Hamburg. Dr. Joachim Walter behandelt mit einem transkulturellen Ansatz traumatisierte Kinder und Familien. Zukünftig wird viel Arbeit erwartet.
Auf die Hamburger Kinderpsychiater kommt absehbar noch viel Arbeit zu, denn viele der Flüchtlinge aus der Ukraine sind Kinder und Jugendliche – und viele haben Schlimmes erlebt. Deshalb gebe es derzeit eine Menge Bemühungen, sich auf diese Situation einzustellen: „Wir und viele Kollegen in Hamburg bereiten uns darauf vor, freie Plätze zu schaffen“, sagt Dr. Joachim Walter, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie für Kinder- und Jugendmedizin am Katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmstift in Rahlstedt.
Bis die Flüchtlingskinder aus der Ukraine bei ihm und seinen Kollegen behandelt werden, werde es noch ein wenig dauern, so der Chefarzt im neuen Podcast „Hamburger Klinikhelden“ vom Abendblatt und dem Verband der freigemeinnützigen Krankenhäuser in Hamburg, die Freien. Zunächst gehe es noch darum, die Familien gut unterzubringen und die Kinder an den Schulen zu integrieren. Aber aus der Flüchtlingskrise von 2015 wisse man, dass die Patienten früher oder später auch im Krankenhaus ankommen werden.
Flüchtlinge in Hamburg: Gesprächsangebote wichtig
Familien, die Flüchtlinge privat aufgenommen haben, rät Walter, mit ihren neuen Mitbewohnern, die teilweise Schreckliches erlebt haben, auf jeden Fall das Gespräch zu suchen und Gesprächsangebote zu machen – auch auf die Gefahr hin, nicht alles richtig zu machen. „Wir Menschen machen Fehler, und wir müssen erst einmal herausfinden, wie jemand auf ein Gesprächsangebot reagiert. Aber ich glaube, man kann den Themen nicht aus dem Weg gehen, weil sie so zentral sind.“ Zu erkennen, ob ein Flüchtlingskind professionelle Hilfe benötigt, sei allerdings nicht einfach. „Wenn ein Mensch sich nicht mehr vorwärts entwickeln kann, im Spiel immer das Gleiche wiederholt, immer sorgsam auf die Mutter guckt, ob die nicht im nächsten Moment weg sein könnte, sollte man begleiten und die Eltern stärken“, sagt der Facharzt.
Die Expertise von Dr. Joachim Walter ist in diesen Zeiten gefragter denn je. Denn seine Schwerpunkte liegen in der Behandlung von Kindern und Familien, die durch Flucht und Verfolgung traumatisiert sind, sowie in der transkulturellen Psychotherapie, in der der kulturelle Hintergrund des Patienten eine zentrale Rolle spielt. In seinen Therapiegesprächen sei es zentral, als Erstes die Rahmenbedingungen zu erklären – etwa, dass es in Deutschland eine Schweigepflicht gibt.
Kultureller Hintergrund auch bei Hamburgern wichtig
„Man darf im therapeutischen Raum über alles reden, Trauriges, Glückliches, Sexualität, schlimme Erlebnisse“, sagt der Chefarzt. Nur mit diesem Wissen könnten sich Patienten aus anderen Ländern auch auf eine Therapie einlassen. Dennoch, so Walter, behandele er Geflüchtete nicht anders als deutsche Patienten. Er stelle ihnen auch dieselben Fragen, die er sonst in der Therapie stelle.
„Je länger ich mich mit Migranten beschäftige, umso mehr sage ich: Auch bei Deutschen müssen wir uns mit der Umgebung und der Kultur beschäftigen“, sagt Walter. So führe ein Chefarzt ein anderes Leben in einer anderen Umgebung als jemand aus einem sozialen Brennpunkt in Mümmelmannsberg. „Das heißt, ich würde auch bei jedem Deutschen herausfinden, in welcher Welt lebt derjenige?“, sagt Dr. Walter, der aus dem Schwarzwald kommt und seit 1992 in Hamburg tätig ist.
„Armut ist ein großer Risikofaktor"
Er würde deshalb jungen Kollegen immer empfehlen, zum Hauptbahnhof zu gehen – dort könne man alle Bevölkerungsschichten beobachten. Er rate ihnen auch, in die unterschiedlichen Stadtteile zu gehen, um dort die Jugendlichen zu erleben. Jemand in Volksdorf, Blankenese oder Eppendorf hätte andere Sorgen als in Steilshoop. „Das bedingt auch ganz andere Krankheitsbilder“, sagt Walter. Bei dem einen gebe es hohen Leistungsdruck oder den Stress, von einem Termin zum anderen zu hetzen – andere hätten zu viel Freiheit und zu wenig Aufsicht.
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Um eine psychische Krankheit zu entwickeln, brauche es mindestens vier bis fünf Risikofaktoren, denen ein Mensch ausgesetzt sein müsse: Dazu zählten genetische Belastungen, schwierige Erziehungsmethoden, Leistungsdruck, die Trennung der Eltern, aber auch die soziale Situation der Familie. „Armut ist ein großer Risikofaktor, wahrscheinlich sogar einer der wichtigsten. Wenn sich auf eine Reihe von Risikofaktoren noch einer mehr, sei es Migration oder traumatische Erlebnisse, setzt, dann wird es schwierig.“
Flüchtlinge in Hamburg: Fälle von Depressionen steigen
Dr. Walter und sein Team am Wilhelmstift nehmen dann Patienten stationär auf, wenn eine ambulante Hilfe nicht mehr ausreicht. Das sei der Fall, „wenn jemand es nicht schafft, im Wartezimmer zu sitzen und ruhig auf den Termin zu warten oder regelmäßig Termine wahrzunehmen“, sagt Walter. „Und es gibt bestimmte Krankheitsbilder, die ambulant nicht gut zu behandeln sind, etwa Psychosen oder Selbstmordgedanken. Da sind viele niedergelassene Therapeuten zu Recht vorsichtig.“
Am Wilhelmstift erlebe er derzeit eine „deutliche Zunahme von depressiven Jugendlichen zwischen 13 und 18 Jahren mit Suizidalität“. Ob das schon die Auswirkungen der Pandemie seien, könne man gar nicht sagen, so Walter. Der vermehrte Rückzug und das Online-Leben der Jugendlichen spielten aber eine Rolle.