Hamburg. Der Arzt Matthias Soyka hat viele Patienten aus der früheren Sowjetunion und kennt ihre Sorgen. Er befürchtet, dass die Stimmung kippt.

Sie kommen in seine Praxis, sind zum Teil seine Freunde. Doch nun sind viele derjenigen buchstäblich sprachlos, die Dr. Matthias Soyka seit Jahren kennt. Es schmerzt sie, wenn sie an den Krieg in der Ukraine denken, der von Wladimir Putin begonnen wurde. Es sind „die Russen“, die in großer Zahl im Hamburger Südosten wohnen. In Bergedorf, Neuallermöhe, südlich der Bahn­linie, zwischen den Stationen Allermöhe und Nettelnburg und der Autobahn 25.

Orthopäde Soyka sagt: „Viele dort sind todunglücklich. Unter den russischstämmigen sind viele, die dachten, sie hätten Putin verstanden. Nun müssen sie einsehen, dass sie sich getäuscht haben, und sind deprimiert.“

Krieg gegen die Ukraine: „Es herrscht Russen-Phobie"

Darin gleichen sich die Hamburger mit russischen Wurzeln und die ohne. Allerdings müssen die Neubürger, die seit dem Zerfall der Sowjetunion in Hamburg ein Zuhause fanden, nun mit leisen und lauten Vorwürfen leben, mit bösen Blicken, manche Kinder mit Mobbing. „Es kippt“, sagt Soyka. Von einem auf den anderen Tag stehen die Russischstämmigen unter Generalverdacht, sie hätten Putin und seinen aggressiven, seinen jetzt militärisch mörderischen Kurs unterstützt. Soyka hat ein „Memorandum“ für Verständnis geschrieben, das er als Flugblatt verteilt, per E-Mail, als Newsletter.

Die russische Gemeinde in Bergedorf sei „bestens integriert“, das seien „gute Staatsbürger“, sagt Soyka. „Jetzt herrscht eine Russen-Phobie.“ Und die sei nicht gerechtfertigt. Schon aus naheliegenden Gründen: Viele kämen aus Kasachstan oder aus Gegenden, in denen sie als „die Deutschen“ und „die Faschisten“ galten, weil ihre Vorfahren ostwärts gezogen waren.

„Gefühl für Russland“ bei vielen noch vorhanden

Soyka spricht von einer früheren Patientin, die ihm erzählt habe, sie sei von sowjetischen Anwerbern heim nach Mütterchen Russland gelockt worden. Dort habe man sie nach der Ankunft für Jahre in ein Lager gesteckt. „Eine Geschichte, die durch den Roman ,Das achte Leben (Für Brilka)‘ von Nino Haratischwili glaubwürdig scheint.“

Ein „Gefühl für Russland“ sei heute bei vielen noch vorhanden. Die Mehrheit habe Putin und seinen repressiven Stil der Unterdrückung aller Opposition kritisch gesehen, aber eben auch positive Trends. „Jetzt sind sie erschrocken, dass er sich als solcher Diktator und Kriegsverbrecher erwiesen hat.“

Mobbing gegen russischstämmige Schüler

In Neuallermöhe haben laut Statistikamt zwei von drei Bürgern einen Mi­grationshintergrund (65 Prozent), hamburgweit sind es rund 36 Prozent. Unter den Kindern und Jugendlichen sind es 80 Prozent, also vier von fünf jungen Menschen. Eine Lehrerin berichtet mit der Bitte um Anonymität, dass es bereits zu Mobbing gegen russischstämmige Schüler gekommen sei, auch gegen vermeintliche. Zurzeit sind Ferien, aber danach komme auf die Schulen eine neue soziale Herausforderung zu.

„Wir dürfen die Russischstämmigen nicht verlieren“, appelliert Soyka. „Keiner ist ein hoffnungsloser Fall.“ Man müsse vielen klarmachen, dass das, was sie in russischen Sendern sehen, ein gefiltertes Bild sei, das mit freier Berichterstattung nichts zu tun habe. Das zivile Engagement wird immer schwieriger. Die Körber-Stiftung, die seit Jahrzehnten enge Kontakte in die russische Gesellschaft pflegt, beklagte zuletzt, dass ihre Partnerorganisation Memorial verboten wurde.

Krieg gegen die Ukraine: Verein bietet Hilfe an

„Eine einseitige, vom russischen Staat und dem russischen Präsidenten persönlich sanktionierte Interpretation russischer und europäischer Geschichte hat bei der Vorbereitung und Legitimation des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges, den Russland am 24. Februar gegen sein Nachbarland Ukraine vom Zaun brach, eine zentrale Rolle gespielt“, schreibt die Stiftung.

Die Russischstämmigen fürchten, im Krieg der Worte unterzugehen. Der Schrecken, den der Arzt Soyka bei ihnen erkennt, und die Sorge um eine weitere Eskalation in der Ukraine lassen sie weitgehend verstummen. Der Hamburger Verein der Deutschen aus Russland bietet Schutzsuchenden seine Hilfe an – allen, wie es auf der Webseite heißt.