Hamburg. Endlich dürfen Hunderttausende auf die Strecke an Elbe und Alster zurückkehren. Doch bis dahin war es ein schwerer Weg.
Die gestrichelte blaue Linie ist gezogen, Absperrgitter warten am Straßenrand auf ihren Einsatz, an Bäumen und Laternenmasten hängen Schilder: Hier verläuft die Marathonstrecke. Vor zehn Tagen haben die Behörden die Veranstaltung offiziell genehmigt, Sonntagmorgen glasen Sportsenator Andy Grote (SPD) und Haspa-Finanzvorstand Jürgen Marquardt vor den Messehallen am Fernsehturm das sportliche Sightseeing an Elbe und Alster an.
Mit dem 36. Haspa Marathon kehrt der Hamburger Sport nach zwei Jahren Pandemie zu gelebter Normalität zurück. Der 42,195 Kilometer lange Stadtlauf ist nach dem Lockdown im März 2020 das erste große Zuschauer-Event, das weitgehend ohne Beschränkungen stattfinden kann. Alle Teilnehmenden und Helfenden müssen allerdings geimpft oder genesen sein, bei der Marathon-Messe in der Messehalle A3 herrscht am Freitag und Sonnabend FFP2-Maskenpflicht.
Hamburg-Marathon: 3500 Anmeldungen weniger als 2019
„Gefühlt scheint die Pandemie vorbei zu sein, sie ist es aber nicht. Unter den Auswirkungen leiden wir weiter“, sagt Frank Thaleiser. Der 56-Jährige ist der Geschäftsführer der Marathon Hamburg Veranstaltungs GmbH. Der ehemalige Athletenmanager organisiert mit seinem Team seit 2012 den Lauf zum zehnten Mal.
„Wir haben beim Marathon gegenüber 2019 rund 3500 Anmeldungen weniger, 10.500 statt 14.000, die Staffeln sind erstmals nicht ausverkauft, nur für den Halbmarathon (21,2 Kilometer) gibt es keine Plätze mehr“, sagt Thaleiser. Auch beim Schülerlauf „Das Zehntel“ über 4,2 Kilometer, der am Sonnabend erstmals nach 2019 wieder rund ums Messegelände auf dem Programm steht, wurde die Kapazität mit 9000 Anmeldungen nur zu 90 Prozent ausgeschöpft.
Corona wirkt sich auch 2022 auf Marathon in Hamburg aus
Darüber hinaus dürfte der Anteil derjenigen, die trotz Meldung nicht starten, diesmal bei 30 Prozent liegen, damit gut zehn Prozent über den Zahlen der Vor-Corona-Jahre. „Täglich rufen uns Dutzende Leute an, die sich kürzlich infiziert haben, deshalb verständlicherweise nicht antreten wollen oder können“, berichtet Reinald Achilles, der Medienchef der Marathon GmbH. Der ärztliche Rat in diesen Fällen ist eindeutig: Nichts riskieren – oder sich einer umfangreichen medizinischen und kardiologischen Untersuchung unterziehen.
Problematisch sind beim Comeback des Massen-Marathons die gestiegenen Kosten der Dienstleister. Die Miete für die Dixi-Klos, ein Beispiel von vielen, erhöhte sich in den vergangenen drei Jahren von 35 auf 85 Euro. 480 der mobilen Toiletten werden an der Strecke benötigt. „Wir haben in den vergangenen zehn Jahren unsere Sponsoringeinnahmen von 500.000 auf etwa eine Million Euro verdoppeln können, die Preissteigerungen haben die Mehreinnahmen aber fast komplett wieder aufgefressen“, klagt Thaleiser.
Wobei nicht alle Zulieferer die vergangenen zwei Jahre wirtschaftlich überstanden. 2021 konnten mehr als 60 Prozent der Anbieter kaum Umsätze generieren, die Branche geriet schwer in Schieflage. Der Markt sortiert sich gerade neu, Zweifel bleiben, ob die alte Qualität erhalten werden kann.
Fortbestand des Marathons war gefährdet
Auch der Fortbestand des Marathons war gefährdet. „Hätten 2020 alle Teilnehmenden auf die sofortige Erstattung ihrer Meldegebühren bestanden, hätten wir den Laden wahrscheinlich dichtmachen müssen“, sagt Thaleiser. Die überwiegende Zahl der Läuferinnen und Läufer hielt ihre Buchung jedoch für einen späteren Termin aufrecht.
Einen nicht minder großen Anteil am Überleben des Haspa-Marathons leisteten die Sponsoren, die trotz des Ausfalls des Laufs im Jahr 2020 die kommunikativen Leistungen in den Monaten davor und danach honorierten, etwa die Hälfte der vertraglich vereinbarten Summen überwiesen. Zudem erwies sich die Stadt als verlässlicher Partner. „Wir werden alles tun, was uns möglich ist, damit wir während der Pandemie keinen Veranstalter verlieren. Niemand soll pleitegehen“, hatte Sportsenator Andy Grote auskömmliche Hilfen bereits im April 2020 annonciert. Und er hielt Wort.
Hamburg zahlte Ausfallbürgschaft von 100.000 Euro
„Alles, was die Stadt damals angekündigt hat, wurde später auch umgesetzt“, sagt Thaleiser, dessen Verhältnis zu den Behörden in der Vergangenheit nicht immer frei von Spannungen blieb. Während der Pandemie hätten beide Seiten aber „sehr gut zusammengefunden“, es sei stets „offen, lösungsorientiert und auf kurzen Wegen“ diskutiert worden. Genaue Zahlen, wie hoch die zusätzliche finanzielle Unterstützung für die Marathon GmbH ausfiel, liegen bisher nicht vor. Die Gesamtsumme dürfte bei über einer halben Million Euro liegen.
Selbst als die Stadt im April 2021 den geplanten Elite-Marathon mit dem kenianischen Olympiasieger, Weltrekordler und Hamburger Streckenrekordler Eliud Kipchoge kurzfristig absagte, stand sie zu ihren Verpflichtungen, zahlte eine Ausfallbürgschaft von rund 100.000 Euro. Die Marathon GmbH verlegte den Lauf auf den Flughafen der niederländischen Stadt Enschede, wo er eine Woche später am 18. April stattfand. Kipchoge (37) siegte, qualifizierte sich für Olympia und gewann 2021 in Tokio Gold wie schon zuvor 2016 in Rio de Janeiro.
Mitte August 2021 bedurfte es schließlich eines Machtwortes von Grote, um für den 12. September einen Not-Marathon ohne Zuschauende auf die Strecke zu bringen. „Die Absage war schon formuliert, die Frist ausgereizt, wir standen gegenüber unseren Dienstleistern im Wort, mussten bis spätestens vier Wochen vor der Veranstaltung eine von der Stadt abgesicherte Zu- oder eben Absage erteilen, sonst wären wir ein nicht mehr abzufederndes finanzielles Risiko eingegangen“, erzählt Thaleiser. Am Abend vor dem geplanten Rückzug meldete sich dann Sportstaatsrat Christoph Holstein: „Wir machen es!“ 5157 Läuferinnen und Läufer starteten, die Kosten von rund 1,3 Millionen Euro teilten sich die GmbH, die Sponsoren und die Stadt, die 350.000 Euro zuschoss.
Hamburger Haspa-Marathon ist weltweit live zu sehen
Dieses Jahr liegt der Etat wieder bei rund drei Millionen Euro, ein Zehntel davon wird als Startgelder und Prämien an die besten Frauen und Männer ausgeschüttet. Fünf Sponsoren sind gegenüber 2019 dazugekommen, drei neue, zwei ehemalige. „Wir sind derzeit ausvermarktet“, sagt Thaleiser. Neue Einnahmequellen versucht die Marathon GmbH über die sozialen Netzwerke (30.000 Follower bei Facebook, 11.000 bei Instagram) und über das Streamen des Laufes zu generieren.
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Der Haspa-Marathon wird nicht nur vom NDR übertragen, erstmals ist er auch weltweit live zu sehen. Das macht die Veranstaltung für international tätige Unternehmen interessant. Der bekannte englische Leichtathletik-Reporter Andy Edwards kommentiert. Die Bilder unterscheiden sich von den Aufnahmen des NDR, im Livestream werden fast ausschließlich die Spitzenläuferinnen und -läufer zu sehen sein. Ziel für die Elite: neue Streckenrekorde bei Frauen und Männern.
Marathon: Sportler litten unter Corona-Lockdown
Die Pandemie traf jedoch nicht nur die Veranstalter hart, auch die Sportler litten unter dem Lockdown. Einer von ihnen ist Philipp Pflieger. 2017 musste er sein Hamburg-Debüt wegen eines Infekts absagen, 2019 strich ihm sein damaliger Coach den Haspa-Marathon aus dem Plan, 2020 war dieser fest im Kalender eingetragen – dann kam Corona. Dazu verließ der 34-Jährige das Laufteam Haspa Marathon Hamburg nach zwei Jahren Ende 2021, um beim SCC Berlin sein Glück zu finden. Hauptgrund dafür war, dass das Haspa-Team eine Sponsoringpartnerschaft mit Asics pflegt, Pflieger aber 2022 seinen Vertrag beim Konkurrenten Adidas verlängerte, für den er ein wichtiger Markenbotschafter ist.
„Der Wechsel ändert nichts an meiner Hamburg-Verbundenheit. Ich liebe die Stadt, das Rennen und freue mich riesig auf den Sonntag. Bei meiner bislang einzigen Hamburg-Teilnahme 2018 konnte ich erfahren, was für eine geniale Stimmung an der Strecke herrscht“, sagt der Regensburger. Genau diese Atmosphäre ist es, die er in den vergangenen zwei Jahren so sehr vermisst hat.
"Gesamterlebnis ist wichtig für uns"
„Das Zusammenspiel mit den Menschen an der Strecke ist das, was Marathon für mich und die meisten anderen Eliteläufer ausmacht“, sagt er. „Wir alle sind bei Bahnwettkämpfen groß geworden, wo nur Familie und Vereinskameraden am Rand anfeuerten. Es macht einfach wesentlich mehr Spaß, wenn man Teil einer Community ist, in der sich alle gemeinsam unterstützen.“ Der Austausch mit den Jedermann-Starterinnen und -startern sei für ihn ein nicht zu er-setzender Teil des Erlebnisses Marathon. „Es mag ein Privileg für uns Profisportler gewesen sein, dass wir auf abgeschotteten Strecken laufen durften. Aber jetzt wieder das Gesamterlebnis haben zu können, das ist sehr wichtig für uns.“
Felix Plinke kann das nur unterstreichen. Der 32-Jährige ist Geschäftsführer der Marketingagentur 34motion und in dieser Funktion als Manager für Pflieger und weitere nationale Spitzenläufer tätig. „Die Teilnahme an Publikumsläufen hat einen großen Stellenwert für Profiathleten. Viele von ihnen leben vom Kontakt zu den Fans, nirgendwo kann man leichter in den Austausch treten“, sagt er. Neben der sportlichen Leistung gehe es auch um den Aufbau einer Community. „Rund um solche Großevents lassen sich sehr gut Events mit Partnern und Sponsoren realisieren. Das hilft den Athleten und auch den Partnern.“
Hamburg-Marathon: Steigert Pause die Atmosphäre?
Die Pandemiezeit sei gerade für Profisportler besonders hart gewesen. „Wer keine Wettkämpfe bestreiten kann, hatte kaum oder keine Einnahmen. Leider gab es keine Überbrückungshilfe, viele Partner sind wegen eigener finanzieller Probleme abgesprungen“, sagt er. Dazu komme der mentale Aspekt. „Zwei Jahre zu trainieren, ohne zu wissen, wie es weitergeht, kann sehr stark belasten. Wer so lange nicht seiner Arbeit und Leidenschaft nachgehen kann, muss Auswirkungen auf sein Befinden befürchten.“
Philipp Pflieger hatte sein bislang letztes Marathon-Erlebnis am 26. September 2021 in Berlin. Sportlich lief es durchwachsen, mit seiner 2:15er-Zeit war der Olympiastarter von Rio 2016 unzufrieden. Aber dass Tausende Fans im Streckenverlauf für Stimmung sorgten, beeindruckte ihn nachhaltig. „Man konnte richtig fühlen, wie ausgehungert die Leute waren. Die haben alles gegeben, um uns anzufeuern.“ In Hamburg hofft der gebürtige Sindelfinger nun auf eine noch bessere Atmosphäre.