Hamburg. Infektiologin Prof. Marylyn Addo und Intensivmediziner Prof. Stefan Kluge über den Impfschutz und den Sinn einer vierten Impfung.
Impfwirkungen, Überlastung des Gesundheitswesens, Folgen von Corona: An wenigen Orten kommen wichtige Erkenntnisse aus mehr als zwei Jahren Pandemie so konzentriert zusammen wie am UKE in Hamburg. Das Abendblatt sprach mit der Infektiologin Prof. Marylyn Addo und dem Intensivmediziner Prof. Stefan Kluge.
Hamburger Abendblatt: Frau Addo, halten Sie es für sinnvoll, dass sich Impfkandidaten sechs Monate nach der dritten Impfung oder nach einer Infektion mit Omikron ein viertes Mal impfen lassen?
Prof. Marylyn Addo: Auf dem Boden der derzeitigen Evidenz und gemäß der Stiko-Empfehlung wird ein optimaler Schutz vor schweren COVID-19 Verläufen in der Allgemeinbevölkerung erst mit drei Impfungen (zwei Grundimmunisierungen und eine Auffrischungsimpfung) erreicht. Da der Impfschutz bei älteren Personen oder Personen mit Immundefizienz schneller abnimmt, sollen diese Personengruppen prioritär auch eine vierte Impfung erhalten. Bei jüngeren immunkompetenten Menschen ist dies nach jetzigem Stand nicht empfohlen.
Herr Kluge, was ist Ihre Erfahrung in der Intensivmedizin mit den Wirkungen der Impfungen?
Prof. Stefan Kluge: Wir müssen uns klarmachen, dass ohne die schnelle Verfügbarkeit von Impfstoffen gegen Sars-CoV-2 die Pandemie deutlich schlechter verlaufen wäre. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass insbesondere mit der Delta-Variante sehr viele ungeimpfte Menschen mit COVID-19 auf Intensivstationen verstorben sind. Die Impfungen waren einer der Hauptgründe dafür, dass viele Maßnahmen im Verlauf entfallen konnten. Und man kann es nicht oft genug sagen: Das Risiko für einen schweren Verlauf steigt mit dem Lebensalter.
Senken Impfungen tatsächlich das Risiko einer schweren Erkrankung und entlasten damit Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte?
Kluge: Ja, genau so ist es. Dazu möchte ich drei häufige Missverständnisse klarstellen: 1. Die Impfstoffe schützen sehr gut gegen schwere Krankheitsverläufe, aber eben nicht zu 100 Prozent. Insofern können trotz Impfung Einzelne einen schweren Verlauf erleiden, das Risiko ist als ungeimpfte Person aber immer deutlich höher. 2. Die Impfstoffe schützen vor allem bei den derzeitigen hochinfektiösen Varianten nicht gut vor einer Infektionsübertragung. 3. Es gibt auch sehr selten Nebenwirkungen durch die Impfung, die Vorteile überwiegen aber in allen Altersgruppen.
Würden neue Varianten diese Erkenntnisse durcheinanderbringen?
Kluge: Neue Virusvarianten können den Schutz vor Erkrankung durch die Impfung in der Tat ungünstig beeinflussen. Nur weiß momentan keiner, ob und welche neuen Virusvarianten mit welchen Eigenschaften noch kommen werden. Es ist allerdings derzeit nicht davon auszugehen, dass eine Variante auftritt, bei der die bisherigen Impfstoffe überhaupt nicht mehr wirken.
Die Stiko und damit die Stadt Hamburg sagt: Erst ab 70 Jahren sollte generell eine vierte Impfung verabreicht werden. Gesundheitsminister Karl Lauterbach sagt: ab 60. Welche Einschätzung haben Sie?
Addo: Es werden ja immer wieder neue Studienergebnisse publiziert und es gibt einen stetigen Erkenntnisgewinn, daher ändern sich auch die Empfehlungen im Verlauf der Pandemie mit der aktualisierten Evidenz. Es gibt in der Tat derzeit eine ganz klare Empfehlung der vierten Impfung für Menschen ab 70 Jahren, aber auch unabhängig vom Alter für Menschen mit einer Immunschwäche. Neuere Daten aus Israel zeigen auch bei über 60-jährigen mit der 4. Impfung einen verbesserten Schutz gegen COVID-19, schwere Erkrankung und Tod in dieser Risikogruppe, allerdings ist der Beobachtungszeitraum noch relativ kurz. Daher ist derzeit noch unklar, wie nachhaltig der Effekt ist.
Was weiß man aus Studien über den Impfschutz? Wie lange hält eine vierte Impfung die Immunisierung aufrecht?
Addo: Es ist mittlerweile sehr gut durch Daten belegt, dass die Wirksamkeit gegenüber schweren Erkrankungen nach einer ersten Auffrischungsimpfung erneut hoch ist und dass dies auch für die sehr ansteckenden aktuell zirkulierenden Virusvarianten gilt. Zur Dauer des Schutzes nach Auffrischungsimpfung zeigen erste Daten einen nachlassenden Schutz vor symptomatischer Infektion über die Zeit. Auf der Basis von Daten aus England (Stand April/Mai 2022) bleibt die hohe Schutzwirkung gegenüber schweren Infektionsverläufen jedoch mindestens drei Monate nach der Auffrischungsimpfung bestehen. Große Datensätze für spätere Zeitpunkte im Kontext der neuen Virusvarianten liegen aktuell noch nicht vor. Studien aus Israel zeigen, dass eine 2. Auffrischungsimpfung (4. Impfung) bei den Zielgruppen mit höherem Covid-19-Risiko zu einer erneuten Verbesserung der Wirksamkeit (Schutz vor schwerlaufender Infektion, Hospitalisierung, Tod) führt. Zur Dauer dieses Effekts liegen noch nicht ausreichend Daten vor.
Wer sich im Juli impfen lässt – wäre der im Zweifel mitten in einer prognostizierten Welle im Dezember schlecht geschützt? Muss dann im Januar der fünfte Piks her?
Addo: Es gilt, im Sommer die noch bestehenden Impflücken in Deutschland zu schließen. Wer noch keine Auffrischungsimpfung (3. Impfung) hat, sollte diese jetzt wahrnehmen. Diejenigen, die zu den Risikogruppen gehören, für die eine vierte Impfung empfohlen ist, sollten diese ebenfalls nicht herauszögern, sondern zeitnah durchführen lassen. Welches der vom Expertinnenrat skizzierten Szenarien sich im Herbst mit welcher Variante genau entfaltet, ist ja derzeit noch völlig unklar. Wie dann genau die weitere Impfstrategie aussehen wird und ob weitere Impfungen, gegebenenfalls auch für besondere Risikogruppen notwendig werden, muss noch etabliert werden. Daher sollte jetzt der Sommer genutzt werden, um die Impfungen zu komplettieren und die Impflücke zu schließen.
Ist ein spezieller, auf Omikron und seine Subtypen entwickelter Impfstoff überhaupt sinnvoll?
Addo: Impfstoffhersteller arbeiten aktuell an angepassten Impfstoffen, die möglicherweise im Spätsommer verfügbar wären. Das Virus hat sich zuletzt jedoch häufig verändert, zum Beispiel auch Omikron, von BA.1 über BA.2 zu BA.5. Inwiefern in Zukunft angepasste Varianten-Impfstoffe nötig sein werden, ist zum jetzigen Zeitpunkt daher noch nicht abschließend geklärt. Die verfügbaren Impfstoffe haben weiterhin eine hohe Schutzwirkung gegen schwere Verläufe, auch bei den derzeit zirkulierenden hochinfektiösen Varianten. Das sehen wir ja auch deutlich an den niedrigen Hospitalisierungsraten und reduzierten Todesfällen, trotz des weiterhin aktiven Infektionsgeschehens.
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Was muss aus Ihrer Sicht geschehen, um Bürgerinnen und Bürger weiter und besser über Corona aufzuklären?
Kluge: Die Aufklärung über die Impfungen ist weiterhin wichtig, da sich ja leider gerade im Internet viele Impfmythen und „Fake News“ finden. Zudem haben sich, bedingt durch Veränderungen des Virus und vielen neuen Forschungsergebnisse, auch die Empfehlungen, wer wann geimpft werden sollte, immer wieder verändert. Vorschläge des Expertinnenrates der Bundesregierung sind leicht zugängliche und zielgruppenspezifische Informationsquellen, unter anderem beim Robert-Koch-Institut und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und in Arztpraxen. Hier finden sich vertrauenswürdige Information zu COVID-19, zu Risiken von Long-Covid sowie den Vorteilen und Risiken einer Impfung. Ganz wichtig ist sicherlich die Bereitstellung von leicht zugänglichen, konkreten Entscheidungshilfen: Also, wer soll sich nach Empfehlung wann boostern lassen?