Hamburg. Mieter sollen rausgedrängt werden, weil angrenzende Häuser dem Neubau weichen müssen. Bahn weist Schuld zurück.
Vier Gleise oben, vier Fahrspuren unten – doch der Stahl, der diese Konstruktion überhaupt möglich macht, ist altersschwach und spröde. An der Sternbrücke über der Kreuzung von Max-Brauer-Allee und Stresemannstraße tickt die Uhr. Im nächsten Jahr soll der Neubau beginnen. Das Planfeststellungsverfahren läuft. Vermutlich noch in diesem Jahr kommt der Beschluss. Die Deutsche Bahn und Hamburg sollen hier wahlweise die „langfristig beste Lösung“ für einen „sicheren und leistungsfähigen Schienenverkehr“ (Bahn) errichten oder eine „Monsterbrücke“ (Anwohner-Initiative).
Verkehr Hamburg: Neubau der Sternbrücke zulasten von Mietern
Unbemerkt von dieser Diskussion hat ein Vermieter eines angrenzenden Mehrparteienhauses Mietern gekündigt. Wie es in einem Schreiben vom 10. März 2022 heißt, das dem Abendblatt vorliegt, müsse das Mietverhältnis, das seit 18 Jahren bestehe, zum 30. Mai dieses Jahres gekündigt werden. Widerspruch dagegen sei möglich bis zum 24. März.
Der Vermieter begründet die Kündigung mit dem anstehenden Brückenneubau. Die Bahn habe ihm mitgeteilt, das Haus müsse abgerissen werden. „Ob uns das gefällt oder nicht, spielt angesichts der Dimension des Neubauvorhabens keine Rolle. Die Bahn hat sogar die Möglichkeit, Wohnungen im Rahmen eines sogenannten Besitzeinweisungsverfahrens von der Enteignungsbehörde räumen zu lassen, und zwar innerhalb von zehn Wochen und ohne vorangehendes Gerichtsverfahren.“
Sternbrücke: Deutsche Bahn von Vorgehen überrascht
Die Argumentation klingt bedrohlich. Die Bahn allerdings ist überrascht von diesem Vorgehen. Eine Sprecherin sagte dem Abendblatt: „Ein Besitzeinweisungsverfahren ist ein gerichtliches Verfahren. Es kann nur auf Grundlage eines gültigen Planfeststellungsbeschlusses erfolgen und ist das letzte Rechtsmittel, wenn eine Einigung nicht erzielt werden kann.“
Die DB Netz AG stehe aber seit Längerem mit den Eigentümern der vom Abriss vermutlich betroffenen Gebäude in Kontakt. Es gehe um eine „frühzeitige Lösung“, die beiden Seiten gerecht werde. „Ob ein Besitzanweisungsverfahren in diesem Fall zum Einsatz kommt, ist offen und zum jetzigen Zeitpunkt spekulativ.“ Die wegen der Sternbrücke ohnehin kritisierte Bahn sieht sich in diesem Fall zu Unrecht instrumentalisiert.
Der Vermieter wollte sich trotz Nachfragen nicht zu dem Fall äußern. Seine Motive liegen deshalb im Dunkeln. Heike Sudmann, Sprecherin für Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr in der Linken-Bürgerschaftsfraktion, sagte dem Abendblatt: „Es ist unglaublich, dass vor dem Hintergrund einer unklaren Lage Mieterinnen und Mieter rausgedrängt werden sollen.“
Kündigungen wegen Neubau: „Dreistigkeit mit Seltenheitswert“
Der Hauptgeschäftsführer des Mietervereins, Rolf Bosse, sagte, die Kündigung zeuge von einer „Dreistigkeit mit Seltenheitswert“. Dahinter könne nur der Wille stehen, das Gebäude an der Sternbrücke „freizuziehen“, um es zu sanieren und gewinnbringend als Eigentumswohnungsbau oder anderweitig zu verkaufen oder eben gleich abzureißen und einen Neubau zu errichten, der in Einklang mit einer neuen Brückenkonstruktion sei.
Der Vermieter will jedoch bei der Unterschrift unter die Kündigung eine Pauschale für eine neue Miete und einen Umzug zahlen. So formuliert er es „ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“, wie es in seinem Brief heißt. Er wolle in diesem „unabwendbaren Prozedere“ Geld im Austausch für einen Auszug bieten, heißt es in seinem Mieter-Schreiben. Wie hoch die Summe ist – unklar. Es solle „Gespräche“ mit dem Mieter geben.
Verkehr Hamburg: Bahn weist Vorwürfe zurück
Das Vorgehen bemängelt Mietrechts-Experte Bosse. „Auf keinen Fall sollten sich die Mieter auf irgendetwas einlassen.“ Der Vermieter schreibt abschließend: „Die Bahn droht unverhohlen damit, ein Verfahren in Gang zu setzen, was in sehr kurzer Frist mit der zwangsweisen Räumung unseres Gebäudes endet.“ Das weist die Bahn von sich. Sie hat nach eigenen Angaben bislang nicht einmal das Planrecht, das Anfang 2023 erteilt werden soll. Erst danach rücken Bombensuchtrupps und die ersten Vorarbeiter an. Im Jahr 2026 oder 2027 könnte der Halbrund-Bogen die prominente Kreuzung überspannen.
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Über dem gesamten Brückenneubau liegt kein Segen. Er soll mit 108 Metern Länge und einer Stabbogen-Konstruktion den aktuellen Bau ersetzen, der die Kreuzung seit dem Jahr 1926 mit 75 Metern überbrückt. In der neuen Variante würden die Stützen entfallen, die heute auf der Straße stehen. Die Clubs wie der Waagenbau und die Astra Stube sowie der Kiosk sollen umgesiedelt werden. Die Brücken-Gegner haben prominente Unterstützer gefunden wie Hamburger Denkmalschützer, aber auch Regisseur Fatih Akin, Musiker Jan Delay und Unternehmer Frank Otto.
Die Mieter der vom Abriss bedrohten Gebäude könnten auch eine Lobby gewinnen: Mietervereins-Geschäftsführer Bosse empfahl, dass sich das Fachamt für Wohnraumschutz im Bezirk Altona doch mal die betreffenden Objekte genauer ansieht.