Hamburg. 36-Jährige soll ihrem Kind Beruhigungs- und Schlafmittel in hoher Dosis gegeben haben. Die Angeklagte bestreitet die Vorwürfe.
Warum? Warum tut eine Mutter ihrer kleinen Tochter so etwas an? Weshalb vergiftet eine Frau, die als liebevolle, aufopfernde Mutter wahrgenommen werden möchte, ihr Kind und riskiert damit sein Leben? Am Ende, als der Fall um die dramatischen Notfälle eines kleinen Mädchens nach Überzeugung des Gerichts geklärt ist, bleibt die Frage nach dem Motiv. Das kennt wohl allein die Täterin. Oder weiß noch nicht einmal Jennifer F. selber, warum sie ihrer Tochter Leid zufügte?
Was die Intensivkrankenschwester ihrem vier Jahre alten Kind antat, als sie ihm heimlich Schlaf- und Beruhigungsmittel in hoher Dosis verabreichte, war nicht nur gefährliche Körperverletzung. Es war auch versuchter Mord, entscheidet am Montag das Schwurgericht, vor dem sich Jennifer F. verantworten musste. Die Kammer verhängt deshalb vier Jahre und zehn Monate Haft gegen die angeklagte Mutter. Die Staatsanwaltschaft hatte sechs Jahre Freiheitsstrafe gefordert, die Verteidigung eine Bewährungsstrafe beantragt.
Mordversuch an Tochter: Mehrere Jahre Haft für Mutter
Die Entscheidung, gegen die Hamburgerin eine mehrjährige Freiheitsstrafe zu verhängen, bedeute unter anderen, dass drei Kinder im Alter von sieben, vier und zwei Jahren „für lange Zeit ihre Mutter als Familienmitglied verlieren werden“, betont der Vorsitzende Richter Matthias Steinmann in der Urteilsbegründung.
Es sei allerdings vor allem wichtig, das die Angeklagte erkenne, „was sie getan hat. Und sie muss herausfinden, warum sie das getan hat“. Die 36-Jährige müsse einsehen, dass sie jetzt Hilfe brauche. Zu dem Lernprozess, den Jennifer F. durchlaufen müsse, gehöre auch, „anzuerkennen, dass die Ärzte Mutter und Kind möglicherweise vor Schlimmerem bewahrt haben“.
Tochter vergiftet? Mutter bestritt Vorwürfe
Die Angeklagte selber hatte die Vorwürfe stets bestritten. Allein in ihrem letzten Wort hatte sie eine gewisse Einsicht angedeutet: „Wenn ich krank sein sollte, brauche ich Unterstützung, weil ich zu meiner Familie zurückwill“, hatte sie gesagt.
Will die Familie das auch? Als die Angeklagte den Gerichtssaal betreten hat, schauen einige im Zuschauerraum mit versteinerten Gesichtern nach vorn. Andere Angehörige und Freunde allerdings sind aufgestanden und haben mit den Händen Herzen geformt. Jennifer F. hat ihnen zugewinkt und Luftküsse geschickt, um sich dann Tränen aus den Augen zu wischen. Die dreifache Mutter weint noch viel an diesem Vormittag, ihr zierlicher Körper wird mitunter regelrecht durchgeschüttelt von Schluchzern.
Vierjährige bekam Schlafmittel in hoher Dosis
Es sind die Tränen einer Frau, die nach Überzeugung des Gerichts ihrer kleinen Tochter Schlaf- und Beruhigungsmittel in einer Dosis verabreichte, die die Vierjährige gefährdet haben. Eines der Präparate sei sogar potentiell lebensbedrohlich gewesen, weil es zu Atemstillstand führen kann.
Damit habe Jennifer F. den Tod ihrer Tochter letztlich billigend in Kauf genommen, betont Richter Steinmann. Als Merkmal für den versuchten Mord sieht die Kammer, dass die Krankenschwester ihrer kleinen Tochter gegenüber heimtückisch gehandelt habe. „Das Kind hat seiner Mutter vertraut.“
Tochter war schlapp und kaum ansprechbar
Begonnen hatte das Drama am 28. Dezember, nachdem Sophia (Name geändert) offenbar zu Hause vom Sofa gefallen war und über Kopfschmerzen geklagt hatte. Einige Zeit später brachte Jennifer F. ihre Tochter in die Notaufnahme des Krankenhauses Wilhelmstift, wo die Mutter von Schmerzen und Übelkeit der Tochter berichtete.
Am Abend plötzlich verschlechterte sich der Zustand des Mädchens dramatisch. Sophia war schlapp und kaum ansprechbar. Um auszuschließen, dass sie an einer Hirnblutung leiden könnte, wurde die Vierjährige ins UKE verlegt, wo ein MRT durchgeführt werden sollte, das keine Auffälligkeiten zeigte.
Am nächsten Tag erneut eine dramatische Zuspitzung: Nachdem das Kind am Nachmittag noch fröhlich gemalt und gespielt hatte, brach es plötzlich zusammen und wirkte leblos. Später zeigten die Analysen von Blut- und Urinproben: Dem kleinen Mädchen war unter anderem eine erhebliche Dosis des Schlafmittels Diazepam sowie ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht worden.
Nachdem sich ein Verdacht gegen die Mutter ergeben und weitere Ermittlungen diesen Verdacht erhärtet hatten, war Jennifer F. am 5. Februar verhaftet worden. Seitdem leben die drei Kinder allein beim Vater.
Mutter hatte als Krankenschwester Zugang zu Medikamenten
Als Täterin komme nur die Mutter in Betracht, ist das Gericht überzeugt. Die gelernte Krankenschwester habe Zugang zu den Medikamenten gehabt, deren Wirkung sei ihr bekannt gewesen. Zudem hätten sich die Notfälle immer dann ereignet, nachdem Jennifer F. zuvor mit ihrer Tochter allein war.
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Als Krankenschwester und Fachkraft sei die 36-Jährige sich der Gefährlichkeit ihres Tuns bewusst gewesen, erläutert Richter Steinmann. Eine verminderte Schuldfähigkeit liege nicht vor, hatte ein psychiatrischer Sachverständiger ausgeführt. Die Taten seien zudem „keine spontane Eingebung“ gewesen, so Steinmann. „Die Angeklagte hat sich die Mittel verschafft und mitgebracht.“ Es handele sich um ein geplantes Geschehen.
Zudem habe die 36-Jährige die Ärzte „bis zum Schluss vollkommen im Dunkeln gelassen“. Respekt verdienten die Mediziner, die die Symptome bei Sophia richtig erkannt und gedeutet hätten, Blut- und Urinproben analysierten sowie ein Drogenscreening durchführten.
Warum tut eine Mutter ihrer Tochter so etwas an?
Zu prüfen habe das Gericht ebenso gehabt, ob die Angeklagte sich ernsthaft bemüht habe, die Gefahr für ihr Kind zu verhindern. Dies wäre juristisch als sogenannter strafbefreiender Rücktritt zu werten. Doch dies treffe auf Jennifer F. nicht zu, macht der Vorsitzende deutlich. Als es ihrem Kind sehr schlecht ging, habe sie immer noch nicht offenbart, welches Präparat sie Sophia wann verabreicht hatte. „Sie hat ihr Herrschaftswissen nicht offenbart, obwohl es ihr möglich gewesen wäre.“
Warum aber tut eine Mutter ihrer Tochter so etwas an? Das Motiv sei im Dunkeln geblieben, sagt Richter Steinmann. Dies sei „unbefriedigend“. Das sogenannte Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom greife hier jedenfalls nicht. Beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom handelt es sich um eine Störung, bei der Menschen, meist sind es Mütter, eine Krankheit ihrer Kinder vorspiegeln oder sie sogar absichtlich krank machen. Die Motivation: Sie wollen bei Ärzten oder in Kliniken als besonders fürsorgliche Mütter Anerkennung finden.
Mordversuch an Tochter: Dreifache Mutter erschüttert über das Urteil
Im Fall von Jennifer F. hatte das Gericht alle Ärzte als Zeugen gehört, die mit der 36-Jährigen und ihren Kindern zu tun hatten. Doch nichts deute auf künstlich herbeigeführte Krankheiten hin, bilanziert der Richter die Erkenntnisse aus der Beweisaufnahme.
Die Strafe von vier Jahren und zehn Monaten biete der Angeklagten die Möglichkeit, sich intensiv mit ihrer Tat auseinanderzusetzen. Oft sie das in der Haft tut, bleibt abzuwarten. Noch im Hinausgehen aus dem Verhandlungssaal wirkt die dreifache Mutter erschüttert über das Urteil. Sie tupft sich die Tränen ab, doch es fließen immer neue.