Hamburg. Apothekerkammer warnt: Extreme Mangellage bei wichtigen Arzneien wie Antibiotika, Insulin und Herz-Kreislauf-Mitteln. Die Gründe.

Wer aktuell auf bestimmte Medikamente angewiesen ist, braucht sehr starke Nerven. Denn ganz oft bekommen die Kunden in Hamburgs Apotheken zu hören, dass ein Präparat nicht lieferbar ist – bei vielen Medikamenten herrscht derzeit einen absolute Mangellage. „Wir haben einen Versorgungsengpass. Im Moment gibt es Probleme über Probleme. So etwas habe ich noch nie erlebt,“, sagt Kai-Peter Siemsen, Präsident der Hamburger Apothekerkammer, der seit 30 Jahren eine Apotheke betreibt.

Die Mangelliste ist lang, besonders gravierend sind laut Siemsen derzeit die Versorgungsschwierigkeiten bei Fiebersäften für Kindern, bei Antibiotika für Kinder und Erwachsene (etwa Amoxicillin), bei Herz-Kreislauf-Mitteln (wie dem Blutdrucksenker Bisoprolol) bei Insulin für Menschen, die Insulinpumpen benutzen, bei Zytostatika (Medikamente zur Behandlung von Krebs) und bei Psychopharmaka. Tamoxifen zur Behandlung von Brustkrebs sei zwar immer noch ein Mangelmedikament, aber die Situation habe sich ein wenig gebessert, ebenso beim Schildrüsenhormon L-Thyroxin, sagt der Chef der Neuen Eilbeker Apotheke.

Warum es in Apotheken an Fiebersäften mangelt

Versorgungsengpässe gibt es Siemsen zufolge schon länger. „Die Wirkstoffe werden fast ausschließlich nur noch in China, Indien und in Indonesien produziert.“ In der Pandemie habe sich diese Konzentration sehr negativ ausgewirkt. „In der Provinz Wuhan in China sitzen die meisten Produzenten von Arzneistoffen.“ Durch den Lockdown dort seien teilweise ganze Produktionen ausgefallen, außerdem seien die Lieferketten gestört. „Und wenn die Wirkstoffe nicht da sind, kann natürlich auch kein Hersteller irgendwo anders auf der Welt ein Arzneimittel draus machen.“ Jetzt komme noch dazu, dass durch die Energiekrise teilweise Medikamente nicht abgefüllt werden könnten, weil den Herstellern Glasflaschen fehlten oder keine Blisterfolie zu bekommen sei.

Auch wirtschaftliche Entscheidungen haben laut Siemsen erhebliche Anteile am Medikamentenmangel: „Bei den Fiebersäften hatten wir zwei große Hersteller die in Deutschland produziert haben. Einer hat vor ein paar Wochen gesagt, das lohnt sich alles nicht mehr, wir geben das komplett auf. Der andere kommt als einziger Hersteller nicht hinterher.“

Fiebersäfte: Hersteller macht Minus – und gibt Produktion auf

Mit dem Fiebersaft mache dieser Hersteller zudem noch ein Minus. Das sei ein von den Krankenkassen verursachtes Problem: „Das sind Preise, die die Krankenkassen nach politischem Willen festlegen. Die sind so niedrig, dass man dafür nicht mehr produzieren kann“, sagt der Präsident der Apothekerkammer.

In anderen Ländern gibt es seinen Angaben zufolge keine Knappheit bei vielen Medikamenten, auch nicht bei Fiebersäften für Kinder: „Sie kriegen überall ihre Paracetamol-Säfte, nur in Deutschland nicht, weil sich das einfach wirtschaftlich nicht mehr lohnt. Die werden natürlich erst in Länder verkauft, wo man mehr dran verdient. Wir sind das Billig-billig-System und deswegen fallen wir hinten runter.“ Ähnlich sei das beim Brustkrebsmittel Tamoxifen. „In Spanien ist das gar kein Thema, dass Sie das kriegen und hier kratzen wir rum, dass wir die Patienten entsprechend versorgen können“.

Gesundheitswesen an die Wand gefahren

Mit dem „Geiz-ist-geil-Mentalität sei das Gesundheitswesen an die Wand gefahren worden, wettert Siemsen. „Wir haben wirklich eine Mangellage, einen Versorgungsengpass, weil bestimmte Arzneimittel nicht lieferbar sind.“ Bei einem Lieferengpass könnten Apotheken ja auf andere Hersteller ausweichen, aber das sei auch nicht mehr möglich. „Wir können überhaupt nichts mehr liefern für einige Patienten. Unser System ist totgespart.“

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte Anfang der Woche gefordert, dass Krankenkassen höhere Anteile bei bestimmten Medikamenten, für die derzeit Festbeträge festgelegt sind, wie etwa bei Fiebersäften für Kinder, übernehmen sollten. „Natürlich ist das erst mal gut“, sagt Siemsen, „aber das erhöht im Moment die Kapazität nicht. Es ist ja einfach im Moment nichts mehr auf dem Markt. Das, was nicht produziert ist, kann ich auch nicht abgeben.“

Hamburger Apotheken mischen selbst Fiebersäfte an

Auch Lauterbachs Idee, die Produktion von Generika (Nachahmerprodukte, für die der Patentschutz ausgelaufen ist), wieder nach Europa zu holen, helfe nicht kurzfristig. „Wenn Sie eine Fabrik aufbauen wollen, die pharmazeutische Arzneimittel produziert, das dauert zehn bis 15 Jahre wegen der ganzen Genehmigungs und Testverfahren.“

Einzelne Apotheken mischen auch selbst Fiebersäfte an, „aber die kosten dann etwa 18 Euro pro Fläschchen“. Das sei wie der Unterschied von einer Konditortorte zu einer TK-Torte aus dem Supermarkt. Die Anfertigung sei teuer und auch dafür müsse man erst mal die Wirkstoffe haben. „Wir haben im Moment keine Substanzen mehr“, sagt Siemsen.

Lauterbachs Vorschläge seien populistisch. „Ich beneide Kolleginnen und Kollegen, ob Ärzte und Apotheker, die Weihnachten Notdienst haben, nicht. Schon jetzt ist ein Notdienst eine Katastrophe. Die Apotheken gehen im Moment auf dem Zahnfleisch.“ Aber natürlich seien er und seinen Kollegen mit den Verbänden der Kinder und Jugendärzte im Kontakt „und wir versuchen uns gegenseitig zu unterstützen und uns abzusprechen. Wir versuchen wirklich jedem Patienten zu helfen.“