Hamburg. Der Unternehmensverband Hafen Hamburg fordert laut ein Wiederanfahren Moorburgs. Warum der Brief so brisant ist.

In der Industrie liegen die Nerven blank: Angesichts einer drohenden Gasmangellage und Sorgen um die Stromversorgung erhöht die Wirtschaft den Druck auf die Politik. In einem Schreiben vom Freitag an Bürgermeister Peter Tschentscher fordert der Unternehmensverband Hafen Hamburg laut ein Wiederanfahren des Kohlekraftwerks in Moorburg. „Aus unserer Sicht und nach unserer Kenntnis ist dies nicht nur kurzfristig möglich, sondern auch energiepolitisch mehr als geboten“, heißt es in dem Schreiben des Präsidenten Gunther Bonz, der lange Staatsrat in der Wirtschaftsbehörde war.

In dem Brief heißt es weiter: „Der Rückbau ist nicht so weit fortgeschritten, ein Stopp des Rückbaus und Reinstallation von Anlagenteilen ist technisch machbar und auch wirtschaftlich noch sinnvoll.“ Entsprechendes Fachpersonal sei bei den Energieversorgern und Fachfirmen auch für einen Einsatz in Moorburg vorhanden. Bonz verweist dabei nicht nur auf Vattenfall, sondern auch auf RWE.

Kraftwerk Moorburg: Senator öffnet die Tür

Der Brief bekommt zusätzliche Brisanz, weil sich Wirtschaftssenator Michael Westhagemann in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ ähnlich äußerte. „Spätestens, wenn wir feststellen, dass russisches Erdgas längerfristig nicht mehr fließt, würde ich auch nach Moorburg schauen“, sagte Westhagemann. Erst am Mittwoch hat der russische Konzern Gazprom die Durchleitung auf nur noch 20 Prozent der ursprünglichen Menge weiter halbiert.

„Unsere Industrie braucht zwingend sehr viel Energie, Erdgas wie auch Strom“, betonte der Senator. Gasbefeuerte Anlagen, zur Erzeugung von Prozesswärme in der Industrie, ließen sich teilweise auf den Betrieb mit Strom nachrüsten. „Das ergibt aber nur dann Sinn, wenn die Stromversorgung sichergestellt ist.“

„Wir produzieren genug Strom"

Den Vorstoß ihres parteilosen Senatskollegen konterten die Grünen hart: „Wir brauchen Moorburg auch in dieser krisenhaften Zeit für eine sichere Stromversorgung in Norddeutschland nicht. Wir produzieren genug Strom und müssen diesen sogar abregeln, wenn zu viel davon durch Windkraft entsteht“, schäumte Umweltsenator Jens Kerstan. Wissenschaftssena­torin Katharina Fegebank zeigte sich erstaunt über den Vorstoß. Bürgermeister Peter Tschen­tscher, der Westhagemann als seinen ersten Senator im Herbst 2018 berufen hatte, sprang seinem Mann nicht zur Seite.

Die politische Botschaft: Wer so wenig Rückhalt hat, sollte sich besser nicht bewegen. SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf ließ den Senator wissen: „Statt sich immer wieder destruktive Gedanken über Mooburg als erneutem Kohlekraftwerk zu machen, sollten wir Moorburg als Wasserstoffstandort zügig entwickeln.“

Kohlekraftwerk Moorburg verfügt über zwei Blöcke

Allerdings muss sich beides nicht ausschließen: Das Kohlekraftwerk Moorburg mit seinen 1600 Megawatt Leistung verfügt über zwei Blöcke, von denen einer theoretisch weiterlaufen könnte, um den Aufbau des 100-MW-Elektrolyseurs nicht zu gefährden. Der frühere Siemens-Manager Westhagemann, der zuvor Vorsitzender des Industrieverbandes Hamburg war, verweist auf Wünsche aus der Wirtschaft, verbittet sich „Denkverbote“ und will alle Optionen „in der aktuellen Situation auf dem Gasmarkt“ prüfen. Das Kohlekraftwerk in Moorburg war Ende 2020 nach knapp sechs Jahren Laufzeit stillgelegt worden.

Ursprünglich sollte es bis 2038 laufen. Würde es nicht zurückgebaut – es taugte als Denkmal für die Ideologieverliebtheit deutscher Energiepolitik: Über kein anderes Kraftwerk wurde so heftig gestritten, wurden Wahlkämpfe ausgefochten und Koalitionskrisen heraufbeschworen. Ungeliebt war es von Anfang an. Was vergessen ging: In Moorburg stand das effizienteste und klimafreundlichste Kohlekraftwerk Europas.

Kohlekraftwerk im Durchschnitt auf 38 Prozent

Mit Fernwärmeauskopplung hätte der Wirkungsgrad bei 61 Prozent gelegen. Ein Kohlekraftwerk kommt hierzulande im Schnitt auf 38 Prozent, die Dreckschleuder in Wedel aus den 1960er-Jahren liegt sogar noch darunter, darf aber unverdrossen weiterlaufen – dieses Kohlekraftwerk war eben nie Symbol der Politik.

Aufgrund des Kohleausstiegsgesetzes wurde ausgerechnet Moorburg dann als eines der ersten stillgelegt – gegen eine dreistellige Millionenentschädigung aus der Steuerkasse. „Das ist ärgerlich, denn aus ökologischen Gründen wären besser erst die alten, dreckigeren Kohlekraftwerke vom Netz gegangen als das modernste“, kritisierte unlängst der energiepolitische Sprecher der FDP, Michael Kruse, im Abendblatt. „Die Festlegung der Abschaltreihenfolge war ein großer Fehler der GroKo. Das war eher ein Beitrag zur Deindustrialisierung, als zur Dekarbonisierung der Wirtschaft.“

Am 7. Juli 2021 ging Moorburg endgültig vom Netz. Endgültig? Aufhorchen lässt ein weiterer Satz im Schreiben Bonz’ an den Bürgermeister: „Nach unserer Kenntnis hat sich das Bundeswirtschaftsministerium an den Senat gewandt mit der Bitte zu prüfen, ob nicht auch Moorburg wieder an das Netz angeschlossen werden kann.“ Widersprüchliche Angaben gibt es, wann dieses Ersuchen kam und ob es zuletzt noch einmal erneuert wurde. Politische Insider bestätigen, noch vor gut zwei Wochen sei in einer Runde von Staatsräten darüber gesprochen worden.

Demnach habe sich das Bundeswirtschaftsministerium im Juni noch einmal bei der Stadt wegen Moorburg erkundigt, auch wegen der besonders gefährdeten Energieversorgung in Süddeutschland. Senatssprecher Marcel Schweitzer dementiert hart: „Eine solche Anfrage hat es nicht gegeben.“ Vielmehr habe Hamburg mehrfach im Bund nachgefragt, ob ein Wiederanschluss erforderlich sei.

Moorburg: Rückbau technisch nicht darstellbar?

Im Bundeswirtschaftsministerium heißt es etwas unkonkret: „Es gab im Frühjahr Gespräche mit Kraftwerksbetreibern, auch mit dem Betreiber des Kraftwerks Hamburg-Moorburg. In diesen Gesprächen wurde erörtert, welche Kraftwerke möglicherweise freiwillig an den Markt zurückkehren könnten“, sagt Sprecherin Katharina Grave dem Abendblatt. „Der Betreiber von Moorburg hat angegeben, dass eine vollständige Wiederinbetriebnahme nicht mehr möglich sei und für eine teilweise Wiederinbetriebnahme mehr als zwölf Monate Vorlaufzeit nötig wären. Aus diesem Grund wurde dieses Kraftwerk für die Planungen im kommenden Winter nicht weiter berücksichtigt.“

Das wiederum bestätigt Vattenfall: „Ein Wiederanfahren wäre technisch und wirtschaftlich nicht mehr darstellbar“, sagt Unternehmenssprecher Stefan Müller. „Deshalb verfolgt Vattenfall weiterhin den Rückbau des Kraftwerks Moorburg. Die Stilllegungsarbeiten liegen im Zeitplan, die Genehmigungsanträge und die Ausschreibungsunterlagen für den Abbruch werden vorbereitet.“

Weiterbetrieb der Reaktoren immer wahrscheinlicher

So wurden Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe bereits entfernt, Ersatz- und Reserveteile des Kraftwerks sowie Teile der Turbine, der Generator, Transformatoren sowie Messeinrichtungen verkauft. Vattenfall, daran gibt es keine Zweifel, hat mit dem Kohlekraftwerk Moorburg abgeschlossen. Finanziell wurde es mit Abschreibungen von mehr als einer Milliarde Euro zum Fiasko, zudem stand Vattenfall deswegen eineinhalb Jahrzehnte in der Kritik, die manche Shitstorm nennen würden. Heute will das schwedische Staatsunternehmen innerhalb einer Generation fossilfrei sein. Moorburg passt nicht mehr in die Unternehmensstrategie.

Aber in diesen Tagen leben auch Totgesagte länger. Am Atomausstieg hielt die Politik in den vergangenen Monaten demonstrativ fest, inzwischen wird ein Weiterbetrieb zumindest der letzten drei Reaktoren immer wahrscheinlicher. Eine besonders hübsche Volte: Seit der Teilverstaatlichung von Uniper durch Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) betreibt die Bundesrepublik noch zwei weitere Meiler: Uniper ist Minderheitseigentümerin der Kernkraftwerke Ringhals und Forsmark in Schweden.

Moorburg: Wiederanfahren wäre extrem kompliziert

Im Unterschied zu den Kernkraftwerken aber ist Moorburg schon vom Netz gegangen – ein Wiederanfahren ist nicht nur wegen der laufenden Rückbauarbeiten, die nach dem 24. Februar 2022 eben nicht gestoppt wurden, extrem kompliziert. Es müsste auch eine neue Betriebsgenehmigung her – und das dürfte dauern. Im besten Fall rechnen Experten mit einer Aktivierungszeit von zwölf bis 24 Monaten. Andererseits hat die Krise gezeigt, was plötzlich alles möglich ist: Ein LNG-Terminal zu bauen, dauert nicht mehr zehn Jahre, sondern nun noch zehn Monate. Klar ist aber auch – mit jedem Tag des Zuwartens wird der Weiterbetrieb unwahrscheinlicher.

In dem Konflikt um Moorburg geht es längst um vielmehr: Es geht um die Energieversorgung der Zukunft und um den Industriestandort. Viele Wirtschaftsvertreter registrieren mit wachsendem Unverständnis, dass offenbar die Umweltbehörde von Jens Kerstan die Richtlinien der Hamburger Energiepolitik bestimmt. Sie setzt ungeachtet der Weltkrise weiter auf die Wärmewende und trotz der Gasmangellage auf die geplante Gas- und Dampfturbinen-Anlage auf der Dradenau. Von hier soll Fernwärme für den Hamburger Westen geliefert werden. Ursprünglich sollte diese übrigens vom nur wenige Hundert Meter entfernten Kohlekraftwerk Moorburg kommen. Dies wussten Politik, Bürgerinitiativen und Umweltverbände zu verhindern.

16 Prozent der Firmen drosseln Produktion

Westhagemann kämpft wohl nicht nur für Moorburg, sondern für eine andere Energiepolitik: Die Energiekrise schlägt brutal zu: Laut einer aktuellen Umfrage des Deuschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) haben 16 Prozent der Unternehmen ihre Produktion gedrosselt oder ganze Geschäftszweige aufgegeben. In energieintensiven Betrieben liegt dieser Anteil sogar bei einem Drittel. Und anders als bei der Corona-Krise dürfte diese Drosselung von Dauer sein – die Produktion wird nicht wieder hochgefahren, sondern eingestellt oder ins Ausland verlagert. Die Deindustrialisierung hat längst begonnen. Für die Hansestadt Hamburg mit Großverbrauchern wie Aurubis oder Trimet und einer starken industriellen Basis sind das alarmierende Nachrichten.

Lange Zeit war im Senat Energiepolitik stets Industriepolitik: So war es die SPD, die die HEW gleich vier Kernkraftwerke in Stade, Brokdorf, Krümmel und Brunsbüttel bauen ließ. Zwei davon betrieb der kleine städtische Versorger sogar allein. Das Kohlekraftwerk Moorburg wiederum setzte die CDU bei Vattenfall mit enormen politischen Druck durch, um energiepolitisch autark zu bleiben.

Kraftwerk Moorburg: Versorgungssicherheit im Fokus

Entschieden früher industriepolitische Erwägungen über die Energiepolitik, waren es zuletzt fast nur noch umweltpolitische Fragen. Nun schwenkt der Fokus wieder Richtung Versorgungssicherheit: Sollte es im Winter zum Gasmangel oder gar einem Blackout kommen, drohen nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Verwerfungen. Vielleicht geht es heute schon darum, sich für den schlimmsten aller Fälle zu wappnen. Es gleicht einer Wette auf die Zukunft: Wer den Weiterbetrieb von Moorburg versucht, kann scheitern, wer es aber gar nicht versucht hat, wird im Falle eines Blackouts auf jeden Fall brutal gescheitert sein.