Hamburg. Drei Attentäter aus Hamburg starben bei den Anschlägen. War die Stadt Keimzelle des Terrors oder nur eine Basis von al-Qaida?
- 9//11: Auch 20 Jahre nach den Anschlägen sind Terrorhelfer erfolgreich untergetaucht
- Andere haben ihre Haftstrafen verbüßt – und sogar Geld vom Staat bekommen
- Welche Rolle Hamburg in den Plänen der Terroristen spielte
Dort, wo früher die beiden mächtigen Türme des World Trade Centers in den Himmel von Manhattan ragten, erinnern heute zwei Brunnen in den Umrissen der Fundamente an die schrecklichen Ereignisse vom 11. September 2001. Unterirdisch legt ein 2014 eröffnetes Museum am Ground Zero mit zahllosen Bildern, Filmen, Stimmaufnahmen und Überresten, wie von der Hitze verformten Feuerwehrwagen, Zeugnis ab von dem Inferno.
Ganz am Ende ist unter Glas eine Bordkarte ausgestellt, vom Feuer an den Rändern versengt. Sie wurde ausgestellt für den Flug UA175, der morgens um 8 Uhr von Boston aus nach Los Angeles führen sollte, und lautet auf den Namen „Alshehhi, Marwan“. Der Todespilot sitzt auf Platz 6C, bevor er das Flugzeug zusammen mit Komplizen unter seine Kontrolle bringt und die Maschine um 9.03 Uhr in den Südturm des WTC steuert.
9/11: Viele Mittäter leben heute noch
Mohammed Attas Testament findet man später in seiner Reisetasche, die nicht rechtzeitig in sein Flugzeug umgeladen worden ist. Neben den mehr als 3000 Opfern stirbt an diesem Tag auch der Libanese Ziad Jarrah, der den Todesflug UA 93 nach einem Aufstand der Passagiere auf einem Acker in Shanksville, Pennsylvania, abstürzen lässt.
Die Attentäter sind tot, aber viele der Mittäter und Drahtzieher dieses nie da gewesenen Terrorschlags gegen die USA leben noch heute. Zum inneren Kreis der Hamburger Terrorzelle zählt zuallererst Ramzi Binalshibh. Der Jemenit war Mitte der 1990er-Jahre zum Studieren nach Hamburg gekommen und hat zeitweise mit Atta in der Marienstraße 54 gewohnt. Er gilt als Verbindungsmann zwischen den späteren Todespiloten und den damals in Afghanistan sitzenden Drahtziehern der Anschläge.
Als Mohammed Atta, Marwan al-Shehhi und Ziad Jarrah im Frühling 2000 in die Vereinigten Staaten ziehen, um Fluglehrgänge zu absolvieren, bleibt Ramzi Binalshibh in Deutschland, verwischt Spuren und überweist Geld in die USA. Viermal versuchte er, sich ein US-Visum zu beschaffen. Viermal scheiterte er. Manche Ermittler gehen davon aus, dass er eine der Maschinen fliegen sollte, die am 11. September 2001 zu zivilen Bomben wurden.
Am ersten Jahrestag wird Binalshibh festgenommen
Vor den Anschlägen setzt er sich rechtzeitig ab. Am 5. September 2001 verlässt Binalshibh Deutschland. Angeblich hat Atta ihn am 29. August 2001 aus Amerika angerufen und das Datum des Anschlags übermittelt: „Zwei Stöcke, ein Strich und ein Kuchen mit einem Stock nach unten. Was ist es?“ Das Zeichen, dass die Anschläge am 11. September stattfinden würden. Zeit für die Helfer in Deutschland, unterzutauchen.
Doch am ersten Jahrestag des Terrorschlags feiern die Amerikaner die Festnahme Binalshibhs in einem Apartmentkomplex in der pakistanischen Millionenmetropole Karatschi. Er verbringt zunächst vier Jahre in Einzelhaft in geheimen CIA-Gefängnissen in Afghanistan, Polen, Marokko und Rumänien. 2006 wird er dann in das Hochsicherheitsgefängnis nach Guantanamo auf Kuba gebracht.
Mittäter aus Hamburg können fliehen
2012 erhebt man Anklage gegen Binalshibh und einen der Chefplaner der Terroranschläge, Khaled Scheich Mohammed, sowie drei weitere mutmaßliche Terroristen. Zwar beginnen die Vorverhandlungen vor einem Militärtribunal in einem eigens errichteten Gerichtsgebäude, doch das Verfahren zieht sich hin. Binalshibh gilt seit Längerem als nicht mehr zurechnungsfähig, seine Anwälte machen dafür die Verhörmethoden der USA verantwortlich. Den „Guantanamo-Five“ droht bei Verurteilung die Todesstrafe.
Weiterhin untergetaucht sind die beiden mutmaßlichen Mittäter der Hamburger Zelle, Zakariya Essabar und Said Bahaji, der am 3. September 2001 Hamburg verlässt. Bahaji soll der Terrorzelle als Buchhalter gedient haben. Der heute 46-Jährige, der damals an der TU Harburg Elektrotechnik studierte, wird per internationalem Haftbefehl gesucht. Auch er soll zunächst nach Karatschi geflohen sein und später im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet leben, wo er für al-Qaida kämpft. Mehrere Jahre lang hören die Sicherheitsbehörden Kontakte Bahajis zu seiner deutschen Ehefrau ab. Später lässt er sich scheiden.
Attentäter werden in Afghanistan ausgebildet
Das Gebäude am Steindamm 103 in St. Georg ist ein unauffälliges Geschäftshaus. Doch hinter der Fassade, in der Al-Quds-Moschee, beten die Attentäter des 11. September gemeinsam. Hier lauschen sie den Worten der Hassprediger, wie die Ermittler später herausfinden. Und hier entsteht das berühmt gewordene Foto der Hochzeitsgesellschaft, die die Eheschließung von Said Bahaji feiert. Nicht weit von Binalshibh steht Mounir al-Motassadeq
Der Marokkaner war Mitte der 1990er-Jahre nach Hamburg gekommen, um an der TU in Harburg Elektrotechnik zu studieren. Dort lernt er Marwan al-Shehhi und Mohammed Atta kennen, freundet sich mit ihnen an. Motassadeq unterzeichnet sogar Attas Testament. Die jungen Muslime radikalisieren sich, lassen sich in Lagern der al-Qaida in Afghanistan an Waffen ausbilden. Auch Motassadeq reist im Mai 2000 nach Afghanistan. Den Chefplanern des Terrors erscheint er aber offenbar als Persönlichkeit zu weich: Er wird nicht ausgewählt für eine aktive Rolle.
Motassadeq wird noch 2001 verhaftet
Nach den Anschlägen kommen die deutschen Ermittler schnell auf Motassadeqs Spuren. Im November 2001 verhaften sie ihn und klagen ihn bald darauf an wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie Beihilfe zum Mord in 3066 Fällen – so viele Menschen waren bei den Anschlägen in New York und Washington sowie beim Absturz der Maschine in Pennsylvania ums Leben gekommen.
Der Prozess gegen Motassadeq erregt großes Aufsehen: Es ist weltweit das erste Verfahren im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September – doch es erweist sich als kompliziert und entwickelt sich zu einem Prozessmarathon: Im Februar 2003 verurteilt das Hanseatische Oberlandesgericht den Marokkaner zu 15 Jahren Haft. Doch der Bundesgerichtshof hebt das Urteil wegen mangelhafter Beweiswürdigung auf.
Motassadeq wird nach der Haft abgeschoben
Im April 2004 kommt Motassadeq sogar vorübergehend auf freien Fuß, wenn auch unter Auflagen. Die Amerikaner schäumen angesichts der Fotos, die ihn lächelnd beim Verlassen des Gerichtsgebäudes zeigen. Am Ende einer Neuauflage des Prozesses steht eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren. Der Bundesgerichtshof hebt das Urteil Ende 2006 erneut auf.
Im Januar 2007 schließlich ergeht das endgültige, nicht mehr anfechtbare Urteil: 15 Jahre Haft wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Beihilfe zum Mord in 246 Fällen. Dies entspricht der Anzahl der getöteten Passagiere und Besatzungsmitglieder in den vier entführten Flugzeugen. Motassadeq soll in die Anschlagspläne eingeweiht gewesen sein und den Attentätern geholfen haben, ihre Reisen nach Afghanistan und in die USA zu verschleiern. Nach Überzeugung der Richter wusste er zwar, dass „große Selbstmordanschläge mit Flugzeugen“ geplant waren. Von den genauen Zielen, in die nur ein enger Personenkreis eingeweiht war, habe er aber keine Kenntnis gehabt.
Innensenator Grote froh über „Schlussstrich“
Motassadeq verbüßt seine Haft im Gefängnis „Santa Fu“, er gilt als unauffälliger Gefangener. Im Oktober 2018 kommt er einige Wochen vor dem regulären Haftende frei – unter der Bedingung, dass er nach Marokko abgeschoben wird. Als er das Gefängnis in Fuhlsbüttel verlässt, ist alles minuziös vorbereitet: Vermummte SEK-Polizisten bringen den mittlerweile 44-Jährigen im Hubschrauber zum Flughafen. Deutschen Boden darf er bis 2064 nicht mehr betreten.
Innensenator Andy Grote (SPD) ist froh, „einen Schlussstrich unter dieses Kapitel“ ziehen zu können. Doch er freut sich zu früh. Denn den Mitarbeitern des Gefängnisses unterläuft ein peinlicher Fehler: Sie zahlen dem verurteilten Terrorhelfer bei seiner Entlassung 7194,43 Euro in bar aus – Taschengeld und Lohn für Gefängnisarbeit auf seinem Häftlingskonto. Damit verstoßen sie gegen das Außenwirtschaftsgesetz, das jegliche Zahlungen an Terroristen verbietet. Die Staatsanwaltschaft beantragt Strafbefehl gegen den verantwortlichen Sicherheitsdienstleiter der Justizvollzugsanstalt.
Dilemma: Amerikaner halten Verhörprotokolle zurück
Überschattet wurde das Strafverfahren gegen Motassadeq ebenso wie der Prozess gegen den Marokkaner Abdelghani Mzoudi von einem Streit zwischen deutschen und amerikanischen Sicherheitsbehörden. Die US-Amerikaner haben zahlreiche mutmaßliche Terrorhelfer inhaftiert, teils in Guantanamo, teils in Gefängnissen an unbekannten Orten. Doch sie behalten die Hoheit über alle Verhöre und Zeugenaussagen, die teils unter Folter entstehen.
Deutsche Behörden bekommen allenfalls Zusammenfassungen. Die Amerikaner verweigern sich zumeist dem Wunsch deutscher Gerichte, wichtige Zeugen selbst zu befragen oder zumindest deren unmittelbare Aussagen verwerten zu dürfen. Mit einer Justiz à la Guantanamo, bei der sich Militär und Geheimdienste vorbehalten, was sie einem Gericht vorlegen, sehen die Hamburger Richter aber rechtsstaatliche Verfahren in Gefahr.
Mzoudi mit Terroristen in Afghanistan?
Noch schwerer als im Prozess gegen Motassadeq wiegt dies im Verfahren gegen Abdelghani Mzoudi, das am 5. Februar 2004 vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht mit einem Freispruch endet. Mzoudi war bereits kurz nach den Anschlägen ins Visier der Fahnder geraten, weil er die berüchtigte Wohnung von Atta in der Marienstraße übernommen hatte. Auch er unterzeichnete das Testament Attas. Er habe wenig über die muslimischen Freunde gewusst, auch nicht über Atta, der „ein ruhiger Typ, fast verschlossen“ gewesen sei, beteuerte er im Oktober 2001 in einem Interview. Fakten, die die Ermittler sammelten, zeichnen ein anderes Bild: Mzoudi hatte sich im Sommer 2000 mit Mitgliedern der Terrorzelle in Ausbildungslagern in Afghanistan aufgehalten.
Generalbundesanwalt Kay Nehm legt ihm zur Last, als Mitglied von al-Qaida an der Planung der Terroranschläge beteiligt gewesen zu sein. Mzoudi habe zu sämtlichen Mitgliedern der Hamburger Zelle langjährige enge Beziehungen gehabt. Laut Anklage soll er sogar „bis zuletzt in die Attentatsvorbereitungen eingebunden“ gewesen sein. Doch das sollte vor Gericht schwer zu beweisen sein.
„Im Zweifel für den Angeklagten“
Der Indizienprozess vor dem dritten Strafsenat, der am 14. August 2003 eröffnet wird, kann ihm eine Beteiligung nicht nachweisen. Das Bundeskriminalamt legt im Dezember 2003 ein Fax vor, das in der Hansestadt wie eine Bombe einschlägt. Ein Entlastungszeuge, offensichtlich Ramzi Binalshibh, habe in Verhören in US-Gewahrsam erklärt, Mzoudi habe nicht von den Anschlagplänen gewusst. Nur Binalshibh selbst, Atta, al-Shehhi und Jarrah hätten zur Hamburger Terrorzelle gehört.
Zwar belastet der Jemenit damit nur diejenigen Mittäter, die entweder tot sind oder deren Schuld bewiesen ist. Doch die Richter sehen keine Möglichkeit, Binalshibhs Glaubwürdigkeit zu überprüfen, fühlen sich von den Sicherheitsbehörden manipuliert und entscheiden „im Zweifel für den Angeklagten“. Am 13. Dezember 2003 wird Mzoudi freigelassen, am 5. Februar 2004 freigesprochen. US-Justizminister John Ashcroft zeigt sich enttäuscht. Die Hamburger Behörden setzen Mzoudi eine Frist zur Ausreise. Mitte Juni 2005 verlässt er Deutschland und fliegt in den marokkanischen Ferienort Agadir.
Entschädigung für einen Terroristen?
Zwölf Jahre nach den Terrorschlägen kann sich Mzoudi 2013 über Geld aus Deutschland freuen. Er erhält 4708 Euro, angewiesen von der Hamburger Justizbehörde. Solange der Marokkaner auf der Terrorliste der EU steht, hatte man die Entschädigung für 428 Tage Untersuchungshaft zurückgehalten. Als ihn die EU ihn von der Liste der Verdächtigen im Umfeld der Terrororganisation al-Qaida streicht, ist das Geld fällig.
Während Hamburger Richter noch versuchen, Schuld oder Unschuld der möglichen Mittäter aus dem Umfeld der Hamburger Attentäter zu ergründen, ändert sich die Einschätzung der Rolle, die die Hansestadt bei den Anschlägen gespielt hat. Kurz nach den Attentaten war die Generalbundesanwaltschaft davon ausgegangen, dass die Terroranschläge über Jahre hinweg in Hamburg geplant worden sind.
Auch wenn das Geflecht und die genauen Zuständigkeiten noch nicht ausermittelt sind, spricht sie zunächst von einer „terroristischen Vereinigung, die von Deutschland aus an den Anschlägen vom 11. September in den Vereinigten Staaten beteiligt war und die nun langsam hier in Deutschland ein Gesicht bekommt – und vor allen Dingen auch Namen“. Dreh- und Angelpunkt und Operationsbasis sei die Marienstraße in Harburg gewesen.
Welche Rolle spielte Hamburg bei Anschlagsplanung?
Als das Oberlandesgericht Mzoudi 2003 freilässt, verwirft es in seinen zehnseitigen Erläuterungen die Theorie der Bundesanwaltschaft, auf der auch die Anklage fußt, wonach die Terroranschläge in Hamburg geplant und von dort aus durchgeführt worden. In der Hansestadt habe es „keine selbstständige, handlungsfähige terroristische Vereinigung“ gegeben, so das Fazit der Richter. Die in Hamburg lebenden Mittäter seien zwar in die Organisation involviert gewesen, diese hätten aber die Befehle der al-Qaida ausgeführt.
Auch der Verfassungsschutz stützt die Einschätzung, dass die Studenten aus Hamburg Ende 1999 in ein afghanisches Terrorcamp gereist waren, wo Osama Bin Laden und seine Leute die Gruppe für ihren mörderischen Plan rekrutiert haben.
Die Untersuchungskommission des US-Kongresses kommt 2004 in ihrem 567 Seiten langen 9/11-Bericht zu dem Ergebnis, dass Bin Laden und Scheich Mohammed seit Anfang 1999 die Idee zu mehreren Anschlägen mithilfe entführter Flugzeuge verfolgten. Bin Laden habe die Todespiloten persönlich ausgesucht. Atta wurde zum Anführer der Attentäter.