Hamburg. Impfarzt Heinrich über die Wirksamkeit von Biontech, Moderna und Novavax – und den neuen Gesundheitsminister Karl Lauterbach.

Er war Mr. Impfzentrum: Dr. Dirk Heinrich, HNO-Arzt aus Horn, war in den Messehallen der Sprecher der medizinischen Leiter. Kaum jemand kann das Immunisieren gegen das Coronavirus in Hamburg so beurteilen wie er. Das Abendblatt sprach ein Jahr nach Beginn der Impfkampagne mit ihm.

Hamburger Abendblatt: Herr Dr. Heinrich, im Moment scheint es ja mit dem Impfen zu klappen. Wie passt dazu, dass das Boostern in Hamburg so schlecht läuft?

Dirk Heinrich: Ich glaube, wir hängen einen Tick hinterher, weil wir relativ gesehen am Anfang einen Moment gebraucht haben, weil der Impfstoff nur alle zwei Wochen kam. Dann hieß es gleich, er ist rationiert, das hat auch Kollegen abgehalten. Es sind außerdem zwei verschiedene Dinge – das Impfen und das Melden. Wir werden das in der nächsten Zeit aufholen.

Wie sieht es mit dem Impfstoff aus. Gibt es ausreichend Biontech und Moderna?

Heinrich: Es gibt ausreichend Moderna, bei Biontech ist es nach wie vor so, dass er rationiert ist. Es hieß, dass wenn man nächste Woche 30 Dosen bestellt, dass vielleicht nur sechs kommen. Ich weiß nicht, ob Herr Lauterbach die Zahlen und die Lieferungen im Griff hat. Auf der Seite des Bundesgesundheitsministeriums gibt es eine Statistik, die ist vom 7.12. Dort ist aufgeführt, wie viel an die Länder ausgeliefert ist und an die Praxen und wie viel verimpft wurde. Da ist eine erhebliche Differenz. Das heißt, da liegen in irgendwelchen Kühlschränken bei den Ländern, im Großhandel oder bei den Arztpraxen eine ganze Menge Impfstoff. Diese Reserve muss es geben, sonst stimmen diese Zahlen nicht. Schwankungsreserven sind notwendig um ausfallende Lieferungen auszugleichen.

"Ich weiß nicht, ob Herr Lauterbach die Zahlen und die Lieferungen im Griff hat"

Aber eine gewisse Unruhe ist doch schon entstanden, weil Herr Lauterbach gesagt hat, dass wir im ersten Quartal 2022 zu wenig Impfstoff haben?

Heinrich: Für mich sind die Zahlen, die er genannt hat, nicht nachvollziehbar. Es ist so gewesen, dass Herr Spahn gesagt hat, wir boostern jetzt ganz wild und dann hat er gesagt, wir haben nicht genügend Biontech. Es war wohl zu dem Zeitpunkt so, dass es 24 Millionen Dosen Biontech gab und 26 Millionen Dosen von Moderna. Dann wurde sehr viel Impfstoff abgefordert. Deswegen ist jetzt zum Jahresende wenig Biontech da. Der Impfstoff ist ausgeliefert, aber zum Teil noch nicht verimpft. Zuletzt hat Herr Lauterbach seine Rechnung nur noch auf das nächste Jahr beschränkt und gesagt, wir wollen 50 Millionen boostern und 20 Millionen Erst- und Zweitimpfungen machen, macht 70 Millionen, aber er habe in den ersten beiden Monaten nur noch 50 Millionen Dosen zu erwarten und er möchte schneller boostern. Dann fehlen ihm 20 Millionen im Januar. Das heißt aber, es ist nicht zu wenig bestellt worden, sondern er möchte im Januar, Februar schon fertig sein. Dann müsste man die Lieferungen vorziehen. Er hat aber die Rechnung so aufgemacht, als ob sich jeder boostern lässt und jeder Erst- und Zweitimpfungen nimmt, aber wirklich alle. Wir alle wissen, dass das nicht der Fall sein wird.

Impfarzt Dr. Dirk Heinrich bei Twitter

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Reichen die Impfmöglichkeiten durch Arztpraxen, städtische Impfangebote und Betriebsärzte? Jetzt sollen auch noch Apotheken und Zahnärzte dazukommen. Brauchen wir wieder ein zentrales Impfzentrum?

Heinrich: Wenn man sich die Zahlen von letzter Woche anguckt, was da geleistet wurde, dann zeigt das, dass das System der Niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte leistungsfähig ist und das schaffen kann. Voraussetzung ist, dass genug Nachschub kommt. Die immer gern genannten Impfzentren, die ja auch gut funktioniert haben, dazu muss man wissen, es sind die gleichen Menschen, die da gearbeitet haben. Im Hamburger Impfzentrum waren 90 Prozent unserer niedergelassenen Haus- und Fachärzte. Zahnärzte wissen mit der Spritze umzugehen, bei den Apothekern bin ich mir unsicher. Im Impfzentrum hatten wir den Notarzt immer vor Ort und da ging es nicht um große Impfzwischenfälle, sondern um Angst vor Spritzen, um Ohnmacht, die ganz normalen Dinge. Was Sinn machen kann, ist, dass ein angelernter Apotheker in einem Impfzentrum mitarbeitet.

Aber wenn wir möglicherweise bald eine vierte Impfung brauchen. Reicht die Infrastruktur dann aus?

Heinrich: Es muss ausreichen. Ich bin da ganz zuversichtlich. Wenn man jetzt natürlich die Zeit zum Boostern verkürzt, werden es natürlich noch mehr Impfkandidaten. Bis Jahresende steht uns aber nicht mehr Impfstoff zu Verfügung, das nützt es auch nichts, wenn ich noch mehr Leute zu Impfberechtigten erkläre.

Der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (l, CDU) besucht mit Sozialsenatorin Melanie Leonhard das Impfzentrum und das Team um Dirk Heinrich
Der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (l, CDU) besucht mit Sozialsenatorin Melanie Leonhard das Impfzentrum und das Team um Dirk Heinrich © dpa | Daniel Reinhardt

Omikron: "Worst-Case-Szenarien überlegen"

Womit rechnen Sie in den kommenden Wochen, was die Ausbreitung der Virusvariante Omikron betrifft?

Heinrich: Man muss sich Worst-Case-Szenarien überlegen. Omikron ist nach bisherigem Wissen deutlich infektiöser als die Delta-Variante. Was wir nicht genau wissen: Wie krankmachend ist Omikron? Die Südafrikaner sagen: Es wird seltener zu schweren Verläufen führen. Oder ist es, wie die Briten sagen? Also vergleichbar mit Delta? In Südafrika sind etwa 30 Prozent geimpft, ein Großteil des Rests hatte Corona durchgemacht – aber möglicherweise schon 2020. Wie gut ist deren Immunstatus? In Großbritannien haben Sie viele Geimpfte, viele Genesene, aber die haben zwei oder drei Monate vor uns angefangen zu impfen. Der Immunstatus der Masse ist ein anderer als in Deutschland. Dort wurde vor allem mit Astrazeneca geimpft, in Deutschland weitgehend mit mRNA-Impfstoff. Diese Variablen machen es schwer zu kalkulieren, wie eine Infektionswelle durchschlägt, mit der ich rechne. Richtig ist es, mit dem Schlimmsten zu rechnen und sich darauf vorzubereiten.

Reichen die derzeitigen Kontaktbeschränkungen dazu aus?

Heinrich: Ich denke, dass die jetzt ergriffenen Maßnahmen an Kontaktbeschränkungen das Mindeste sind, was man jetzt tun muss. Ich würde jedem raten, über die Feiertage sich auf die allerwichtigsten Kontakte zu beschränken. Auch Geimpfte sollten sich in jedem Fall testen, bevor sie vulnerable Menschen aufsuchen: Oma und Opa, Immungeschwächte, Krebserkrankte. Und man sollte sich möglichst mit denselben Leuten treffen, nicht heute hier fünf und morgen andere fünf oder zehn.

„Ruhe bewahren und froh sein, dass wir Impfstoff haben“: Dr. Dirk Heinrich, Leiter des Impfzentrums, war auch Experte für den Hamburger Senat.
„Ruhe bewahren und froh sein, dass wir Impfstoff haben“: Dr. Dirk Heinrich, Leiter des Impfzentrums, war auch Experte für den Hamburger Senat. © Roland Magunia

Novavax-Impfstoff: "Warten hat keinen Sinn"

Über die Wirkung der Impfstoffe gibt es viele Diskussionen. Sie haben sie in den vergangenen zwölf Monaten inklusive neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse eng verfolgt. Was weiß man über die mRNA-Vakzine Biontech, Moderna über das neue Novavax, über das Boostern?

Heinrich: Von Novavax kennen wir das Wirkprinzip, es ist konventionell hergestellt und ist proteinbasiert. Was drin ist, ist künstlich hergestellt. Das ist kein Totimpfstoff, er enthält keine abgetöteten Virenbestandteile von Corona. Es ist aber vielleicht gut geeignet, die zu überzeugen, die mRNA-Impfstoffe „irgendwie gentechnisch“ nennen, was ja so nicht stimmt. Aber wir können nicht einschätzen, wie Novavax wirkt. Biontech und Moderna hingegen wurden milliardenfach angewendet. Man kann mit großer Sicherheit sagen, dass keine schwerwiegenden Impfreaktionen oder Nebenwirkungen aufgetreten sind. Dieser Impfstoff verhindert auch bei Omikron schwerwiegende Verläufe. Und wir wissen, dass er nach der Boosterung für einen großen Teil auch Infektionen verhindert. Bei einer vierten Impfung nach weiteren sechs oder neun Monaten wird der mRNA-Impfstoff an Omikron angepasst sein.

Was sagen Sie denen, die jetzt auf Novavax warten?

Heinrich: Warten hat keinen Sinn.

Aber Impfskeptiker können warten?

Heinrich: Nein! Aber besser ist, ein paar Tage zu warten und sich impfen zu lassen, als ganz aufs Impfen zu verzichten.

Sind Sie diese Diskussion leid?

Heinrich: Ja, natürlich, ich hatte letztens ein einstündiges Streitgespräch mit einer Pflegekraft, die ihr Pflegeheim verlassen wollte, weil die Impfpflicht kommt. Es gibt die Ängste und, unfassbar, noch immer Informationsbedarf. Wir reden seit einem Jahr von Impfstoffen und ihrer Wirksamkeit!

Eine gute Impfkampagne – bis zum Boostern

Der Hamburger Senat hat sich in der jetzt genau ein Jahr laufenden Impfkampagne immer wieder zögerlich gezeigt. Als Sie im Impfzentrum Sprecher der medizinischen Leiter waren, haben Ärzte die Politik gedrängt, früher die Priorisierung fallen zu lassen, als ausreichend Impfstoff da war, früher die aufwendige Terminvergabe abzuschaffen, früher an das Boostern zu denken. Der Senat war diesen Gedanken nicht immer aufgeschlossen. Was erwarten Sie heute von der Politik in Hamburg und Berlin?

Heinrich: Wir haben eine sehr gute Impfkampagne – bis es mit dem Boostern losging. Es gab eine große Einigkeit: Wer wird geimpft, wann, mit welchen Abständen? Die Ständige Impfkommission (Stiko) war auf der Bundesebene das Maß aller Dinge – bei aller Kritik, dass das nicht die schnellste Organisation ist. Aber Wissenschaft und Politik im Gleichklang, das war sehr gut. Mit dem Boostern wurde die Stiko in Frage gestellt. Einige Bundesländer boostern schon nach fünf Monaten, eines nach vier Wochen. Das war ein politischer Wildwuchs, der der Impfkampagne geschadet hat. Da wurde das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger gestört. Der Hamburger Senat war da ganz vernünftig, weil er sich an die Stiko gehalten hat.

Corona-Impfzentrum Hamburg, letzter Tag. Dr. Dirk Heinrich macht Selfies mit Mitarbeitern.
Corona-Impfzentrum Hamburg, letzter Tag. Dr. Dirk Heinrich macht Selfies mit Mitarbeitern. © Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Es ist Weihnachtszeit: Sie haben einen Wunsch frei an den Senat.

Heinrich: Ich habe einen Wunsch an alle, die für das Impfen verantwortlich sind: Wir müssen jeden Tag einen drauflegen. Das Impfen ist kein Marathon, sondern ein Triathlon. Wir sind jetzt beim Radfahren und müssen den Marathon noch machen. Außerdem reden alle über die Pflege, das ist auch gut so. Aber 90 Prozent aller Corona-Patienten werden von niedergelassenen Praxen versorgt. Wir machen die Tests, die Abstriche, wir sind jeden Tag mit Corona konfrontiert. Da nimmt man hin, dass sich die Medizinischen Fachangestellten (MFA) aufopfern, den ganzen Mist am Telefon ertragen, Überstunden machen, am Wochenende arbeiten. Im Koalitionsvertrag stehen drei Seiten über Pflegebonus, Steuerfreiheit und so weiter. Alles gut. Nur man vergisst den Teil, auf dem die Hoffnung ruht, die Pandemie zu beenden: die Praxen. Die Intensivstationen beenden nicht die Pandemie. Die wären froh, wenn die, die impfen, das noch besser durchziehen könnten. Und da hilft Motivation durch einen Bonus für unsere MFA.

Können Sie Ihren MFAs Sonderurlaub gewähren?

Heinrich: Es ist nicht möglich, das in Freizeit auszugleichen. Der Impfstoff ist nicht geeignet, „nebenbei“ zu impfen. Wir haben keine Einmalspritzen. Meine eigenen Patienten kann ich boostern nach dem Motto: Arm frei, Spritze rein, Wiedersehen. Wenn Sie auch andere impfen, hat man alles an Bürokratie: Anamnesebogen, Einwilligung. Also habe ich da mit jedem eine Viertelstunde Aufwand – mindestens. Unsere MFA machen viele Überstunden und die bezahlen wir natürlich.

Wenn Sie auf die Zeit im Impfzentrum zurückschauen und auf das Feedback, das Sie alle bekommen haben, was geht Ihnen da durch den Kopf?

Heinrich: Das löst in mir nur gute Gefühle aus. Das war eine intensive und schöne Zeit, mit Menschen zusammenzuarbeiten, hochmotiviert, die alle mitgerissen haben und mit Impflingen, die sehr dankbar waren. Die Impfdrängler und unschönen Dinge hat der Mantel der Geschichte überdeckt. Aber das Impfen geht weiter, für mich in meiner Praxis, im Gesundheitskiosk Billstedt. Wir müssen nach wie vor Gas geben.