Hamburg. Abendblatt-Serie: Der Boulevard war Hamburgs erste Adresse. Viele Häuser werden gerade aufgewertet. Aber es gibt auch Kritik.
Kann man eine Großstadt auf einer einzigen Straße erleben? Wenn, dann auf dem Jungfernstieg. Hier liegen Hamburgs Geschichte und Grandezza, Hamburgs Brennpunkte und Boheme, Hamburgs Scharmützel und Schönheit dicht beieinander.
Geschichte gibt es im Übermaß – gerade hat sich ein besonderes Erbe für die Gegenwart geliftet: Der Haller-Bau mit der Hausnummer 22 präsentiert sich dem Flaneur so, wie der Rathaus-Baumeister es einst ersonnen hatte: Im damals beliebten Stil eines vornehmen italienischen Renaissancepalazzo baute er der Dresdner Bank 1899 für eine Million Reichsmark eine monumentale Heimat. Nun hat die Commerzbank hier ihre landesweit wohl prächtigste Filiale.
Jungfernstieg wird durch Alsterfoyer attraktiver
Aufwendig wurde das Alte freigelegt und herausgeputzt – mit 19.500 Restaurierungsstunden und 2800 Skalpellklingen. „Das ist das Sahnestück der Commerzbank“, sagt Jakob Hauptmann, Niederlassungsleiter der Bank. Auch die Kunden profitieren von der Neugestaltung – wer die Bank betritt, staunt über die spektakuläre Kassenhalle. Von hier ergibt sich eine Blickbeziehung bis zur Alsterfontäne.
Der Immobilienentwickler Art-Invest hat einen mittleren zweistelligen Millionenbetrag im Herzen von Hamburg investiert – insgesamt fünf Gebäude wurden in den vergangenen fünf Jahren neu gestaltet, erneuert und modernisiert. „Das Gesamtensemble Alsterfoyer ist ein wichtiger Schritt Stadtentwicklung und wird dem Jungfernstieg eine neue Attraktivität verleihen“, sagt Martin Wolfrat, Niederlassungsleiter Hamburg bei Art-Invest Real Estate: „Es wird zur Belebung der Innenstadt und des Einzelhandels beitragen.“ Zugleich hat die Commerzbank abgespeckt: Neben dem Haller-Bau ist Hausnummer 24 wieder entstanden. Dort, wo früher ein Kempinski-Hotel stand, präsentiert sich auf 800 Quadratmetern Verkaufsfläche Douglas mit seinem neuen Flagship Store.
Unverheiratete Töchter waren der Grund für den Straßennamen
Ein Flaggschiff reiht sich an das andere: Apple, Vodafone, selbst die Drogeriemarke Rossmann macht am Jungfernstieg auf edel. Es ist und bleibt eben die beste Adresse der Stadt – und das seit bald 200 Jahren: 1838 war der Jungfernstieg die erste Straße überhaupt in Deutschland, die asphaltiert wurde. Nach dem Großen Brand 1842 wurde die Südseite neu bebaut – und bald zur guten Stube der Stadt. Bürger führten am Sonntag ihre unverheirateten Töchter spazieren und schufen so den Namen: Jungfernstieg.
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Von den Flaneuren profitiert bis heute das Alsterhaus, das als Warenhaus Hermann Tietz 1912 seine Pforten öffnete. Vor Corona besuchten rund fünf Millionen Menschen jährlich das bekannteste Kaufhaus der Stadt – mehr im Übrigen, als die Elbphilharmonie-Plaza Besucher zählt. Der hanseatische Konsumtempel lockt die Menschen mit 18.000 Quadratmeter Verkaufsfläche und sieben Meter hohen Schaufenstern, die ihresgleichen in Europa suchen.
„Der Jungfernstieg ist das Herzstück der Stadt“, sagt die General Managerin Alexandra Bagehorn. „Und das Alsterhaus ist eingebettet in die lange Tradition des Boulevards. Das Kaufhaus schöpft seine Kraft aus dieser Stadt.“ Wegen des starken Kundenstamms aus Hamburg ist das Alsterhaus weniger abhängig vom Tourismus: 80 Prozent des Umsatzes wird mit hiesigen Kunden erzielt. Und noch etwas härtet gegen die Corona-Krise ab: Traditionell wichtig sind Reisende, die an Nord- und Ostsee ihre Sommerfrische verbringen – und auch in diesem Jahr nicht ausblieben. Bagehorn sieht einen weiteren Lichtblick: „Jetzt kommen auch die Dänen wieder.“
2023 soll der Umbau des Alsterhauses abgeschlossen sein
Im November 2019 wechselte die General Managerin an die Binnenalster – vier Monate später musste sie pandemiebedingt zum ersten Mal schließen. Etage für Etage hat sich das Alsterhaus herausgeputzt, 2023 soll der Umbau komplett abgeschlossen sein. Das Kaufhaus setzt auf die großzügige Präsentation bekannter Marken und Shopping als Erlebnis, VIP-Lounges und Beauty Séparées inklusive. „Hier kauft man nicht nur ein, hier gönnt man sich etwas, erlebt das Besondere“, sagt Bagehorn.
Mit den Umsätzen gehe es Monat für Monat aufwärts. „Der Sommer 2021 läuft besser als der Sommer 2020“, sagt sie. „Langsam kommen wir an das Jahr 2019 heran.“ Für die Umgestaltung des Jungfernstiegs, die bis 2023 erfolgen soll, hat die Managerin besondere Wünsche. „Wir benötigen hier mehr Aufenthaltsqualität, Gastronomie-Angebote, Lounges, auch über die Geschäftsöffnungszeiten hinaus.“
Schwere Zeiten liegen auch hinter dem traditionsreichen Juwelier Wempe: „Der Corona-Lockdown in Hamburg war einer der strengsten und härtesten in Deutschland. Über einen Zeitraum von fast fünf Monaten hinweg waren wir für unsere Kundinnen und Kunden ausschließlich telefonisch, per E-Mail, WhatsApp oder Teams erreichbar“, sagt Geschäftsführer Philipp Steeg. „Der Neustart verlaufe sehr gut. Viele Menschen freuen sich wieder zu shoppen, genießen die persönliche Beratung und holen Käufe nach, die sie während des Lockdowns aufgeschoben haben. Davon profitieren wir zurzeit.“ Wempe plant, pünktlich zum 50-jährigen Bestehen des Flagshipstores im kommenden Jahr am Jungfernstieg 8 die Geschäftsräume zu vergrößern und ein neues Interieur-Konzept umzusetzen.
Protz-Pkw machten Flaniermeile zur Prollstrecke
Neu erfinden wird sich auch der Hamburger Hof. Das traditionsreiche Gebäude, an dessen Stelle einst die spektakuläre Passage Sillems Bazar stand, ist etwas in die Jahre gekommen, viele Geschäfte stehen leer. Schon 2018 hatte die MEAG ambitionierte Pläne der Basler Architekten Deiner & Diener vorgestellt, die das ganze Ensemble aufwerten und aus der Passage Läden machen möchte, die von der Straße erreichbar sind.
„Die MEAG hat den Bauvorbescheid erhalten. Sie wird ihre Optionen sorgfältig etwa bis Jahresende prüfen“, sagt Pressesprecher Josef Wild. Der Hamburger Hof sei eine bedeutende Immobilie mit hohem Potenzial für die Stadt und ihre Bürger. „Der Bau beginnt frühestens Anfang 2025, auch um den Geschäftsinhabern im Hamburger Hof Sicherheit für die Planung zu geben.“
Auch der Jungfernstieg verwandelt sich noch einmal in eine Baustelle: Zwischen Frühjahr und Herbst 2022 werden die Siele erneuert, im darauffolgenden Jahr steht die Sanierung des Strom- und Gasnetzes und der Ausbau der Veloroute und der Umbau des Jungfernstiegs auf dem Programm. Derzeit regiert ein Provisorium: Die Verbannung der Autos vom Jungfernstieg, die einst sogar mehrspurig an der Alster entlangbrausen durften, ist zum einen dem Zeitgeist geschuldet, zum anderen aber auch Autoposern, die zuletzt den Jungfernstieg heimsuchten. Tiefergelegte Protz-Pkw machten die Flaniermeile zwischenzeitlich fast zur Prollstrecke.
Am Jungfenstieg fehlen Abstellbügel für Radler
Die jetzige Verkehrsberuhigung aber erinnert noch sehr an ein Provisorium: Die Pflanzbehälter beispielsweise könnten auch auf einem Schulhof stehen, überall stehen Roller im Weg – und besonders bizarr: Ausgerechnet auf dem Jungfernstieg fehlen Abstellbügel für Radler. Ein Anrainer bringt es auf den Punkt: „Entweder man macht es richtig – oder gar nicht.
Mit der derzeitigen Situation hadert auch Christoph Reimers, dessen Familie das Geschäftshaus Streits seit 1925 besitzt. Nach einer aufwendigen Sanierung zog dort im Mai 2016 das schwedische Kaufhaus Clas Ohlson ein – heute ist in dem geschichtsträchtigen Haus ein Flagshipstore von Rossmann zu finden. „Viele Häuser hübschen sich auf, aber die Stadt zieht nicht mit“, kritisiert Reimers. „Derzeit erinnert der Jungfernstieg mit seinen Holzkisten mehr an einen Bauhof und einen Stolperpfad mit grünen Grasakzenten in den Fugen. Ist das Boulevard?“
Eigentümer sowie Einzelhändler würden zu wenig einbezogen. Reimers verweist darauf, dass die Grundeigentümer 2004 viel Geld aufgebracht hatten, um den Jungfernstieg einheitlich zu gestalten. „Von der ursprünglichen Prachtmeile ist wirklich nichts mehr übrig geblieben.“ Er kritisiert die „chaotischen Verkehrsverhältnisse: Die Fahrradfahrer fahren kreuz und quer, die nicht mehr gestatteten Autos stranden auf dem Jungfernstieg und Passanten brauchen eine 360-Grad-Kamera, um nicht überfahren zu werden.“
Etwas diplomatischer ist Philipp Steeg: „Ich wünsche mir, dass die Stadt Hamburg ihre Pläne, eine autofreie Flaniermeile zu schaffen, zeitnah umsetzt und dies transparent kommuniziert. Die aktuelle Lösung – weder vollständig autofrei, noch befahrbar – führt häufig zu Konfusionen zwischen Fußgängern und Autofahrern und ist optisch kein Aushängeschild für die Stadt Hamburg.“