Hamburg. Der 38-Jährige lebt seit 1998 in Deutschland, seine Familie sitzt in Kabul fest. Von Ghanizays Bemühungen, seine Geschwister zu retten.

„Ich kenne ungefähr 50 Prozent aller Menschen aus St. Georg“, erzählt Wais Ghanizay stolz. Das könnte tatsächlich stimmen. Denn alle paar Minuten kommen Menschen an dem Restaurant Central an der Langen Reihe vorbei, in dem er seit Jahren arbeitet, und grüßen ihn. Der 38-Jährige fühlt sich in Deutschland zu Hause, er lebt seit 1998 hier und besitzt mittlerweile seit mehr als einem Jahrzehnt die deutsche Staatsbürgerschaft.

Doch auch alle diese freundlichen Begegnungen sind für Ghanizay momentan Nebensache. Er stammt aus Afghanistan und denkt fast jeden Augenblick an seine Familie, vor allem an seine zwei Brüder und seine Schwester, die in Kabul festsitzen. Man merkt ihm an, dass er verzweifelt ist. Ghanizay weiß nicht mehr, was er noch unternehmen soll.

Familie in Kabul: Hamburger kontaktierte Behörden

„Ich habe so viele Behörden und Menschen seit Tag eins der Eroberung Kabuls durch die Taliban kontaktiert“, berichtet der Deutsch-Afghane. Er zeigt die E-Mails, die er unter anderem an das Auswärtige Amt, die Nato, die Vereinten Nationen und an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geschrieben hat.

Auch Bundestagsabgeordnete aus Hamburg sind unter den Empfängerinnen und Empfängern seiner digital verfassten Briefe. Er hat den Nachrichten viele zusätzliche Dokumente der Geschwister, also Universitätsabschlüsse, Ausweise oder Zertifikate für Zusatzqualifikationen, angehängt.

Keine Antwort auf E-Mails an Behörden

Neben Ghanizay selbst schrieb auch sei Neffe allein rund 200 E-Mails an deutsche Behörden, aber auch solche in England oder den USA. „Ich habe meine Familie viel unterstützt in den letzten Wochen“, erzählt Ghanizay.

Eine richtige Antwort auf seine unzähligen E-Mails hat er bis heute nicht erhalten; nur automatische Empfangsbestätigungen. Sogar beim Auswärtigen Amt hat er angerufen und mehr als anderthalb Stunden in der Warteschleife gewartet – nur für die Mitteilung, dass er noch weiter auf eine Antwort auf seine E-Mails warten solle.

Familie des Hamburgers in großer Gefahr

Wais Ghanizay hat dafür Verständnis, dass die deutschen Behörden momentan überlastet sind. Dennoch brauchen insbesondere seine jüngeren Geschwister dringend Hilfe, meint er: „Für die Menschen wie meine Familie, die als Ortskräfte gearbeitet haben, besteht hundertprozentige Gefahr durch die Taliban.“ Aus Angst vor der Verfolgung oder Schlimmerem haben seine in Afghanistan festsitzenden Geschwister ihn darum gebeten, keine Namen zu nennen.

Sie haben vor der Machtübernahme der Taliban ganz unterschiedliche Berufe ausgeübt, die jedoch alle auf der „Feindesliste“ der neuen Machthaber stehen. Ghanizays Schwester arbeitete für das staatliche Fernsehen Afghanistans, ebenso war sie für diverse staatliche Radiosender tätig und berichtete auch für ausländische Medien. Den Nato-Einsatz in ihrem Land unterstützte sie öffentlich. Eines Tages durfte sie nicht mehr zu ihrem Arbeitsplatz; ihre männlichen Kollegen hingegen schon.

Bruder arbeitete für Präsidenten von Afghanistan

Mittlerweile befindet sie sich an einem sicheren und geheimen Ort, sie versteckt sich vor den Taliban; ebenso Ghanizays Brüder. Sie könnte es noch schlimmer treffen, befürchtet er. Während der erste Bruder im Auftrag eines Subunternehmens für verschiedene Botschaften von Nato-Mitgliedstaaten gearbeitet hatte, auch für die Botschaften Deutschlands, Kanadas oder der Türkei, arbeitete sein zweiter Bruder für Ashraf Ghani persönlich, dem früheren Präsidenten Afghanistans, der aus dem Land geflohen ist.

Lesen Sie auch:

Auch interessant

Auch interessant

Auch interessant

„Das Verrückte ist“, sagt Ghanizay, ,,dass mein Bruder durch seine Arbeit für die Regierung zahlreiche Kontakte ins Ausland pflegte“. Ghanizay zeigt stolz zahlreiche Fotos von seinem Bruder, unter anderem mit ranghohen Militärs und politischen Persönlichkeiten aus der ganzen Welt. „Er nahm an sehr vielen Konferenzen und internationalen Gipfeln teil und besaß ein Visum für die USA, aber auch für Länder wie die Schweiz oder Tschechien.“

Ghanizay besuchte Familie noch in Kabul

Noch vor vier Monaten, im Mai 2021, besuchte Ghanizay seine Familie in Kabul. Er wurde selbst dort geboren und erlebte als Jugendlicher die erste Taliban-Herrschaft hautnah mit. Im Alter von 15 Jahren floh er dann aus Afghanistan – nach elf Monaten war das Ziel Deutschland endlich erreicht. „Es waren damals schon so viele Menschen auf der Flucht, das Ganze sah wahrscheinlich aus wie ein einziger Ameisenhaufen“, so Ghanizay.

Er hatte seinem Bruder bei seinem Besuch noch dazu geraten, mithilfe seines Visums in die USA zu gelangen, aber dieser lehnte ab. „Er sagte zu mir: Was soll ich da? Ich möchte in meinem Land sein und hier arbeiten“, erzählt der Mann aus St. Georg. Man merkt ihm das Unverständnis für die Entscheidung seines Bruders an. Zum Flughafen in Kabul schaffte es dieser nicht – drei Tage lang hatte er es vergeblich versucht.

Taliban: Düstere Aussichten für Afghanistan

Ghanizay ist überzeugt, dass sein Heimatland in eine düstere Zukunft blickt: „Afghanistan ist mehrere Jahrzehnte zurückgeworfen worden durch die letzten Wochen. Es wird kein Frauenministerium mehr geben, und im neuen Kabinett der Taliban sind Frauen generell nicht vertreten“, schimpft er.

Für sein Heimatland hat der 38-Jährige nur noch wenig Hoffnung. „Meine Hoffnung ist mehr als in den Keller gegangen – sie befindet sich bereits auf dem Boden eines sehr, sehr tiefen Brunnens“. Für ihn zählt jetzt nur die Familie. Er hofft, dass sie doch noch aus dem Land kommt.