Hamburg. Verbrechen kennt keinen Feierabend: Chef Benjamin Ondruschka forscht am UKE insbesondere zu Schütteltrauma bei Kleinkindern.
Er ist in seiner Phantasie in die Rolle von Winnetou geschlüpft. Er ritt in seinen Träumen als Kara Ben Nemsi Effendi durch die Wüste. Prof. Benjamin Ondruschka ist seit seiner frühesten Kindheit ein begeisterter Anhänger der Werke von Karl May, hat bereits als Zehnjähriger voller Ehrfurcht am Grab des berühmten Schriftstellers gestanden.
20 Jahre später war er wieder dort, diesmal auch als Fan — vor allem aber als Fachmann. Der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am UKE ist dem Schöpfer von Winnetou und Old Shatterhand näher gekommen als irgendjemand sonst in den vergangenen gut hundert Jahren — er untersuchte ihn bis ins Innerste.
Spannendster Fall: Obduktion von Karl May
„Die Obduktion von Karl May im Jahr 2014 war bisher wohl mein spannendster Fall. Auch wenn es ,formal’ nur Knochen waren“, sagt der 36-Jährige. „Es war die schöne Erfahrung, das persönliche Interesse mit der Wissenschaft zu verbinden.“ Doch in seinem Fach braucht es sonst keine herausragende Persönlichkeit oder ein spektakuläres Verbrechen, um das besondere Interesse des Rechtsmediziners zu wecken. „Es geht darum, mit klarer wissenschaftlicher Analyse das letzte Rätsel des Lebens zu lösen. Und der interessanteste Fall ist immer der nächste“, findet Ondruschka.
„Das muss kein Tötungsdelikt sein.“ Als Fachmann, der den Rätseln von Leid und Tod auf den Grund geht, ist es dem Rechtsmediziner sehr bewusst, wie plötzlich und unerwartet das Leben zu Ende sein kann. „Die allermeisten, die bei uns auf dem Seziertisch landen, wussten vorher nicht, dass das schon am nächsten Tag oder sogar im nächsten Moment passiert. Mein Anliegen ist es, eine klare Antwort zu geben, warum jemand gestorben ist.“
Auch zu unorthodoxen Zeiten am Obduktionstisch
Verbrechen kennen keinen Feierabend, Verkehrsunfälle geschehen rund um die Uhr, und Menschen sterben zu jeder Tages- und Nachtzeit. So sind auch die Experten der Rechtsmedizin am UKE rund um die Uhr einsatzbereit. Und daher gehört es zu den Aufgaben von Ondruschka, auch zu unorthodoxen Zeiten am Obduktionstisch oder im Büro zu sein. „Arbeit ist für mich keine Pflicht, sondern meist Vergnügen“, versichert er. Und er ergänzt schmunzelnd: „Der Tag hat hier auch mal 28 Stunden.“
Neben der professionellen Analyse von Verletzung, Leid und Tod ist die Forschung ein überragend wichtiges Feld für den Wissenschaftler. „Die Forschung hält die Rechtsmedizin lebendig.“ Dabei geht es dem Institutsdirektor vor allem um die Erkundung von Hirnverletzungen. Ein Thema, das ihn in diesem Bereich besonders umtreibt, ist das Schütteltrauma, bei dem schwerste Verletzungen an kleinen Kindern verursacht werden. Säuglinge sind auf ganz speziellen Schutz und Fürsorge angewiesen, weil ihre Nackenmuskulatur noch nicht kräftig genug ausgebildet ist, um den Kopf zu stützen.
Schütteln von Babys: „Beben im Kopf“
Wenn diese sehr jungen Kinder an Armen oder Rumpf gepackt und geschüttelt werden, schlägt ihr Kopf in peitschenartigen Bewegungen vor und zurück. Es entsteht gleichsam „ein Beben im Kopf“. In wenigen Sekunden kann dabei das Leben eines Babys für immer verändert, wenn nicht sogar vernichtet werden. Manche Kinder, die die Tortur überleben, sind dann blind, taub und gelähmt.
„Das Schütteltrauma ist die schwerste Form einer Misshandlung eines Kindes“, betont Ondruschka. „Das Gehirn des Säuglings schleudert im Schädel hin und her.“ Blutgefäße zerbersten, Nervenfasern zerreißen. „Es entstehen irreversible Verletzungen.“ Äußerlich wirkt das Kind allerdings häufig unversehrt. Es gebe in der Literatur wohl „keinen Fall, der dadurch objektiviert wurde, dass er beobachtet wurde“, sagt der Rechtsmediziner.
Forschung ist Prävention für Misshandlung
„Deshalb ist es so wichtig, dass wir rekonstruktiv die Fälle analysieren und nach Gesetzmäßigkeiten forschen. Wir müssen klare naturwissenschaftliche Fakten schaffen.“ Wichtig sei es zudem, immer wieder die Gefahren des Schütteltraumas publik zu machen, damit nicht noch mehr Kinder dieser Misshandlung ausgesetzt werden.
Bei der Erforschung des Schütteltraumas arbeitet Ondruschka unter anderem mit der Computertomografie (CT), in der Rechtsmedizin mittlerweile eine unverzichtbare Untersuchungsmethode, sowie mit Erkenntnissen aus den Obduktionen von Gehirnen und der Untersuchung des Hirnkammerwassers. „Forschung ist nie beendet“, ist die Erfahrung des Institutsdirektors. „Wenn man alle Fragen beantwortet hätte, hätte man irgendetwas falsch gemacht.“
Schwerpunkt ist Diagnose des Schädelhirntraumas
Ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit ist unter anderem die Diagnose des Schädelhirntraumas, also Kopfverletzungen, die zu einer Funktionsstörung oder Verletzung des Gehirns führen. Sie entstehen meist durch äußere Gewalteinwirkung, zum Beispiel als Folge von Verkehrs- oder Sportunfällen — oder durch massive Schläge, beispielsweise mit der Faust oder einem Werkzeug.
„Neurologisch ergeben die Gewalteinwirkungen ein Schädigungsbild. So lange das Opfer lebt, kann ich anhand seiner klinischen Symptome sagen, was er wohl an inneren Verletzungen hat.“ Neurologische Untersuchung seien bei einem Verstorbenen allerdings nicht mehr zielführend durchführbar. Um etwa eine Hirnblutung sicher zu erkennen, sei eine Sektion notwendig.
„Bei 19 von 20 Leichen gibt es keine Autopsie"
„Allerdings werden in Deutschland weniger als fünf Prozent aller Toten obduziert“, beklagt Ondruschka. „Anders ausgedrückt: Bei 19 von 20 Leichen gibt es keine Autopsie. Deshalb will ich herausfinden: Wie kann ich einem Toten seine Geheimnisse entlocken, ohne den Schädel öffnen zu müssen?“ Wichtige Erkenntnisse lassen sich aus dem Hirnkammerwasser oder einer Blutuntersuchung gewinnen. „Es gibt bestimmte Biomarker, die bei einem Leichnam die Unterscheidung möglich machen, ob er ein Schädelhirntrauma erlitten hat oder nicht.“
Ondruschka erforscht ebenfalls, wie lange das jeweilige Opfer die Gewalteinwirkung auf den Schädel noch überlebt hat. „Für die Rechtsmedizin ist das wichtig, weil so die Todeszeit noch enger eingegrenzt werden kann. So können auch Alibis besser überprüft werden.“ Ein Fall, für den diese Erkenntnisse beispielsweise bedeutsam waren, war der eines Mannes, der leblos in seiner Wohnung gefunden wurde.
Zwei weitere Personen, die ihn dort angeblich bei ihrem Eintreffen gefunden hatten, gerieten in Verdacht, ihn umgebracht zu haben. Anhand des Ausmaßes des Schädelhirntraumas wurde deutlich, „dass das Opfer die Gewalteinwirkung mindestens zwei Stunden überlebt haben muss. Da hatten seine Kumpel ein Alibi. Ein anderer Mann wurde als Täter ermittelt.“
Erkenntnisse für Strafverfahren hilfreich
Mit seinen Forschungen will Rechtsmediziner Ondruschka ebenfalls vertiefte Erkenntnisse dazu gewinnen, welche Kräfte auf einen menschlichen Schädel einwirken müssen, um tödliche Verletzungen zu verursachen. „Sei es der Schlag mit der Faust, ein Tritt mit dem Schuh oder ein Hieb mit der Baseballkeule: Wir versuchen herauszufinden, wie hoch die Belastungsgrenze ist.“ Dabei hat Ondruschka mit seinem Team festgestellt, dass nicht nur der knöcherne Schädel, sondern beispielsweise auch die Kopfhaut, Fettgewebe und der Schläfenmuskel einen Beitrag dazu leisten, was ein Schädel aushalten kann.
„Ziel ist es, am Ende eine computergestützte Verletzungsrekonstruktion für das jeweilige Individuum zu erhalten.“ Bedeutsam können solche Erkenntnisse in einer Vielzahl von Strafverfahren sein. Denkbar ist etwa der Fall, in dem ein Mann aufgrund von Schädelverletzungen gestorben ist. Wenn seine zierlich, gebrechlich wirkende Frau deswegen auf der Anklagebank sitzt: Könnte sie tatsächlich ihren Mann erschlagen haben? Oder muss die Verletzung durch viel größere Krafteinwirkung entstanden sein?
Belastbarkeit der Knochen unabhängig von Geschlecht
Insgesamt sei festzustellen, dass das Geschlecht keine Rolle für die Frage spielt, wie belastbar oder verletzlich ein Knochen ist, erklärt Ondruschka. „Es gilt: Je dicker ein Knochen ist, desto mehr Kraft hält er aus.“ Um möglichst aussagekräftige Versuche und damit seriöse Forschung betreiben zu können, sei es wichtig, dass es Menschen gebe, die bereit sind, nach ihrem Tod ihren Körper für wissenschaftliche Zwecke zu spenden.
„Wir wollen ja nicht messen, wie bestimmte Mechanismen auf Gummi wirken. Ebenfalls reicht es nicht aus, Rückschlüsse von Tierversuchen ziehen, weil diese keine auf den Menschen übertragbare Ergebnisse liefern“, betont der Experte. „Deshalb brauchen wir humanes Material.“ Wer sich für eine Körperspende zu wissenschaftlichen Zwecken entscheide, könne beispielsweise auch dazu beitragen, dass Ärzte bestimmte Operationstechniken lernen und verfeinern können.
Auch Corona-Forschung wird intensiv betrieben
Neben dem breiten Feld der Schädelverletzungen sowie der Forschung zu Verletzungen, die durch Reanimationen entstehen, sind der Institutsdirektor und sein Team aktuell weiter hoch involviert in der Corona-Forschung. „Praxisnahe Forschung ist immer da möglich, wo Schnittstellen zu anderen Fächern existieren. Umso relevanter war seit vergangenem Frühjahr die konsequente wissenschaftliche Aufarbeitung der Erkenntnisse aus Obduktionen von Corona-Toten“, erläutert Ondruschka.
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„Wir haben noch nie so einem übermächtigen und trotzdem unsichtbaren Gegner gegenüber gestanden.“ Durch die Forschungsgruppen am Institut für Rechtsmedizin und benachbarten Disziplinen „konnte schon ganz primär eine auffällige Häufung von Blutgerinnseln und Lungenembolien nachgewiesen werden“. Diese Erfahrungen wurde später in der Intensivmedizin bei der Behandlung von Erkrankten genutzt.
Wichtige Erkenntnisse über Corona durch Rechtsmedizin
„Zudem ist es durch Erkenntnisse der Rechtsmedizin gelungen, das Ausmaß der Lungengewebsschädigung zu charakterisieren und klar zu beantworten, welche Personengruppen ein hohes Risiko haben, an der Virusinfektion zu versterben.“ Ferner wurde durch die postmortalen Untersuchungen bekannt, dass das Virus nicht allein die Atemwege befällt, sondern auch andere Organe, wie etwa das Herz und die Nieren belastet.
„Und aktuell beschäftigen wir uns mit der Assoziation neurologischer Grunderkrankungen und schwerer Krankheitsverläufe einer Sars-CoV-2-Infektion, der Häufigkeit von Embolien und Thrombosen auf Hamburgs Intensivstationen nach medikamentöser Thromboseprophylaxe und untersuchen Sterbefälle im zeitlichen Verlauf nach einer Corona-Impfung.“
Hamburger Rechtsmediziner auch Dozent
Über die rechtsmedizinische Forschung hinaus ist die Aufgabe als Dozent bei Ondruschka hoch im Kurs. „Ob ich das gut mache, müssen die Studierenden beantworten“, sagt der 36-Jährige. „Mich fasziniert das Fach selber. Und ich werde nicht müde, das zu erklären, mit praktisch erlebten eigenen Fällen. Ich möchte, dass jeder, auch ohne Rechtsmediziner werden zu wollen, im Anschluss sagt: Das war eine Veranstaltung, die für meinen späteren Berufsalltag sinnvoll war.“