Hamburg. Anna von Villiez ​leitet die Hamburger Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule – und hat einiges vor.

Förmlichkeiten? Peinliche Gesprächsstille oder fremdeln? Das gibt es in den kommenden 60 Minuten hier oben im dritten Stock der Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule nicht. Wer mit Dr. phil. Anna von Villiez in ihrem Büro ins Plaudern kommt, erlebt die Leiterin dieser historischen Stätte an der Karolinenstraße leidenschaftlich, redegewandt und direkt. Das ist herrlich unkompliziert. Seit dreieinhalb Jahren führt sie das Haus, das zur Hamburger Volkshochschule gehört, und sie hat noch viel vor.

Leiterin der Gedenk- und Bildungsstätte hat viel vor

Zunächst einmal geht es gar nicht um ihre Arbeit, sondern ums Gendern und die Debatten darüber. Sie legt jedenfalls Wert auf eine korrekte Ansprache in der weiblichen Form. Nicht etwa verkniffen oder mit erhobenem Zeigefinger, aber eben doch selbstbewusst und forsch. Das ist in der Welt der Wissenschaftler, zumal der internationalen, schon lange eine Selbstverständlichkeit. Und nun ist die Genderdebatte eben auch in Deutschland angekommen. Endlich, würde Frau von Villiez wohl sagen, die mehrere Jahre in Oxford verbracht hat, viel Kontakt in die USA hat und ständig im Austausch mit internationalen Kollegen ist.

Diese identitätspolitischen Debatten kennt sie also ausreichend, und die üblichen Reaktionen aufs Gendern kann sie vorhersagen. „Ich habe viel in meinem Leben erreicht und habe viel dafür getan, damit ich mein Leben nicht nach den Realitäten von Skeptikern ausrichten muss. Wenn ich als Frau in einem Artikel angesprochen werden möchte, weil es nicht nur Historiker gibt, sondern auch Historikerinnen, dann ist das meine Lebensrealität.“

Sie könne nachvollziehen, dass einige identitätspolitische Forderungen als überzogen oder an der Wirklichkeit vieler empfunden werden. „Es fällt aber doch auf, dass eine vehemente Kritik zum Beispiel zum Gendern dann eben doch mehrheitlich aus männlicher Richtung kommt und damit von denen, die nicht betroffen sind von einer Sprache, die Frauen nicht mitdenkt.“ Willkommen im 21. Jahrhundert.

„Geschichte bringt Ordnung in die Vergangenheit“

Die Liste ihrer Tätigkeiten, Kompetenzen und Veröffentlichungen ist lang. Denn Frau von Villiez ist in ihrem Bereich international bekannt und anerkannt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die jüdische Geschichte und die Medizingeschichte im Nationalsozialismus. „Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust“, sagt sie. „Mit aller Macht verdrängt. Entrechtung und Verfolgung der ,nicht arischen‘ Ärzte Hamburgs 1933 bis 1945“, lautet der Titel ihrer Promotion in Neuerer Geschichte. Dazu zu forschen, war naheliegend, weil es bis dahin dazu kaum etwas gab. Und so ist sie auf diesem Gebiet Spezialistin und bekam auch den Forschungspreis „Rolle der Ärzteschaft im Nationalsozialismus“, ausgeschrieben vom Bundesministerium für Gesundheit, der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.

Eigentlich wollte die gebürtige Hamburgerin Journalistin werden, hat dann aber Ethnologie und Geschichte in Freiburg studiert. Ähnlich wie ihre Eltern – beide sind Psychiater – beschäftigt sich auch Tochter Anna, die älteste von vier Geschwistern, nun mit dem Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart. „Geschichte“, sagt sie, „bringt Ordnung in die Vergangenheit. Wir Historikerinnen sind keine Märchenerzählerinnen.“

Töchterschule war die letzte jüdische Schule in Hamburg

Mit der Gedenk- und Bildungsstätte der Volkshochschule arbeitet sie an einem der wenigen Orte in Hamburg, wo man so hautnah spüren kann, wie jüdisches Leben in der Stadt einmal war.

Es sind die Lebensläufe von Minderheiten, die sie begeistern können. „Die Frage nach Identität und Wandel von Identitäten, das hat die Juden immer geprägt, und das ist spannend.“ Besonders beeindruckend bei ihrer Arbeit waren die Begegnungen mit Zeitzeugen, so wie mit Erika Estis, die 99 Jahre alt ist und in New York lebt. Sie war Schülerin der Israelitischen Töchterschule. Frau von Villiez hat sie bereits besucht und ist seit drei Jahren mit ihr in Kontakt. „Es ist berührend, dass sie noch ihren Schulranzen aufgehoben hat.“

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Jüdische Geschichte aus der „Blackbox Holocaust“ holen

Neben ihrer Arbeit in der Gedenk- und Bildungsstätte für die Volkshochschule, hat sie noch jede Menge anderer Projekte. So gehört sie der Internationalen Kommission zur Medizingeschichte des Holocaust an und erarbeitet derzeit mit Kollegen aus Schweden einen Dokumentarfilm zur Geschichte der Anatomie in der NS-Zeit. Wie die Mutter eines bald elfjährigen Jungen das zeitlich alles schafft, ist natürlich eine Frage, die man einem Mann nicht unbedingt stellen würde. Deshalb antwortet Frau von Villiez, die mit Mann und Sohn auf St. Pauli lebt, ganz trocken: „Ich habe einen Mann, der sich wunderbar kümmert.“ Ihr Mann arbeitet als Schulsozialarbeiter an einer Brennpunktschule.

Diese internationale Arbeit und der Austausch mit Kollegen aus anderen Ländern ist ihr wichtig, um über den Tellerrand der Volkshochschule, Hamburgs und Deutschlands blicken zu können. Der intellektuelle Überbau gehört für sie ebenso dazu. Sie möchte jüdische Geschichte so gestalten, dass „sie aus der Blackbox Holocaust herauskommt. Man muss sich trauen, neue Wege zu gehen, sonst erstarrt das Thema zu einer Geschichte des Grauens und kommt gerade Jugendlichen nur noch wie ein Gruselmärchen vor.“ Diese eingeübte Betroffenheit gilt es aufzubrechen.

Gedenkstätten müssen sich modernisieren

Und dafür müssen sich Gedenkstätten und Bildungsorte wie die Israelitische Töchterschule modernisieren. Das Anne-Frank-Haus in Amsterdam ist ein Vorbild. „Da wird auf Text in der Ausstellung verzichtet. Die Inhalte sind diversifiziert und auf jeden Besucher, jede Besucherin angepasst.“ In fast jeder Sprache gibt es die Audioschiene, in leichter Sprache und ein Angebot für Jugendliche und Kinder. „Das ist der Trend. Ich finde besonders in einer Gedenk- und Bildungsstätte, die zur VHS gehört, ist eine niedrigschwellige Annäherung wichtig.“

Und niedrigschwellig beherrscht sie ebenso wie den intellektuellen Diskurs. „Anna ist mit Leib und Seele Historikern, aber keine, die in höheren Sphären schwebt“, sagt eine Kollegin über sie. „Sie kann historische Inhalte so vermitteln, dass sie berühren, anregen, Neugier wecken. Und es ist egal, ob eine Schulklasse vor ihr steht oder Angehörige von Überlebenden des Holocaust – es kommt oft Besuch aus Israel oder USA. Sie findet immer die richtigen Worte! Sie vernetzt Menschen und ist bestens vernetzt.“

Jugendliche über soziale Medien erreichen

Angetan ist Anna von Villiez von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. „Die machen das großartig mit ihren Zeitzeugen-Livetalks auf Instagram.“ Die sozialen Medien seien notwendig, um auch Jugendliche zu erreichen. „Wenn es nicht auf Instagram passiert, ist es für sie auch gar nicht geschehen.“ Auch TikTok sei ein wichtiger Trend. Sie selbst nutzt Twitter sehr gern. „Das ist großartig, um sich eine intellektuelle Welt zu schaffen. Das sind Professoren und Professorinnen, denen ich folge, vor denen ich auf die Knie fallen würde, weil ich so großen Respekt habe.“ Diesen intellektuellen Überbau brauche sie im Alltag. Da verfolgt sie Debatten, wie zur geplanten Bornplatz-Synagoge, zu geschichtspolitischen Debatten wie jüngst den Denkmalstürzen im Zusammenhang mit der Kolonialgeschichte und dem Feminismus.

Ihr Blick geht dabei auch Richtung Berlin. Da musste sie vor Kurzem dringend wieder ein paar Tage hin, um Kultur aufzusaugen, wie sie sagt, unter anderem im Jüdischen Museum. An die Hauptstadt komme die Hansestadt kulturmäßig einfach noch nicht heran.

Rückzug im Schrebergarten

Neben der intellektuellen gibt es auch eine sportliche Seite bei Frau von Villiez. 15 Jahre lang hat sie beim FC St. Pauli Frauenfußball gespielt. „Ich habe aufgehört, weil meine Knochen für diesen Sport zu alt sind“, sagt sie ganz nüchtern ohne Wehmut. Es sei eben so, dass irgendwann die Schnelligkeit und Technik fehlen. Über die Corona-Monate im Lockdown hat sie Sport zu Hause entdeckt und macht jetzt jeden Morgen Übungen im Wohnzimmer unter der Anleitung von Videos.

Und dann hat sie noch eine weitere große Leidenschaft, die total bodenständig ist. Wenn sie in ihrem Schrebergarten im Kreis Plön ist, ohne Strom oder Handyempfang, geht es nur um den Garten, um die Hege und Pflege ihrer Pflanzen. Diese Nähe zur Natur gibt ihr Kraft und Energie. Sich die Hände in der Erde schmutzig machen und dabei abschalten – das macht sie nahezu jedes Wochenende. „Die Welt der Seen um Plön mag ich sehr“, sagt sie. „Dort lebe ich im Hier und Jetzt.“