Hamburg. In Hamburg herrscht Hebammen-Mangel. Am Marienkrankenhaus unterstützt Olivia Engel junge Familien. Und wirbt für mehr Toleranz.
Sie schützt vor Infektionskrankheiten, reduziert das Risiko für Diabetes und Übergewicht, senkt die Allergiegefahr und bietet die besten Entwicklungsmöglichkeiten für das Kind – Muttermilch ist eine echte Wunderwaffe der Natur. Um dem Baby zur richtigen Zeit genau die richtigen Nährstoffe zu geben, setzt sie sich morgens anders zusammen als abends.
Kurz nach der Geburt ist sie voll schützender Antikörper, deren Konzentration mit der Zeit abnimmt, bis zu dem Zeitraum, in dem das Kind anfängt zu krabbeln und viele Dinge in den Mund zu nehmen. Außerdem haben Frauen, die stillen, ein geringeres Risiko, an Brust- oder Eierstockkrebs zu erkranken, sie leiden weniger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und bekommen seltener Altersdiabetes.
Hebammen-Mangel in Hamburg: Problem bei der Nachsorge
Es gibt also sehr viele gute Gründe, sein Baby zu stillen – doch nicht immer klappt es. Für die betroffenen Frauen ein riesiges Problem. In diesen Fällen kommt Olivia Engel ins Spiel. Die Krankenschwester ist ausgebildete Still- und Laktationsberaterin und Leiterin der Elternschule am Katholischen Marienkrankenhaus in Hohenfelde, wo sie vor zwei Jahren das Projekt „Stillraum“ gegründet hat. Insbesondere Frauen ohne Nachsorgehebamme erhalten dort Hilfe und Beratung zu den Themen Säuglingspflege, Gesundheit und Entwicklung des Babys – und natürlich zum Stillen.
„In Hamburg eine Nachsorgehebamme zu finden ist schwierig und in manchen Fällen sogar nicht möglich“, sagt Olivia Engel im Podcast „Hamburger Klinikhelden“. „50 Prozent der Frauen haben keine nachgeburtliche Hebammenversorgung. Sie werden mit ihren Fragen und Ängsten alleingelassen. Hier möchten wir helfen.“
Grund für Abstillen ist auch auf Mangel zurückzuführen
Der Mangel an Hebammen sei nämlich auch ein Grund dafür, warum viele Frauen kurz nach der Geburt abstillen. „Bei uns im Marienkrankenhaus stillen 90 Prozent der Frauen, die entlassen werden“, sagt Engel. „Leider ist es aber so, dass zwei Wochen nach der Geburt nur noch 70 Prozent der Frauen stillen, weil am Anfang Schwierigkeiten auftreten.“
Im Stillraum bieten Oliva Engel und ihre Kollegin Carolin Manneck ganz konkrete Unterstützung, ob bei wunden Brustwarzen oder zu wenig Milch – und vor allem bei der richtigen Stilltechnik. Denn auch einer der natürlichsten Vorgänge der Welt kann am Anfang ganz schön kompliziert sein. „Stillen ist eine Art Handwerk, das trainiert werden muss“, sagt Engel. „Mutter und Kind brauchen Zeit, um zu üben.“
Unterstützung bereits im Kreißsaal
Im Marienkrankenhaus – mit rund 3600 Geburten im vergangenen Jahr die Klinik, in der mit die meisten Kinder in Hamburg auf die Welt kommen – werden die Mütter schon im Kreißsaal dabei unterstützt, ihr Baby anzulegen. Die Klinik orientiert sich dabei an den zehn Schritten eines babyfreundlichen Krankenhauses der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Dazu zählt beispielsweise auch, den Müttern zu ermöglichen, unmittelbar ab Geburt ununterbrochen Hautkontakt mit ihrem Baby zu haben, und den Neugeborenen weder Flüssigkeiten noch sonstige Nahrung zusätzlich zur Muttermilch zu geben – außer, es ist medizinisch notwendig.
Mehr Bewusstsein für Bedeutung von Muttermilch
„Die wissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnisse, die wir über die Muttermilch und das Stillen haben, haben die Bedeutung und die Vorteile in den Vordergrund gerückt“, sagt Engel. „Dieses Bewusstsein ist auch bei Eltern, Fachpersonal und zum Glück auch in der Politik angekommen.“ Allerdings leider noch nicht in allen Teilen der Gesellschaft: So würden Frauen immer wieder berichten, dass sie schräg angeguckt würden, weil sie in der Öffentlichkeit ihr Kind anlegten, und sich extrem unwohl fühlten. Andere würden aus Cafés vertrieben, weil sie dort nicht stillen sollen.
Überraschenderweise gibt es aber auch den umgekehrten Fall: „Es gibt ganz viele Frauen, die sich nicht trauen, in der Öffentlichkeit die Flasche zu füttern“, sagt Olivia Engel. Sie ernteten sonst böse Blicke und Kommentare von Wildfremden, die ihnen Vorwürfe machten, was sie denn da ihrem Kind antun würden. „Unsere Gesellschaft muss dringend lernen, toleranter und respektvoller mit dem Thema umzugehen“, sagt Olivia Engel.
Mehr Toleranz von der Öffentlichkeit
Die Expertin betont deshalb, wie wichtig es sei, das sogenannte „bunte Stillen“ zuzulassen: Das bedeutet, dass nicht nur voll zu stillen der richtige Weg für alle Frauen ist. Auch zuzufüttern könne vollkommen normal sein, und man könne auch eine enge Bindung zum Kind aufbauen, wenn man die Flasche gibt.
„Man muss immer gucken, welche Ressourcen die Frau hat und aus welchem Grund das Stillen nicht klappt“, sagt Engel. So gebe es hormonelle Probleme bei der Mutter oder anatomische Veränderungen beim Kind. „Wichtig ist immer der individuelle Stillweg jeder Frau“, sagt Engel. „Da orientiere ich mich immer an den Wünschen der Mutter.“
Sogar Wein während Stillzeit erlaubt
Das gelte ebenso für die Dauer des Stillens. „Die WHO empfiehlt, sechs Monate voll zu stillen, dann mit Beikost zuzufüttern, aber gerne bis zum zweiten Geburtstag weiterzustillen“, sagt Engel. Am wichtigsten sei aber: Gestillt werden sollte, solange Mutter und Kind das wünschen.
Anders als Schwangere dürfen Stillende übrigens alles essen – und laut Engel sogar 500 Kalorien mehr als sonst, weil man diese an das Kind weitergebe. Die WHO erlaube sogar ein halbes Glas Wein die Woche, wobei man darauf achten solle, dieses direkt nach dem Stillen zu trinken, damit der Körper den Alkohol bis zur nächsten Stillmahlzeit ausreichend abgebaut habe.
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Und was machen eigentlich die Väter, während die Frauen stillen? „Sie können das Stillpaar richtig gut unterstützen, wenn sie gut übers Stillen informiert sind“, sagt Engel. Sei es mit einer helfenden Hand beim Anlegen, mit Essen und Getränken für die Mutter oder motivierenden Worten.
Sie freue sich sehr darüber, dass auch immer mehr Väter in die Stillvorbereitungskurse kämen, so Engel – auch wenn diese sich anfangs oft noch etwas fremd fühlen würden. „Es ist eine sehr schöne Entwicklung, dass immer mehr Männer Elternzeit nehmen und sich ihrer neuen Rolle bewusst werden“, sagt Engel. „Die Väterrolle ist im Wandel, das ist großartig für die jungen Familien.“
Das Projekt „Stillraum“ ist auf Spenden angewiesen. Alle Infos unter: www.marienkrankenhaus. org/stillraum