Hamburg. Trotz der vielen Hilfsprojekte ist die Anzahl der Wohnungslosen in Hamburg hoch. Ein neues Modellprojekt soll dies nun ändern.
Angebote für die rund 2000 Obdachlosen in Hamburg gibt es viele: Straßensozialarbeit, Tagesaufenthaltsstätten, das Winternotprogramm und natürlich etliche Anlaufstellen für Beratungs- und Gesundheitsleistungen. Fast alle diese Ansätze sind darauf ausgerichtet, die Menschen zunächst vor der Kälte zu schützen, sie dann gesundheitlich und psychisch so weit zu stabilisieren, dass sie irgendwann wieder allein zurecht kommen und eine eigene Wohnung und eine Arbeit finden – wobei das eine ohne das andere kaum möglich ist.
Jetzt geht die Stadt erstmals den umgekehrten Weg: „Housing First“ heißt das Modellprojekt, bei dem die eigene Wohnung am Anfang steht und alle weiteren Hilfen darauf aufbauen. Für bis zu 30 Haushalte will die Stadt Wohnraum bereit stellen. Das auf drei Jahre angelegte Projekt solle wissenschaftlich begleitet werden teilte die Sozialbehörde am Montag mit. Sie finanziert den neuen Ansatz mit rund 880.000 Euro. Die Akquise und Vermittlung der Wohnungen sowie die Unterstützung und die begleitenden Angebote für die obdachlosen Menschen erfolgten durch das Diakonische Werk Hamburg, die Benno und Inge Behrens-Stiftung und den evangelisch-lutherischen Kirchenkreis Hamburg-Ost, so die Behörde. Die ersten Wohnung sollen gegen Jahresende vermittelt werden.
„Housing First“ in Hamburg: Leonhard verspricht sich neue Erkenntnisse
„Niemand soll in Hamburg obdachlos sein müssen“, sagte Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD). „Mit dem Housing-First-Modellprojekt probieren wir einen weiteren Ansatz aus, und versprechen uns Erkenntnisse, ob sich dieser Ansatz als wirksam erweist und eine sinnvolle Ergänzung der bestehenden Hilfen sein kann. Unser Ziel ist es, damit weiteren Menschen zu ermöglichen, das Leben auf der Straße hinter sich zu lassen.“
Landespastor Dirk Ahrens vom Diakonischen Werk sagte: „Der Ansatz Housing First, mit dem direkten Zugang zur Wohnung, ist eine wichtige Ergänzung zur Verbesserung der Lebenssituation der Betroffenen.“ Die drei Träger verfügten über „eine fundierte Expertise im Kontakt zu wohnungslosen Menschen, im Bereich der Wohnraumakquise und der Begleitung der betroffenen Menschen beim Wohnungsbezug“.
Der Entscheidung vorangegangen war eine jahrelange Debatte. „Housing First“ ist in anderen Ländern bereits etabliert, als Paradebeispiel gilt dabei Finnland, das die Obdachlosigkeit durch diesen Ansatz massiv senken konnte. Vor jedem Winter hatten daher Opposition und Sozialverbände in Hamburg den Senat aufgefordert, das Konzept auch in der Hansestadt umzusetzen. Schließlich hatte das im vergangenen Jahr auch die rot-grüne Mehrheit in der Bürgerschaft beschlossen – dass der Senat das Projekt nun in die Tat umsetzt, begrüßten SPD und Grüne daher am Montag. Die große Hilfsbereitschaft bei der Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine zeige, dass auch in einem angespannten Wohnungsmarkt viel möglich ist, sagte Mareike Engels, sozialpolitische Sprecherin der Grünen. Daher wolle man Vermieter nun auch dazu motivieren, Wohnraum für Housing First zur Verfügung zu stellen.
Sozialverband Hamburg unterstützt niedrigschwelligen Ansatz
Beim Sozialverband SoVD hieß es, dass man diesen neuen Ansatz ausdrücklich unterstütze: „Menschen mit multiplen Problemlagen bekommen eine niedrigschwellige Chance darauf, ihr Leben zu stabilisieren“, sagte Landeschef Klaus Wicher dem Abendblatt. Die eigenen vier Wände böten den Rahmen dafür, wieder im eigenen Leben Fuß zu fassen: „Wer ein Dach über dem Kopf hat, kann sich darauf konzentrieren, für sich eine Struktur und einen geregelten Tagesablauf zu entwickeln.“
Für Stephanie Rose, sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion in der Bürgerschaft, geht der Ansatz des Senats hingegen nicht weit genug: „Dass Housing First funktioniert, zeigen Länder wie Finnland und Städte wie Berlin und Wien und eben auch eine Vielzahl an Evaluationen. Wieso Hamburg dann noch ein weiteres Modellprojekt mit bescheidenen 30 Plätzen braucht und die Wirksamkeit untersuchen will, ist mir völlig unverständlich.“ Statt jedes Jahr mehr Geld für den Erfrierungsschutz auszugeben, davon Hunderttausende Euro für Security im Winternotprogramm, brauche Hamburg einen Paradigmenwechsel, so Rose: „Die Stadt sollte Housing First zum Leitbild der Wohnungs- und Obdachlosenhilfe machen.“
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Sozialsenatorin Leonhard hält dagegen, dass man bei Obdachlosen beobachte, „dass die Menschen sehr, sehr unterschiedliche Probleme haben – das hat in den zurückliegenden Jahren sogar noch zugenommen. Eine einzelne Lösung, um die Ursachen von Obdachlosigkeit zu beseitigen, wird sich daher zwar kaum finden lassen.“ Oftmals sei nicht allein das fehlende Dach über dem Kopf das Hauptproblem, heißt es aus ihrer Behörde, sondern psychische Erkrankungen, ein angegriffener Gesundheitszustand oder schwere Sucht- und Drogenproblematiken.
Mit dem Modellprojekt sollen nun gezielt Menschen erreicht werden, die seit langer Zeit auf der Straße leben und aufgrund ihrer multiplen Problemlagen über die bestehenden Systeme nicht in Wohnraum vermittelt werden konnten. Ziel sei es, rund ein Drittel der Plätze an Frauen zu vergeben, die 20 Prozent der Obdachlosen in Hamburg stellen.