Hamburg. Der 28-Jährige musste seine Heimatstadt in Nord-Syrien verlassen und kam nach Deutschland. Jetzt will er etwas zurückgeben.

Der Tag, der sein Leben ändert, endet, als er wieder Sand unter seinen Füßen spürt. Dieser Tag ist ein heißer Sommertag im Jahr 2015. Hamoudi hat sich damals in dieses Leben danach gerettet. Übers Meer, von Syrien aus floh er bis zur Elbe, bis zum Tor zur Welt, wie es die Deutschen nennen. Er kam zu uns nach Hamburg.

Ich lerne ihn im Frühling 2021 kennen. Ich frage ihn, wo er sich in Deutschland am wohlsten fühlt, wo sein Lieblingsort ist. Er läuft von seiner Wohnung in Altona ganz nah an das Ufer der Elbe. Denn wenn er dort steht, mitten im Hafen, ist manchmal vieles wieder gut in seinem Leben.

Geflüchtete in Hamburg: Elbe kommt Hamoudi bekannt vor

Dann rauscht und schwappt und zieht die Elbe an seinem Blick vorbei. Und irgendwann, je länger er dort steht, verschwimmt das graublaue Band vor seinen Augen. Es löst sich auf. Mit ihm auch die Lampen der Kähne und Barkassen und Kräne, sie schmelzen zusammen zu Lichterketten.

Es wird dann sonderbar still um ihn. Sogar das Tuten der Schiffshörner und das Wummern der Motoren in den Dampfern, das Möwenkreischen und der Wind, der um seine Ohren saust – er nimmt das alles kaum noch wahr.Das ist der Moment, wenn Hamoudi zu träumen beginnt. Wenn er seinen Blick schweifen lässt. Und seinen Blick nur auf den Fluss da vor ihm richtet. Denn dann kommt er ihm so sonderbar vertraut vor. Nicht seinen Augen, aber seiner Seele.

Hamoudi am Euphrat geboren

Sein Kopf weiß es natürlich besser, aber sein Gemüt beginnt dann schon mal, diesen Fluss vor lauter Heimweh, Sehnsucht und ganz absichtlich zu verwechseln. Mit seinem Fluss. So wird aus der Elbe vor Hamoudis Augen der Euphrat. Jener Fluss, an dem er geboren wurde. Der in der Türkei entspringt, sich dann durch Syrien wälzt, bis er sich an seinem Ende mit dem Tigris vereint und in den Persischen Golf mündet.

Hamoudi sagt das nicht, weil er bescheiden ist. Dass der Euphrat nicht irgendein Strom ist, sondern jener, an dem nach Auffassung mehrerer Religionen die Wiege der Menschheit stand. Hier soll er einst gewesen sein: der Garten Eden, das Paradies. So steht es in der Bibel.

Hamoudi kommt aus Ar-Raqqa

Wenn man bloß noch einmal daran glauben könnte, so wie man das als Kind vielleicht mal tat. Als man die Gestalten und Bäume aus diesem Traumland in den Bilderbüchern sah und sich zu ihnen hinsehnen konnte. Weil unsere Kindheit ja selber ein Paradies war, aus dem uns so leicht keiner vertreiben konnte. Wir fantasierten uns in diesen grünen Garten, in dem die Löwen bei den Lämmern lagen, so lernten wir das dann später im Religionsunterricht. Und malten Löwen neben Lämmern in unsere Schulhefte.

Wir staunten und starrten und träumten uns in Hamoudis Heimat. Und haben damit natürlich schon lange aufgehört.Hamoudi nicht. Hamoudi ist heute 28. Er kommt aus Ar-Raqqa in Nordsyrien. Wir haben wegen des Krieges und Elends, das dort tobt und tötet, vergessen, dass genau in dieser Gegend das Gelobte Land gelegen haben soll. Von dieser Verheißung sprechen nicht nur die Christen, sondern auch die Juden, und selbst im Islam ist die Rede von ihm.

Hamoudis Heimatstadt gleicht einer Kraterlandschaft

Dass aber Hamoudi aus dem Paradies geflohen ist, klingt viel zu süßlich. Und in den Augen jener, die nicht glauben, wie Hohn. Nicht nur, weil wir nicht mehr oder wenigstens kaum mehr ans Paradies glauben können. Sondern auch, weil sich dieser Teil der Welt in eine der schlimmsten Höllen auf unserer Erde gewandelt hat.

Und das nun ausgerechnet dort, wo der liebe Gott einst die Welt so geschaffen haben soll, wie er sie einmal meinte. Nämlich als einen Ort, an dem nur Frieden ist, unter den Menschen und unter den Tieren. An einem Ort, an dem der Schöpfer den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gepflanzt haben soll. Die Bilder aus Hamoudis Heimatstadt Ar-Raqqa erinnern an das zermalmte Berlin aus dem Jahr 1945. Eine einzige Kraterlandschaft. Die schwarz gewandeten Krieger des IS eroberten den Ort und wollten dort ihre Hauptstadt errichten. Sie terrorisierten die Bewohner und schnitten ihren Geiseln vor laufender Kamera die Köpfe ab. Sie sperrten sie in Käfige und senkten diese dann in Swimmingpools, oder sie zündeten die Menschen in den Käfigen an.

Hamoudi knapp dem Zwangsdienst entronnen

Ein Auszug aus dem Buch von Tim Pröse: „Der Tag, der mein Leben veränderte“. Erschienen bei Heine, 20 Euro.
Ein Auszug aus dem Buch von Tim Pröse: „Der Tag, der mein Leben veränderte“. Erschienen bei Heine, 20 Euro. © Heyne

Der IS hat nicht nur Hamoudis Heimat und sein Leben verwüstet, er hat diesen Abgrund auch in die vermeintlich heilen Welten des Westens getragen, in unsere Wohnzimmer. Die Videos der Hinrichtungen streamten um die Welt und vergifteten unseren Blick auf diesen Teil der Erde. Hamoudi ist vom Krieg in seiner Heimat vertrieben worden. Knapp ist er dem Zwangsdienst an der Waffe entronnen. Und natürlich, leider, ist der Krieg dennoch ein wenig in ihm geblieben. Aber er hat auch einen Frieden gefunden, hier in Hamburg.

Wie viele Menschen zog es schon in diese Stadt – mit ihrem Heimweh oder ihrem Fernweh oder beidem. Da vorne, wo Hamoudi am liebsten stehen bleibt, sind die „Landungsbrücken“. Und links daneben, ein bisschen weiter, die „Überseebrücke“. Der Stelle weiter dahinter gaben die Hamburger den Namen „Kehrwiederspitze“.

Die Bomben trafen auch die kleinen Gärten

Was müssen diese Namen einem Menschen wie Hamoudi bedeuten? Es dauert lange, bis er bereit ist, von seiner Flucht zu sprechen. Denn mit ihm kamen ja eine Million Männer und Frauen und Kinder, damals 2015, als Angela Merkel die Menschen zu uns ließ. Da mag sich Hamoudi nicht herausstreichen. Und so berichtet er lieber in ganz nüchternen Worten von seinen Stationen. Fast klingt es wie eine Wegbeschreibung, wie er damals aus seinem Heimatland über die Türkei, das Mittelmeer, Griechenland und Ungarn nach Deutschland gelangte.

„Wir, meine Familie und meine Freunde, waren immer für den Frieden, und ich setzte mich für ihn ein in Syrien“, sagt Hamoudi nun, „wir hatten nicht damit gerechnet, dass man uns umbringen will, weil wir für den Frieden gestritten und geschrien haben.“ Als die Bomben dann irgendwann nicht nur auf seine Universität fielen, an der er Landwirtschaft studierte, sondern auch in den Garten seines Vaterhauses, als sie den Cousin seiner Mutter umbrachten, als sie seinen Bruder auf einer Demo verschleppten und er mit blauen Flecken übersät zu- rückkam, war es für Hamoudi an der Zeit. Er beschloss zu fliehen.

Kaum Zeit für einen Abschied

Es blieb kaum Zeit für einen Abschied. Weil er ihre Tränen nicht sehen konnte, umarmte er seine Mutter nur ganz flüchtig, als würde er gleich wiederkommen. Das tut ihm bis heute leid, so sehr, dass er kaum darüber sprechen kann. Ich bitte ihn aber, mir noch mehr von seinen Gefühlen von damals zu erzählen. „Wie meinst du das?“ fragt er mich. Und ich antworte: „Erzähl mir ein bisschen so davon, wie Bosse davon singt!“ Und dann lächelt er, weil er die Musik von Bosse so mag und zu all seinen Konzerten geht in Hamburg. Hamoudi liebt die deutsche Sprache nämlich auch deswegen, weil er Bosse liebt. Und Bosses Art, diese Sprache in Melodien zu kleiden. Und sich für Menschen wie ihn einzusetzen.

Hamoudi wählt kleine und schlichte Worte für das, was passiert ist. Vielleicht weil das Leid hinter ihnen schon groß genug ist. Vielleicht, weil Hamoudi viel zu früh in seinem Leben Demut nicht nur gelernt hat, sondern sie bis heute mit jedem seiner Sätze ein- und ausatmet.

Er liebt den Musiker Bosse, besonders seinen Song „Das Paradies“:

Es gab dort genug für alle

Und alle waren sich genug

Keine Depressionen und kein Selbstbetrug Niemand musste dort im Mittelmeer ersaufen Niemand schlief im Winter auf Asphalt

Ich sah nicht einen Patriarchen, der Scheiß war vorbei Kein Bodyshaming, noch Hetze und Gewalt

Keine Schubladen, alle Chancen waren gleich

Die Leute dort waren glücklich und nice

Am Eingangstor stand Peace

Komm rein und genieß

Die Luft dort war klar

Der Himmel türkis

Das war das Paradies, Paradies, Paradies In meinem Traum

Ich war im Paradies, Paradies, Paradies Bitte weck mich nicht auf

Hamoudis tastet sich mit seinen Worten vor

Hamoudis Worte klingen stets so, als hätte er sie vor dem Aussprechen in seinem Kopf gewogen. Hin und her gewo-gen, bis er sie dann loslässt. Mit Bedacht. In einem guten Deutsch. Und mit Samt in der Stimme. Mit ihr schmeichelt er unseren Vokabeln, die in seinen Ohren so knirschen. Er klingt, als hätte er gerade Honig gegessen.

Er spricht unser Deutsch viel langsamer aus, als wir es tun. Er will mit dem, was er sagt, nicht gleich ankommen, nicht immer sofort ins Schwarze treffen oder recht haben. Nicht, weil er etwa um die Dinge herumredet, nein, weil er etwas Behutsames an sich hat, auch in seiner Sprache. Er tastet sich mit seinen Worten vor.

„Hamburg war mir fremd"

Und was er mit seinen Worten beschreibt, verändert sich. Sogar für unsere Ohren. Er sagt etwa über das Volksfest: „Der Hamburger Dom ist keine Kirche.“ Und wundert sich, dass der Hamburger Berg kein Berg ist. Er sagt: „Das Lieblingsessen der Hamburger ist rosa“, und meint damit Labskaus.

Er sagt: „Hamburg war mir fremd. Sein Geruch, sein Aussehen, diese harten Stimmen. Die Stadt war gehetzt und müde. So dachte ich am Anfang. Aber das ist jetzt schon sechs Jahre her. Der Wind hat sich gedreht. Durch Hamburg hab ich gelernt, was ,einfach machen‘ heißt. Heute weiß ich: Diese Stadt hat es mir leicht gemacht, sie kennenzulernen. Sie war gut zu mir. Ich bin froh, dass ich hier sein darf. Ich bin verliebt in die Stadt.“

Hamoudi kam im Hauptbahnhof an

Wie gerne würde er sich auch in eine Hamburgerin verlieben und mit ihr zusammen sein. Das hat bis jetzt nicht so ganz geklappt, denn wer sich binden will, muss bei sich angekommen sein. Aber er wünscht es sich von Herzen.Hamoudi kam im Hauptbahnhof an. In dieser Kathedrale aus Stahl und Glas. Mit all ihren Geräuschen, dem Kreischen der Zugbremsen, dem Wirren der Stimmen. Und auch mit all ihren Gerüchen. Von Schmieröl, Backfisch, Erhabenheit, Elend und großer Freiheit.

Da stand er nun in der Herzkammer von Hamburg, die Menschen in Strömen und ohne Pausen in sich hineinpumpt und herauspumpt. In und aus dieser „Freien und Hansestadt Hamburg“. Damals, als die Menschen noch an den Gleisen standen, um die Flüchtlinge zu begrüßen. Ganz bald schon kam er in eine Hamburger Familie, die ihn bei sich aufnahm. Er sagt nicht „eine“, sondern „meine Familie“ zu ihr, und er liebt diese Menschen. Heute hat er eine kleine eigene Wohnung.

„Das Glücksgefühl war groß, als ich ankam“

„Das Glücksgefühl war groß, als ich ankam am Hauptbahnhof“, erinnert er sich. Da war vor allem das Gefühl, dass am Himmel über ihm keine Kampfflugzeuge mehr fliegen und dass kein Bomber seine Fracht, seine Fassbomben über seiner Stadt auskippt. „Der IS hatte unsere Stadt komplett unter Kontrolle gebracht und so viele unschuldige Menschen umgebracht. Mein Ar-Raqqa war komplett in Schwarz getaucht, und überall stand den Leuten die Angst ins Gesicht geschrieben.“

Hamoudi ist ein eher kleiner Mann mit einem dichten Bart und geschorenem Kopfhaar. Wenn ich ihn bitte, sich an den Tag zu erinnern, als er übers Meer nach Mytilini auf der Insel Lesbos flüchtete, bahnen sich die Bilder von damals wieder in ihm zurück. Seine rechte Hand holt dann immer wieder aus, als würde sie nach etwas schöpfen.

Schleuser bestimmten ihn zum Steuermann

Er fährt sich mit dieser Hand durch sein Gesicht. Immer wieder. Bis er die Worte zu seinen Gesten dazuholt: „Als ich im Boot saß, schlug ich mir immer wieder Wasser in mein Gesicht ...“, sagt er. Und er erzählt, wie die Sonne das Mittelmeer wie einen Spiegel blitzen und gleißen ließ und wie dieselbe Sonne auf seinen Schädel brannte. Wie die Angst in ihm aufstieg und ihn einmal mehr erhitzte. Mitten auf dem Meer war ihm, als würde er von innen brennen.Würde er ankommen oder würde er untergehen?

„Da war nicht nur die Angst, sondern auch die Verantwortung“, sagt er nun. Denn die Schleuser hatten ihn zum Steuermann des Schlauchboots bestimmt. „Hier, du setzt dich ans Ende!“, kommandierte ihn einer der Männer, bevor er verschwand und die 40 Menschen im voll besetzten Boot sich selbst überließ. Hamoudi hielt stand. Er bediente den kleinen Außenbordmotor mit dem bisschen Benzin darinnen und führte die Menschen bis ans rettende Ufer von Lesbos.

„Ich begann, immer schneller zu atmen"

Das Gummiboot, es schaukelte, es knickte in sich ein bei jedem Wellenschlag. Und dann starteten da am nahen Ufer die türkischen Grenzpatrouillen, die Jagd auf alle Schlauchboote machen, sie an ihrer Überfahrt hindern wollen. Todesangst. „Ich begann, immer schneller zu atmen, mein Herz raste, und da waren plötzlich diese Schmerzen in meinem Inneren, obwohl ich nicht wusste, woher sie kamen.“ Und immer wieder diese Hitze, von der Sonne und der Furcht, die sich immer weiter in ihm ausbreitete.

Hamoudis linker Arm und seine linke Hand hielten den Steuerknüppel, seine rechte tauchte weiter ins Meer, um Wasser zu schöpfen. Bald fing er aus lauter Panik an, das Wasser auch zu schlucken. „Ich hatte solche Angst, dass ich ertrinken würde oder meine Freunde oder die Leute, die ich da vor Ort kennengelernt habe. Die Familien mit den Kindern, die nicht wussten, was sie erwartete ...“, sagt Hamoudi jetzt, und sein Atem, mit dem er eben noch sanft und leise erzählte, bebt jetzt wie sein Puls: „Im Boot war ich körperlich da, aber geistig nicht! Meine Gedanken waren in meiner Stadt … bei meinen Freunden ... bei meiner Familie ... und allen Leuten, die ich liebe!“

Hamoudi entkam den Grenzer-Booten

Hamoudi schafft es. Er entkommt den Grenzer-Booten. Nach einer guten Stunde schon erreicht er Lesbos. Er hat das Meer überwunden, jenes Wasser, das für so viele Flüchtlinge den Tod bedeutet. Tag um Tag, bis heute. Bei Hamoudi war es das Wasser, dem er sich anvertraute. Und das so viele mit sich hinabreißt. Während manche von uns immer noch diskutieren, ob man diese Menschen auf dem Meer retten oder sie sich selbst überlassen soll.

Es hilft Hamoudi bis heute, wenn er wieder und wieder an seinen Lieblingsort geht in Deutschland. Dort, wo das Wasser nur Gutes bedeutet. Hier an der Elbe am Hamburger Hafen, wo sich das süße mit dem salzigen Wasser mischt. Wo er endlich in Sicherheit ist. Und der Fluss seine Gedanken und Sorgen und Wünsche mit sich nimmt bis nach Syrien, bis zum Euphrat.

„Ich bin stärker geworden"

An allem, was ihn so viel an Kraft und Angst gekostet hat, ist Hamoudi gewachsen: „Ich bin stärker geworden durch das, was ich erlebt habe.“ Ja, er spürt noch, dass seine Seele zweigeteilt ist. Die eine Hälfte ist schon angekommen in Deutschland, die andere hängt an seiner Heimat. So wie bei jedem Menschen, der in die Fremde geht. Aber manchmal bringt er die beiden Hälften zusammen. Wenn er Musik aus Syrien hört, Volkslieder von dort. Denn die Musik fängt ja immer dort an, wo die Worte enden. „Dann bin ich wieder eins.“

Er ist es auch wegen der großen Hilfe, dem Zuspruch, den er in Deutschland bekam. Und er ist gewappnet gegen das Misstrauen mancher Deutscher, das sie ihm immer noch dann und wann entgegenbringen. So sanft er ist, so sehr vermag er auch seinen Rücken durchzudrücken, wenn er auf Vorbehalte stößt. Etwa, wenn man ihn wieder und wieder fragt, wie er das denn als gläubiger Muslim sehe, dass „seine“ Leute Terroranschläge in Europa begehen. Dann weiß er sich zu behaupten, ohne sich kleinzumachen.

Hamoudi rettete seine Seele in Hamburg

Und wenn ihm ein anderer allzu gönnerhaft bescheinigt, dass er doch so gut integriert sei und andere seines Schlages eben nicht, dann antwortet Hamoudi schon mal: „Das gibt es, ja. Aber jeder von uns ist gefragt. Auch Sie als Deutscher können sich öffnen, auf die Menschen zugehen, ja, Sie können sich integrieren. Denn Integration ist keine Einbahnstraße.“ Auch diese Stärke, dieses Selbstbewusstsein hat er in Deutschland gelernt.

Hamoudi ist ein Mensch mit einer wiedererstarkten Seele. Eine Seele, die er dort, wo er herkam, beinahe verloren hätte. Und die er bei uns gerettet hat. Seine Resilienz hat er sich Stück um Stück aufgebaut, bis er mit ihr dann die große Prüfung durchstand, seine Flucht.

Hamoudi arbeitete bei Hanseatic Help

Deswegen, auch deswegen wollte er von Beginn an etwas zurückgeben. Er meldete sich zum Bundesfreiwilligendienst. Ein Jahr lang setzte er sich bei Hanseatic Help für Obdachlose ein. Die Hilfsorganisation versorgt und unterstützt Geflüchtete, Obdachlose und andere Mitmenschen kostenlos mit Kleidung und anderem Notwendigen. Tausende Menschen haben die Ehrenamtlichen schon erstversorgt. Hanseatic Help beliefert etwa 150 Einrichtungen für Bedürfti-­­
ge in Hamburg. Und was an Hilfsgütern in der Hansestadt nicht benötigt wird, bringen Hamoudis Kollegen nach Syrien, in den Irak, nach Griechenland, Sizilien oder Haiti.

Hamoudi ging nicht fort von Hanseatic Help nach einem Jahr. Er blieb bis heute. Und das, obwohl ihm kaum Freizeit blieb während seiner Lehre zum Hotelfachmann im Grand Elysée. Heute hat er ausgelernt und ist fest angestellt an der Rezeption dort.

Im Hotel Atlantic traf er Udo Lindenberg

Der Gedanke, dass ein junger Kerl, der sein nacktes Leben gerettet hat, dort Menschen zu Diensten ist, die für eine Nacht in diesem Haus so viel zahlen wie Hamoudi einst seinen Schleppern, kommt ihm nicht. Er ist nur glücklich und stolz, dort zu arbeiten. Vor dem Grand Elysée jobbte er erst an der Staatsoper und im Hotel Atlantic. In dem Haus, das wie ein Ozean-Liner vor dem Stapellauf an der Alster liegt. Genau da arbeitete Hamoudi, der mit dem Schlauchboot floh. Eines Tages traf er dort Udo Lindenberg auf den Fluren. Und Udo nuschelte ihm zu: „Schön, dass du hier bist. Ich wohne hier. Wo wohnst du? Geht’s dir gut hier?“

Udo fragte nicht das, was ihn so viele andere in Hamburg fragen: Wieso er denn so gut Deutsch spreche? Oder warum er denn hier sei? Oder wann er denn nun mal zurückkehren wolle in seine Heimat? Denn das sei ja wohl klar, dass er das doch ganz bestimmt vorhabe ... Solche Sätze tun ihm immer etwas weh beim Wurzelschlagen in Hamburg. „Denn das hier ist doch mein Zuhause.“

Geflüchtete in Hamburg: Hamoudi will etwas zurückgeben

Hamoudi weiß nur eines in seinem Leben danach. Dass er nicht aufhören wird, sich für andere, die es brauchen einzusetzen. Er sagt: „Heute kann ich anderen Menschen helfen und ihnen Hoffnung geben. Hoffnung, die Hamburg mir gegeben hat. Diese Stadt hilft mir, wenn ich mal nicht weiterweiß. Sie ist mein Hafen, mein Anker, mein Tor zur Welt ... Meine neue Heimat.“