bis zu 30-Fache erhöht ist. Eine gesicherte Diagnose aber gibt es nicht.
Eine Fernsehsendung öffnet ihr die Augen
Wenn Nanée heute von ihrer Kindheit erzählt, dann spürt man, dass der Weg zu der vor Stärke und Selbstbewusstsein strotzenden Frau, die sie heute ist, lang war. Mehr als 60-mal wurde sie operiert, in der Schule war sie eine Außenseiterin, und alles drehte sich darum, sie vor den Blicken der Menschen und vor dem Einfluss von Sonnenlicht zu schützen. „Wenn ich an die Zeit denke, als ich klein war, dann denke ich an blickdichte Strumpfhosen und Rollkragenpullover, die ich auch bei schönstem Wetter tragen musste. Die Blicke und das Getuschel waren zum Teil schwer zu ertragen“, sagt sie.
Ausbrechen? Mutig sein? Gleichgesinnte suchen? Das war damals nicht möglich. „Ich habe mich mit meinem Aussehen und meinen Ängsten allein gefühlt, auch weil die Ärzte sagten, dass es nur sieben weitere Menschen auf der Welt gebe, die so viele und so große Muttermale hätten.“ Mit diesem vermeintlichen Wissen wächst Nanée auf.
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Eine Fernsehsendung, auf die sie 2019 durch Zufall stößt, öffnet ihr die Augen. In der Sendung geht es um eine Frau aus Bremen, die ebenfalls etliche große und kleine Muttermale hat. Nanée erfährt, dass das, was sie hat, einen Namen hat: eine seltene Genveränderung mit Namen kongenitale melanozytäre Nävi, kurz CMN. Und sie denkt sofort: „Das mit den sieben Menschen kann nicht stimmen. Es wäre einfach ein zu großer Zufall, dass eine andere Betroffene quasi um die Ecke wohnt.“
Durch eine Fernsehsendung erfährt sie, welche Erkrankung sie hat
Sie beginnt zu recherchieren und wird fündig. Sie erfährt, dass die Einschätzung des deutlich erhöhten Hautkrebsrisikos längst widerlegt ist. Die Lebenserwartung ist demnach nicht verkürzt. Auch erfährt sie, dass es Tausende andere Betroffene gibt. Konkret heißt das: Eines von 20.000 Babys wird im Schnitt mit CMN geboren, das sind allein in Deutschland mehr als 4000 Menschen. Die Ausprägungen sind allerdings meistens nicht so stark wie bei Nanée.
CMN zählt damit zu den sogenannten Seltenen Erkrankungen. Davon spricht man, wenn weniger als 5 von 10.000 Menschen davon betroffen sind. Da es jedoch mehr als 8000 Seltene Erkrankungen gibt, leben allein in Deutschland schätzungsweise vier Millionen Betroffene. Am heutigen Tag der Seltenen Erkrankungen, der seit 2008 weltweit ausgetragen wird, wollen Betroffene und Unterstützer für mehr Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit sorgen.
Häufig geht mit dem Verdacht auf eine Seltene Erkrankung viel Unsicherheit einher. Informationen sind oft schwer zu bekommen.
Seltene Erkrankungen: Bis zur Diagnose vergehen meist Jahre
Laura Inhestern, Professorin für Versorgungsforschung bei Seltenen Erkrankungen im Kindesalter (Kindess for Kids-W1-Stiftungsprofessur) im Zentrum für Psychosoziale Medizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), sagt: „Da die Krankheitsbilder und -verläufe häufig sehr komplex sind, vergehen bis zur Diagnose meist Jahre, in denen Patienten und Patientinnen unterschiedliche Fachärzte aufgesucht haben. In dieser Zeit schreiten die Erkrankungen weiter voran, Symptome verschlimmern sich.“
Weiter betont sie: „Tatsächlich ist es so, dass Erkrankungen, von denen viele Menschen betroffen sind, in der Regel auch besser erforscht sind.“ In der Praxis zeige sich oft, dass die Betroffenen selbst über die Jahre ein umfangreiches Wissen über ihre Erkrankung angehäuft haben. Daher könne es wichtig sein, dass die Betroffenen sich vernetzen, Selbsthilfegruppen oder Gesprächskreise besuchen.
Nachdem Nanée erfahren hat, dass sie CMN hat, macht sie sich auf die Suche nach Gleichgesinnten. Kurz nach der Fernsehsendung fliegt sie nach London, um an einer CMN-Konferenz teilzunehmen. „Es war für mich eine unglaubliche Erfahrung zu sehen, dass ich nicht alleine bin.“ Mit dem neuen Selbstbewusstsein im Gepäck beschließt Nanée, auch anderen Menschen zu helfen. Die Musik hatte sie als Ventil schon lange zuvor für sich entdeckt. Aber jetzt soll es auch auf die Bühne gehen, damit sie anderen Menschen mit Besonderheiten Mut machen kann.
Tiefer Ausschnitt statt Rollkragen,Bühne statt Verstecken
Seit einigen Jahren tritt Nanée – heute 46 Jahre als – nun schon vor Publikum auf. Ihr ganz großes Thema dabei ist „Bodypositivity“, ein positives Körpergefühl. „Ich möchte anderen Menschen Mut machen, sich anzunehmen, wie sie sind, und dieses Gefühl auch nach außen zu tragen.“ Außer mit ihrem Podcast „HAUT Couture“ engagiert sie sich neben ihrem Teilzeitjob als Marketing Managerin auch für Förderung von Kindern mit CMN.
In speziellen Schulungen über das Nävus Netzwerk und über die Allianz für chronisch seltene Erkrankungen (Achse e. V.) arbeitet sie mit Kindern und versucht, ihnen das Selbstbewusstsein mitzugeben, das sie brauchen werden. „Worte wie Defekt, Störung oder Makel werden in meinen Kursen gestrichen“, so Nanée. „Ich spreche inzwischen lieber von einer Besonderheit. Das klingt viel schöner.“
Tiefer Ausschnitt statt Rollkragen, Bühne statt Verstecken, Sichtbarkeit schaffen, wo es geht. Mit ihren 1,85 Metern, die sie zusätzlich gerne noch mit hohen Schuhen betont, und ihrem selbstsicheren Auftreten wirkt sie so, als ob ihr niemand mehr etwas anhaben könne. Und wenn doch mal jemand komisch guckt? „Dann kläre ich gerne auf, denn Wissen ist der erste Schritt, um Vorbehalte abzubauen.“