Hamburg. Das Eckhaus ist das letzte seiner Art an der Straße. Bewohner sind auf günstige Mieten angewiesen und leiden unter der Ungewissheit.

Das 1898 errichtete Eckhaus ist das älteste Gebäude an der Zeughausstraße. Mit seinen Stuckornamenten, Zierleisten und Fensterbögen ist es das letzte Zeugnis der verspielten Gründerzeitbebauung, die hier, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Michel, einst ganze Straßenzüge einnahm. Das meiste davon wurde im Krieg zerstört. Die Neubauten, die das Eckhaus heute umgeben, bestehen aus Backstein und greifen damit die Farbigkeit des Abraham-Philipp-Schuldt-Stifts auf, das zwischen Zeughausstraße und Neumayerstraße bezahlbare Wohnungen bietet. Die werden im Quartier immer seltener.

Auch die 26 Wohnungen im Eckhaus Zeughausstraße 42–44 sind überwiegend günstig. Mancher zahlt nur 6 bis 7 Euro pro Quadratmeter. Nicht, weil es Sozialwohnungen sind, sondern weil die Mieter dort teils schon mehr als 40 Jahre leben. Etwa Rüdiger Stange (77), der noch einen Mietvertrag von 1972 hat, und seine Tochter Tanja (50), die in den 90er-Jahren in die 59-Quadratmeter-Wohnung zurückkehrte, um ihre Mutter zu pflegen, und nach deren Tod dort wohnen blieb.

Wohnen in Hamburg: Eigentümer wollen Haus abreißen

Der ehemalige Lagerfacharbeiter und die Bücherhallen-Angestellte, die nur noch Halbzeit arbeiten kann, sind auf die günstige Miete angewiesen. 366 Euro Miete zahlen sie, plus Nebenkosten. Seit 2019 das baugleiche Nachbarhaus abgerissen wurde, fallen 200 Euro mehr an im Monat, für die Nachtspeicherheizung. „Wir hoffen, dass die Ausgaben wieder sinken, wenn der Neubau nebenan steht“, sagen die Stanges und alle Nachbarn, deren Wohnungen Außenwände zur Baulücke haben.

Momentan treiben sie aber ganz andere Sorgen um. Existenzsorgen. Denn vor wenigen Wochen haben sie durch Medienberichte erfahren, dass der Eigentümer ihr Haus abreißen will. Über den entsprechenden Antrag konnte im Bezirksamt jedoch wegen fehlender Unterlagen noch nicht entschieden werden. „Reicht er sie bis Ende Oktober festgerecht ein, gibt es keinen Grund, den Antrag abzulehnen“, befürchten die Nachbarn.

Mieter protestierten schon vor dem Bezirksamt Mitte

Nie hätten sie gedacht, dass sie sich mal mit baurechtlichen Fragen beschäftigen müssten. Doch mittlerweile sind sie Experten und wissen, dass in ihrem Fall weder Milieuschutz noch eine soziale Erhaltungsverordnung greifen würde, auch denkmalgeschützt ist das Haus wegen eines Kriegsschadens nicht.

Dennoch hat Tanja Stange gerade bei der Kulturbehörde seine Unterschutzstellung beantragt, denn hier lebten der Maler Hans Wrage und der 1944 hingerichtete Widerstandskämpfer Erich Heins. Auch haben die Mieter schon vor dem Bezirksamt Mitte protestiert, für die nächsten Tage ein Treffen mit dem Mieterverein arrangiert und überlegen, ein Bürgerbegehren anzuschieben.

„Wo sollen wir denn hin?“

„Wo sollen wir denn hin?“, fragen sich neben den Stanges auch Helge und Jan Bunge (69 und 72), deren Mietvertrag 44 Jahre alt ist, und Doris Köhler (77), die mit ihrem Mann seit 42 Jahren in dem Haus lebt. Die meisten Wohnungen in der Gegend wären für sie unbezahlbar: An der Neumayerstraße etwa koste eine 80-Quadratmeter-Neubauwohnung 1200 Euro kalt.

Zwar werde auch dort ein Drittel des Wohnraums öffentlich gefördert – aber das betreffe nur 13 oder 14 Wohnungen. Auch jüngere Mieter wie der freiberufliche Fotodesigner Andreas Ahnemann, der seit 20 Jahren an der Zeughausstraße 42 wohnt, und Studentin Angelique Buchwald, die mit ihrem Freund vor sieben Jahren eingezogen ist, möchten nicht weg. „Wir zahlen für unsere sanierte Wohnung 1100 Euro warm“, sagt die 31-Jährige. „Das gibt es in dieser Gegend sonst kaum.“

„Das Schlimmste ist die Ungewissheit“

Insbesondere die Älteren haben große Angst davor, dass die Gemeinschaft auseinandergesprengt werden könnte. Denn der Zusammenhalt unter den Mietern ist groß. Viele von ihnen feiern zusammen Geburtstage, Weihnachten und Silvester. Und das seit Jahrzehnten. „Das Schlimmste ist die Ungewissheit“, sagen die Nachbarn. Denn vom Eigentümer oder der Hausverwaltung haben sie immer noch nichts gehört.

Seit zehn Jahren gehört die Immobilie einem Hamburger Familienunternehmen, das laut Mietern in dieser Zeit „nur Flickschusterei, aber nie eine ernsthafte Sanierung betrieben“ habe. Auf Abendblatt-Nachfrage äußert sich lediglich die Hausverwaltung Alsterufer, die das Projekt seit 2016 betreut. Derzeit seien Schreiben an die Mieter unterwegs.

Kernsanierung bei Gebäude nicht möglich

Man bedauere, dass durch die Medienberichte bei den Mietern Sorgen und Ängste hervorgerufen worden seien, und wolle sie nun aus erster Hand informieren, so HVA-Geschäftsführerin Heike Grahlmann. In dem Schreiben erwähnt die Verwaltung die marode Bausubstanz, die eine Kernsanierung unmöglich mache – zumal auch dafür die Mieter das Gebäude verlassen müssten.

Daher präferiere man in Absprache mit dem Eigentümer „einen zeitgemäßen, nachhaltigen Ersatzbau“ – in der Art, wie ihn das städtische Wohnungsunternehmen Saga auf dem Nachbargrundstück plant. Bis 2023 sollen dort 20 Wohnungen entstehen, in die Mieter aus dem Nachbarhaus temporär oder dauerhaft ziehen könnten; entsprechende Gespräche mit der Saga liefen bereits.

Wohnen in Hamburg: Mieter bekommen Rückkehrrecht

Alternativ würden den Mietern Wohnungen aus dem HVA-Bestand angeboten, Mietdifferenzen ausgeglichen und Umzugskosten bezahlt. Wie die HVA betont, entwickle sie einen Teil der Wohnungen öffentlich gefördert, obwohl das erst ab 30 Wohneinheiten verpflichtend sei. Alle Mieter hätten zudem ein Rückkehrrecht und könnten bei der Grundriss- und Fassadengestaltung mitreden. Mit einem Abriss vor Ende 2023 müssten sie aber nicht rechnen.