Hamburg. Untersuchung zeigt: Konsumverhalten der Menschen und untätige Firmen bremsen Kampf gegen Erwärmung.

Ist das Glas halb leer – oder immerhin (noch) zur Hälfte gefüllt? So ähnlich wie bei dieser Frage dürften Pessimisten und Optimisten auch zu unterschiedlichen Bewertungen kommen angesichts dessen, was Forschende des Hamburger Klima-Exzellenzclusters CLICCS am Mittwoch präsentierten. Ihnen zufolge ist eine Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Niveau „derzeit nicht plausibel“.

Technisch und mit großen Anstrengungen wäre es zwar möglich, dieses Ziel zu erreichen. Bis 2050 müsste eine „tiefe Dekarbonisierung der Gesellschaft“ gelingen, sagte CLICCS-Sprecherin und Soziologin Anita Engels. Das heißt, die Menschheit müsste den Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) komplett vermeiden oder einen emittierten Rest der Atmosphäre entziehen. Gegen dieses sehr günstige Szenario sprechen den Forschern zufolge insbesondere das aktuelle Konsumverhalten der Menschen und der Umstand, dass zu viele Unternehmen weltweit zu wenig oder nichts tun, um ihren CO2-Ausstoß zu begrenzen.

„Wir sind nicht einmal in Ansätzen auf dem richtigen Pfad“

„Wir sind nicht einmal in Ansätzen auf dem richtigen Pfad“, sagte Engels. Immer wieder neue Güter zu kaufen, trage dazu bei, dass viel CO2 emittiert werde. Stellenweise sei ein Abzug von Investitionen aus der fossilen Wirtschaft zu beobachten; in den meisten Firmen gebe es Nachhaltigkeitsabteilungen. Diese seien aber „in großen Konzernen sehr schwach“, so Engels.

„Im Moment läuft die große Wette auf den Finanzmärkten gegen die tiefe Dekarbonisierung.“ Andere Schlüsselfaktoren wie die UN-Klimapolitik, Gesetzgebung und Klimaproteste wirkten zwar begünstigend im Kampf gegen die globale Erwärmung, reichten aber nicht aus. „Entscheidend ist der soziale Wandel“, lautet das Fazit des „Hamburg Climate Futures Outlook 2023“, den 63 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erstellt haben.

Dass eine Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 Grad oder zwei Grad unter bestimmten Bedingungen möglich wäre, war schon dem 2021 veröffentlichten sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats (IPCC) zu entnehmen – allerdings werden darin keine Analysen angestellt, wie plausibel das 1,5-Grad-Ziel ist. „Wir wollen verhindern, dass sich die Gesellschaft in die Tasche lügt“, sagte Engels.

Gleichgültigkeit und Fatalismus machten die Sache nur schlimmer

Und nun? Kopf in den Sand stecken? Auto stehen lassen und weniger Konsum bringt eh nichts fürs Klima? Gleichgültigkeit und Fatalismus machten die Sache nur schlimmer, sagte Jochem Marotzke, Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg. Mit jeder weiteren Zunahme der globalen Erwärmung über 1,5 Grad hinaus erhöhe sich das Risiko für Klimafolgen wie Hitzewellen und Überschwemmungen. „Jedes halbe Grad ist deutlich wahrnehmbar“, sagte Marotzke. „Egal welches Maß an globaler Erwärmung bereits geschehen ist – man mindert immer das weitere Risiko, indem man weitere Erwärmung verhindert.“

Auch Deutschland habe sich zum Pariser Klimaabkommen bekannt, wonach 169 Staaten den weltweiten Anstieg der Durchschnittstemperatur „möglichst“ auf 1,5 Grad begrenzen wollen. Wer anführe, als Einzelner doch nichts bewirken zu können beim Klimaschutz, stehle sich aus der Verantwortung, sagte Marotzke. Deutschland sei ein „wichtiger Testfall“, erklärte Anita Engels. Wenn ein nachhaltiges Wirtschaften gelinge ohne Wohlstandsverluste, sei dies „ein ganz wichtiges Signal für andere Länder“.

Forschende: Anpassung an Folgen des Klimawandels wird immer wichtiger

Die Hamburger Forschenden haben auch physikalische Prozesse analysiert, die als „Kipppunkte“ diskutiert werden. Es geht um die Frage, ob sich zentrale Teile des Klimasystems, die schon in einem kritischen Zustand sind, stark verändern in Folge einer weiteren Erwärmung – und was das für die Klimaziele hieße. Ein Beispiel ist das schrumpfende arktische Meereis. Hier gebe es keinen Kipppunkt, sagte Marotzke. „Auch wenn es weg wäre – es würde wiederkommen, falls die Temperatur wieder herunterginge.“

Anderes könnte es mit dem antarktische Eisschild laufen. Dieser schmilzt auch und fließt ins Meer, was zur Erhöhung des Meeresspiegels beiträgt. Hier deutete einiges darauf hin, dass zumindest ein Teil des Abschmelzens nicht mehr rückgängig zu machen sei, so Marotzke.

Der Effekt dieser Prozesse auf die globale Erwärmung sei jedoch „klein oder verschwindend gering“. Eher von Bedeutung seien das Tauen des Permafrosts und die Rodung des Regenwaldes im Amazonas. „Die gefürchteten Kipppunkte könnten die Rahmenbedingungen für das Leben auf der Erde drastisch verändern – für das Erreichen der Pariser Klimaziele sind sie aber zunächst ohne Belang.“

„Verfehlen wir die Klimaziele, wird es umso wichtiger, sich an die Folgen anzupassen“, sagte Anita Engels. „Um für eine wärmere Welt gerüstet zu sein, müssen wir Änderungen vorwegnehmen, Betroffene einbeziehen und lokales Wissen nutzen.“