Hamburg. Beinahe täglich gehen beim Rettungsdienst in Hamburg so viele Notrufe ein wie früher nur zu Silvester. Kommt die Lösung aus Bremen?
Immer mehr Hamburger wählen den Notruf 112 der Feuerwehr wegen Bagatellen an, die keine Notfälle sind. Derzeit gehen zwischen 1100 und 1500 Alarmierungen jeden Tag ein – so viele wie in früheren Jahren zu Silvester. Für echte Notfälle stehen diese Rettungswagen mit je einem Notfall- und einem Rettungssanitäter oder -sanitäterin an Bord dann nicht zur Verfügung.
Der Blick auf die Disposition der Feuerwehr zeigt: Überall im Stadtgebiet sind an diesem Morgen Rettungswagen unterwegs. In Hoheluft-Ost klagt jemand über Atemnot, woanders soll ein Patient von seiner Arztpraxis ins Krankenhaus gebracht werden. Allein zwischen Mitternacht und 12 Uhr sind es bereits 307 Einsätze mit dem Rettungswagen, insgesamt mehr als 420 Einsätze.
Feuerwehr Hamburg hat „eine Zunahme an Alarmierungen"
„Wir haben eine Zunahme an Alarmierungen, die sich in den vergangenen Monaten noch einmal verschärft hat. Wir beobachten ein Verhalten bei vielen, dass in der modernen Dienstleistungsgesellschaft jede Leistung sofort abrufbar ist. Ähnlich wie beim Pizzalieferdienst überträgt sich das auf die Notfallrettung“, sagt Godo Savinsky, Ärztlicher Leiter Rettungsdienst bei der Feuerwehr Hamburg. „Es steigen die Notrufe von Menschen, die sich kranker darstellen, als sie sind.“ Sie fühlen sich wie ein Notfall und erwarten, dass sich sofort jemand kümmert.
Diese Anspruchshaltung gehe einher mit einer sinkenden Gesundheitskompetenz. „In der Vergangenheit hat die Oma mit Hausmitteln geholfen oder einen Wadenwickel gemacht“, so Savinsky. Er erlebt, dass Menschen zum Beispiel den Notruf wählen, weil sie Kopfschmerzen haben oder weil der Fuß wehtut, den man sich vor vier Tagen gestoßen hat. „Wir haben als Feuerwehr immer dafür geworben, in Notfällen – bei Herzinfarkt- oder bei Schlaganfallverdacht – die 112 zu wählen.“ Der Bürger nehme das nun auch wahr. Aber eben auch bei leichten Erkrankungen.
Diskussionen mit Patienten kosten zusätzlich Zeit
Auch die beiden anderen Säulen der Notfallrettung in Hamburg – der Notdienst der Kassenärztlichen Vereinigung 116 117 und die Notaufnahmen in den Krankenhäusern – melden eine Zunahme von Patienten mit weniger dringlichen medizinischen Problemen, sagt Feuerwehrsprecher Jan Ole Unger. „Unsere Rettungswagen sind seltener an der Wache einsatzbereit und häufig auf der Straße.“ Das sei auch für die Mitarbeiter eine hohe Arbeitsbelastung. Vor Ort bei den anrufenden Patienten stellt sich die als Notfall geschilderte Situation oftmals als nicht bedrohlich dar.
Müssen die Patienten dann in ein Krankenhaus, verlangten sie häufig, in eine bestimmte Klinik gebracht zu werden. „Diese Diskussionen kosten wieder Zeit. Dabei ist der Rettungsdienst angehalten, das nächstgelegene geeignete Krankenhaus anzufahren“, sagt Savinsky, Ohnehin sei es so, dass Rettungswagen auch immer wieder von Krankenhäusern abgewiesen würden, da die dortigen Kapazitäten in den Notaufnahmen erschöpft sind. Damit sind die Fahrzeuge noch länger unterwegs und gebunden.
Feuerwehr Hamburg erwartet keine Engpässe
Nicht nur die niedrigschwelligen Einsätze, auch die Krankentransporte nehmen weiter zu, weil die dafür vorgesehenen rund 20 Unternehmen nicht alle Fahrten übernehmen können. „Die Krankentransporte sind in der Regel zeitaufwendiger und zum Teil mit Fernfahrten außerhalb Hamburgs verbunden“, so Jan Ole Unger.
Engpässe in der Notfallversorgung seien aber nicht zu erwarten. Die Feuerwehr verfüge über weitere Rettungsfahrzeuge, die zeitnah eingesetzt werden könnten. Aber es kann auch einmal länger dauern, ehe ein Rettungswagen (RTW) zur Verfügung steht. Vorgesehen ist, dass ein RTW spätestens acht Minuten nach der Notrufaufnahme und ein Notarzt innerhalb von spätestens 15 Minuten am Einsatzort ist. Das hat bei den 84 Rettungswagen im vierten Quartal 2020 zu lediglich 59 Prozent geklappt, bei den zehn Notarztfahrzeugen zu 91 Prozent.
Patienten erhoffen sich schnellere Behandlung
Ähnlich sieht es Martin Nordt, stellvertretende Leitung Personal und Einsatz beim Ambulanzdienst des Deutschen Roten Kreuz Harburg: „Neben Corona ist auch die Belastung der Mitarbeitenden durch unnötige Notrufe problematisch. Patient und Patientinnen erhoffen sich dadurch häufig eine schnellere Behandlung, aber entnehmen so auch wichtige Ressourcen.“
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Godo Savinsky wünscht sich, dass die drei Säulen des Rettungsdienstes noch weiter miteinander vernetzt werden und eventuell weitere Säulen, also Rettungsangebote, hinzukommen. Er denkt dabei an das Beispiel der Gemeindenotfallsanitäter. Erste Pilotprojekte gibt es in Niedersachsen. Die Idee: Die Einsätze werden über die Leitstelle gesteuert, sodass bei klassischen Notfällen nach wie vor der Rettungsdienst kommt.
Vorbild für Hamburg: der Hanse-Sani aus Bremen
In anderen Fällen aber könnte ein speziell weitergebildeter Notfallsanitäter übernehmen, eben dann, wenn kein Notfall zu bestehen scheint. Vor Ort greift der Gemeinde-Notfallsanitäter auf ein Netzwerk von verschiedenen Ansprechpartnern zurück, etwa zum Hausarzt oder einem Telemediziner in der Leitstelle, falls es Unklarheiten bei medizinischen Entscheidungen gibt.
Auch in Bremen gibt es ein ähnliches Modellprojekt: Der „Hanse-Sani“ soll zum Einsatz kommen, wenn sich herausstellt, dass bei einem Notruf keine Lebensgefahr besteht und der Betroffene nicht ins Krankenhaus muss – der Patient also zu Hause durch den ärztlichen Bereitschaftsdienst oder beim Hausarzt am nächsten Tag behandelt werden kann.