Hamburg. Jens Prütting hält eine allgemeine Corona-Impfpflicht für möglich. Der Juraprofessor erklärt warum – und was dafür spricht.
Die Corona-Lage ist ernst: Bundesweit steigt die Sieben-Tage-Inzidenz weiter, die Auslastung der Krankenhäuser erhöht sich – und nun kommt noch die neue Omikron-Variante hinzu. Womöglich reichen Beschränkungen wie 2G bald nicht mehr.
Aber könnte die Politik dafür sorgen, Impflücken mit rechtlichen Mitteln zu schließen? Darüber sprach das Abendblatt mit Prof. Jens Prütting, Direktor des Instituts für Medizinrecht an der Hamburger Bucerius Law School.
Hamburger Abendblatt: Es mehren sich Rufe nach einer allgemeinen Corona-Impfpflicht. Doch die ist umstritten. Wie sind deutsche Gerichte bisher mit ähnlichen Situationen umgegangen?
Jens Prütting: Noch bis in die 1970er-Jahre mussten Kinder im ersten Jahr nach ihrer Geburt gegen Pocken geimpft werden. Das ging zurück auf ein bereits 1874 eingeführtes preußisches Impfgesetz. Dieses hatte auch nach der Gründung der Bundesrepublik noch Bestand und war Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen. So befand der Bundesgerichtshof, dass kein ernst zu nehmender Eingriff durch das Impfen vorliege und der Schutz für Kinder vorrangig sei. Im Jahr 2019 wurde eine Masernimpfpflicht beschlossen etwa für Kinder und Betreuer in Kitas und Schulen sowie für bestimmtes medizinisches Personal, was das Bundesverfassungsgericht akzeptiert hat. Diese beiden Beispiele zeigen, dass die höchsten deutschen Gerichte davon ausgehen, dass eine Impfpflicht grundsätzlich möglich ist.
Ist eine Corona-Impfpflicht mit dem Grundgesetz vereinbar?
Prütting: Sie ist möglicherweise damit vereinbar. Wir sind an dem Punkt angekommen, wo sie durchsetzbar wäre, wenn es staatlich gewollt wäre. Es ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Wir müssten eine Abwägung vornehmen. Auf der einen Seite wären von einer allgemeinen Corona-Impfpflicht betroffen die körperliche Unversehrtheit, das Erziehungsrecht der Eltern und womöglich auch die Glaubens- und Religionsfreiheit – all das garantiert unser Grundgesetz. Auf der anderen Seite müssen wir uns anschauen, was auf dem Spiel steht. Zu Beginn der Pandemie hatten wir sehr wenige Erkenntnisse dazu.
Damals hätte man ...
Prütting: … auf keinen Fall eine Impfpflicht durchsetzen können. Mittlerweile haben wir aber erhebliche Erfahrungen mit Corona. Sehr viele Menschen mussten in Krankenhäusern und auf Intensivstationen behandelt werden, viele Menschen sind gestorben. Wir wissen nun, dass Corona sehr leicht übertragbar ist und sich extrem schnell ausbreitet, wobei neue, ansteckendere Varianten entstanden sind. Wir müssen mittlerweile im Gesundheitswesen eine Reihe von dringend notwendigen Behandlungen zurückstellen, ja teilweise unterlassen, weil das Personal zu stark in Anspruch genommen wird von Corona-Patienten. Das ist ein gigantisches Problem. Wir merken, dass die gesamte Funktionalität des Staates und der Wirtschaft dermaßen darunter leidet, dass demgegenüber der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte durch eine Corona-Impfpflicht überschaubar ist. Irgendwann kommt eine Grenze, an dem dieser Eingriff weit hinter dem zurückbleibt, was auf der anderen Seite droht. Aus den Abwägungen in der Vergangenheit heraus und mit Blick auf die aktuelle Lage würde ich sagen: Diese Grenze ist überschritten.
Sind mildere Mittel nicht besser geeignet? Warum nicht weiterhin auf Freiwilligkeit und Überzeugungsarbeit bei Corona-Impfungen setzen?
Prütting: Wir haben das lange versucht. Es klappt bei erheblichen Teilen der Bevölkerung leider nicht. Mein Eindruck ist: Diejenigen, die sich um keinen Preis impfen lassen wollen, gehen auf keinen Diskurs mehr ein und sind für wissenschaftliche Argumente nicht zugänglich.
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Wie sähe das rechtliche Vorgehen aus, um eine allgemeine Impfpflicht durchzusetzen?
Prütting: Das Bundesgesundheitsministerium könnte eine Rechtsverordnung für Teile der Bevölkerung oder für alle erlassen. Dem müsste allerdings der Bundesrat zustimmen. Machbar wäre das wohl innerhalb von wenigen Tagen oder Wochen. Im Notfall, wenn sich etwa die neue Omikron-Variante als besonders bedrohlich herausstellte, ließe sich die Zustimmung des Bundesrats sogar aufschieben, und es könnte sehr schnell gehen. Solange das Bundesgesundheitsministerium keine solche Verordnung beschlösse, dürften die Regierungen der Bundesländer eine Impfpflicht in ihrem Land erlassen. Ähnlich wie bei der Masernimpflicht würde ich allerdings dringend empfehlen, dass der Bundestag beschließt, dem Infektionsschutzgesetz einen Absatz hinzuzufügen, in dem die Corona-Impflicht festgeschrieben wird, und dabei zu begründen, warum er mit dieser Maßnahme einen legitimen öffentlichen Zweck verfolgt, der geeignet und erforderlich sowie angemessen ist.
Wenn es eine allgemeine Corona-Impfpflicht gäbe – welche Konsequenzen hätte dies für Verweigerer?
Prütting: Es würde sicherlich empfindliche Bußgelder geben. Denkbar wären zudem andere Sanktionen wie ein zeitlich begrenztes Arbeitsverbot. Für ausgeschlossen halte ich hingegen, dass man anordnete, Verweigerer gegen ihren Willen zwangsweise zu impfen.