Hamburg. Im März 2005 musste Jessica (7) qualvoll sterben. Rechtsmediziner Klaus Püschel erinnert sich im Crime-Podcast mit Schrecken.

Es ist etwas geschehen, was wohl die meisten für nicht möglich gehalten haben: Ein kleines Kind ist verhungert, mitten in Hamburg. Die sieben Jahre alte Jessica, die am 1. März 2005 starb, hat über lange Zeit unendliche Qualen erleiden müssen. Es ist ein Schicksal, das auch für Menschen, die sich beruflich viel mit Schmerz und Leid auseinandersetzen müssen, nur schwer zu ertragen ist.

„Als Rechtsmediziner, vor allem, wenn man den Beruf mehr als 40 Jahre ausübt wie ich, hat man viel gesehen und viel erlebt“, sagt Prof. Klaus Püschel im Abendblatt-Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ mit Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher. „Aber dass eine Siebenjährige verhungert, in unserer doch wohlhabenden Stadt und dazu noch in ihrem Elternhaus, das hat auch mich berührt und schockiert.“

Mutter: "Jessica bekam doch Schokoladenpudding"

„Ich erinnere mich noch gut, wie die Mutter als Angeklagte im Prozess davon erzählt hat, dass sie ihre Tochter regelmäßig mit Schokoladenpudding und Brei gefüttert habe“, erzählt Mittelacher. „Dass ihr Kind drei Mahlzeiten täglich erhalten habe. Bis zum Schluss. ,Bis das passiert ist‘, formulierte die Mutter. ,Passiert‘ – so als wäre der grausige Hungertod ihrer Tochter Jessica ein überraschendes Ereignis gewesen, ein Unglücksfall.“ Dabei war es Mord. Der Tod der Siebenjährigen wurde ausgelöst durch Vernachlässigung und Mangel an Nahrung und Flüssigkeit, aus Grausamkeit und Hass, verursacht von den eigenen Eltern. Jessica wurde von Mutter und Vater wie eine Gefangene gehalten. Sie war in einem abgedunkelten, ungeheizten Zimmer eingesperrt.

„Als wir Rechtsmediziner den Tatort inspiziert haben, bot sich ein extrem erschütternder Anblick“, schildert Püschel. „Die Siebenjährige war dürr bis auf die Knochen.“ Darüber hinaus hatte sie unter anderem eine verkümmerte Muskulatur und brüchige Knochen. Wieso wurde ihr das alles angetan? Mit dem Umzug der Familie nach Hamburg-Jenfeld begann Jessicas Isolation. Auch als sie am 1. August 2004 schulpflichtig wurde, gelang es den Eltern, ihr Kind weiterhin zu isolieren und einzusperren.

Zuletzt verhängte die Schulbehörde ein Bußgeld in Höhe von 60 Euro wegen einer Schulpflichtverletzung. Danach stellten die Behörden ihre Bemühungen komplett ein, weil davon ausgegangen wurde, dass die Familie weggezogen sei.

Jessicas Tod: Prozess vor Hamburger Schwurgericht

Im November 2005 beginnt vor dem Hamburger Schwurgericht der Prozess gegen Jessicas Eltern. Die Staatsanwaltschaft wirft der Mutter und dem Vater Mord durch Unterlassen vor sowie Misshandlung von Schutzbefohlenen. Der Vater macht im Prozess keine Aussage. Bei der Polizei hatte er noch gesagt, er habe seine Tochter „Ende 2004 oder Anfang 2005 zuletzt gesehen“. Er habe gesehen, dass sie dünn war. „Wir haben beide gleich schuld“, formulierte er.

Damit meinte er Jessicas Mutter und sich selber. Marlies S. sagt über ihre Tochter, dass Jessica kein Wunschkind gewesen sei. Dass sich das Mädchen zunächst ziemlich normal entwickelte, dass es laufen konnte und sprechen. Später habe ihre Tochter nicht mehr hinausgehen wollen. Sie habe Jessica regelmäßig gefüttert. Doch das Mädchen habe das Essen meist verweigert. Der Vorsitzende fragt die Angeklagte, was sie in Bezug auf ihre Tochter falsch gemacht habe? „Alles!“

Jessica verstarb an ihrer letzten Mahlzeit

„Das Makabere ist: Jessica ist an ihrer letzten Mahlzeit verstorben“, berichtet Püschel. „Der Darm des Mädchens war mit Kot verschlossen. Aber ausgehungert, wie sie war, hat sie das Essen, das ihr jetzt angeboten wurde, heruntergeschlungen. Es gelangte in den Magen, konnte aber dort nicht weitertransportiert werden. Das Mädchen erbrach sich, die Speisereste gerieten in Lunge und Bronchien. Jessica erstickte. In diesem Fall war also die letzte Mahlzeit nicht etwa eine letzte gute Tat, sondern gewissermaßen der Nagel zum Sarg.“ Das Gericht verhängt für beide Angeklagten schließlich eine lebenslange Freiheitsstrafe. Nicht zuletzt sind auch die Erkenntnisse aus der Rechtsmedizin maßgeblich entscheidend dafür, dass Jessicas Tod als „grausam“ eingeschätzt wird, ein für die Qualifizierung der Tat als Mord entscheidendes Merkmal.

Der Vorsitzende Richter sagt in der Urteilsbegründung: „Eine Handlung wie diese übersteigt die Vorstellungskraft.“ Das Geschehene sei furchtbar und grausam. Beide Angeklagten hätten gewusst, dass ihre Tochter nach dauerhafter grober Vernachlässigung und unzureichender Versorgung sterben würde. „Es war ein schleichender Prozess, der zum Tode von Jessica führte. Die Angeklagten erkannten dies und haben es billigend in Kauf genommen“, sagte der Richter. Lieber hätten sie Zeit für ihre Vergnügungen haben wollen. Zusätzlich zu der körperlichen Vernachlässigung des Opfers sei mehr und mehr die seelische Qual für das Kind gekommen, sagt der Richter. Es handele sich auch um seelische Folter. „Eine solche Tat macht auch ein Schwurgericht ratlos.“