Hamburg. Stefan Kluge fordert mehr Angebote in besonders betroffenen Stadtteilen und gibt Einblicke in die Lage auf den Intensivstationen.
Auf den ersten Blick scheint die Lage paradox: Zwar sinkt die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Hamburg, gleichzeitig ist in den vergangenen Wochen eine relativ große Zahl von Patientinnen und Patienten an oder mit Covid-19 verstorben. Allein am Dienstag meldeten die Behörden sechs neue Todesfälle, am Mittwoch vier weitere Verstorbene.
Einer der Menschen, die ihrer schweren Erkrankung erlagen, war beispielsweise ein Familienvater mit Kindern, im Alter von Mitte 40. Er war stark übergewichtig – ein gravierender Risikofaktor bei Corona. Ein solcher Tod geht auch den Ärzten und Pflegern nahe, die die Kranken betreuen. Fassungslos aber macht sie, wie viele Menschen sich noch immer nicht impfen lassen.
Corona in Hamburg: Tote meist nicht geimpft
„Rund 80 Prozent der Menschen, die wegen Corona auf einer Intensivstation behandelt werden, sind nicht oder nicht vollständig geimpft“, sagt Prof. Stefan Kluge, Chef der Intensivmedizin am UKE. Die übrigen 20 Prozent hätten zumeist Vorerkrankungen, die die Immunantwort ihres Körpers reduziere – wie beispielsweise Krebs oder eine Organtransplantation. Auch die meisten Hamburger Patienten, die an Corona verstorben sind, hätten keine vollständige Impfung gehabt.
Irritiert ist Kluge immer wieder über die Begründungen, die er und seine Kollegen zu hören bekommen, wenn sie die Patientinnen und Patienten fragen, warum sie sich nicht haben impfen lassen. „Die meisten von ihnen geben an, sie hätten Angst vor den Nebenwirkungen gehabt, wollten noch warten, oder seien einfach nicht dazu gekommen“, so der Mediziner.
Viel zu viele Ältere in Hamburg nicht geimpft
Verstehen kann er das nicht: „Bei einer 16-jährigen geht es bei einer Impfung immer um die Abwägung zwischen dem persönlichen Nutzen und den möglichen Risiken, aber bei den 80-Jährigen, den 60-Jährigen oder den 40-Jährigen, die vielleicht übergewichtig sind, sind die Vorteile einer Impfung so groß, dass man wirklich nicht nachvollziehen kann, wenn sie sich nicht immunisieren lassen“, so Kluge. Er habe im Übrigen noch nie einen Impfgegner sagen hören, dass er sich zwar nicht impfen lasse, dafür aber auch dann kein Intensiv-Bett in Anspruch nehmen werde.
Viel zu viele über 60-Jährige seien noch nicht geimpft. „Dabei spielen in vielen Fällen ein Migrationshintergrund oder der soziale Status der Betroffenen eine wichtige Rolle“, so Kluge. Diese Menschen seien von den Aufrufen und der Aufklärung nur schwer zu erreichen, oftmals auch wegen der Sprachbarrieren. Zudem gebe es eine klare Korrelation zum Bildungsstand und den Wohnbedingungen.
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Impfaktionswochen noch nicht zufriedenstellend
Die jüngsten Impfaktionswochen, beispielsweise in Kirchen, Fußballstadien, Gemeindehäusern und der Elbphilharmonie, haben noch kein wirklich zufriedenstellendes Ergebnis gebracht, die Impfquote steige nur noch langsam, so Kluge. Stattdessen müsse es noch mehr mehrsprachige Impfaufrufe gerade in den besonders betroffenen Stadtteilen geben – und Impfangebote an jeder Straßenecke.
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Hier müsse man die Menschen dort abholen, wo sie sich aufhalten. Da gebe es auch seitens der Hamburger Behörden noch zu wenig Angebote. „Eigentlich brauchen wir an jeder Ecke einen Impfstand, vielleicht auch gezielt vor Supermärkten – einkaufen müssen wir schließlich alle.“
UKE-Arzt verärgert über Vorstoß von Gassen
Teilweise seien auch sehr alte Menschen noch nicht geimpft. So wie die über 80-jährige Hamburgerin, die derzeit intensivmedizinisch betreut werden muss. Sie und ihr Mann haben sich beide mit dem Coronavirus angesteckt, ihr Mann liegt derzeit auf einer Normalstation. „Aus Angst vor Nebenwirkungen“ haben sie sich nicht immunisieren lassen. Ein anderes Paar – ebenfalls beide über 80 – hatten vor einer anstehenden Auslandsreise keine Zeit gefunden, sich impfen zu lassen. Nun sind ebenfalls beide schwer erkrankt und liegen im Reiseland mit Corona im Krankenhaus.
Verärgert ist der Arzt über den Vorstoß von Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der das Ende aller Corona-Maßnahmen zum 30. Oktober gefordert hatte. „Das hat uns Intensivmediziner schockiert“, sagt Kluge. Er findet die Forderung sachfremd. „Wir wollen alle so wenig wie möglich Einschränkungen.“
Corona in Hamburg: Zahlen werden wieder steigen
Es sei aber klar abzusehen, dass es im Herbst und Winter wegen der kälteren Witterung und der Verlagerung des Lebens mehr in die Innenräume zu einem Anstieg der Corona-Zahlen kommen werde. „Da gehen Gassens Forderungen in die völlig falsche Richtung.“ Auch wenn sie nicht umgesetzt würden, sei der Schaden da, weil sie Impfzauderer weiter verunsicherten und Corona-Leugnern Auftrieb geben. Der Vergleich mit Großbritannien hinke nicht nur wegen der besseren Impfquote dort, sondern auch weil die Corona-Wellen dort – wie in Frankreich und Italien – sehr viel größer ausfielen, mehr Menschen erkrankten und somit nun als Genesene geschützt seien.