Hamburg. Fünf Hamburger Experten blicken auf Initiative des Abendblatts mit Herzblut, Leidenschaft und viel Fantasie auf das Quartier.

Es ist ein erhabenes Gefühl, ganz oben zu stehen. Aus Richtung Niederbaumbrücke bummelt eine Barkasse durch den Kehrwiederfleet im Herzen der Speicherstadt. Die Kulisse steuer- wie backbords hat weltweit einmaligen Charakter: mehrgeschossige rote Backsteingebäude in zeitloser Würde. Hanseatisch gediegen. Imposant. Dass zwischen beiden Häuserzeilen, vom dritten Stockwerk der Speicherblöcke D und L, eine neue Verbindung über das Fleet geschaffen wurde, hat symbolischen Charakter. Überall im Areal zwischen Baumwall und Grasbrook entsteht Neues – teilweise in der ersten Reihe, manchmal im Verborgenen. Immer wieder wird hinter unscheinbaren Türen Geheimnisvolles entdeckt.

„Es handelt sich quasi um einen Brückenschlag zwischen gestern und heute“, sagt Frederik Braun, Mitbegründer und Motor des Miniatur Wunderlandes. Dass Techniker just dabei sind, an den Seiten der 25 Meter langen verglasten Brücke Schienen für Spielzeugeisenbahnen zu verlegen, krönt das Bild. Die mit dem Denkmalschutzamt abgestimmte Kon­struktion überwindet eine Steigung von drei Prozent. Bewusst wurde um die Ecke gedacht. Es sind eben nicht nur schnurgerade Wege, die zum Ziel führen.

Speicherstadt-Gipfel: Experten geben eine Standortbestimmung des Quartiers

Passt prima. Verbindungen und Brückenbau sind Fundamente eines Gesprächs, das es so bisher nicht gab: Auf Initiative des Abendblatts haben sich fünf Profis aus dem traditionsreichen Quartier an einen Tisch gesetzt. Themen dieses Speicherstadt-Gipfels sind eine Standortbestimmung des Weltkulturerbes sowie ein Blick in die Zukunft. Nicht trockene Materie und Faktenwirrwarr stehen im Mittelpunkt, sondern Herzblut und Leidenschaft.

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Das Quintett im urig eingerichteten Konferenzraum des Wunderlandes repräsentiert die bunte Mischung der Speicherstadt. Bei Brezeln, Franzbrötchen, Muffins und Erfrischungsgetränken kommt man sich näher. Im Nu. Berührungsängste? Was ist das denn!

Bodenhaftung und Wandel sind Schlüsselworte

Bodenhaftung und Wandel sind Schlüsselworte. „Bisher wurden 60 Prozent der historischen Speicherblöcke saniert“, sagt Mirko Schneider. Es ist eine Hamburger Geschichte, die wohl niemals endet: „Wird in Zukunft irgendwann die vollständige Sanierung erreicht, wird die Erneuerung gewiss wieder von vorne beginnen.“ Mirko Schröder ist einer von acht Architekten, die sich im Dienst der Hamburger Hafen- und Logistik AG (HHLA Immobilien) für die Entwicklung des maritimen und merkantilen Kleinods engagieren.

Mit 26 Jahren Jüngste im Bunde ist Jennifer Kokott. Die Handelsfachwirtin arbeitet als Handelsagentin der Firma Boden.4. Die Agentur für Mode, Sport und Outdoor ist in einem restaurierten Speicher am Brooktorkai 7 zu Hause. Der 750 Quadratmeter große Showroom ist Schnittstelle zwischen Industrie und Handel, eine solide Plattform für Modervertrieb und Beratung. „Vom Balkon unseres Büros aus genieße ich einen wunderbaren Blick über das historische Hamburg“, sagt sie.

Wenn sich Neu und Alt sinnvoll ergänzen

Das gilt nicht minder für Eva-Maria Eiter. Die Münchnerin arbeitet seit mehr als 20 Jahren für die „Pfefferkörner“. Wer vor nicht allzu langer Zeit jugendlich war oder Nachwuchs hat, kennt diese Fernsehserie. Mit Fantasie und Grips kommen junge Spürnasen Verbrechen und Bösewichten auf die Spur. Heimat der Abenteuer ist die Speicherstadt. „Mich fasziniert die Kombination aus Beständigkeit und Veränderungen“, sagt die Produktionsleiterin der Letterbox Filmproduktion. Just wird Folge 232 gedreht. Das Hauptquartier der pfiffigen „Pfefferkörner“ befindet sich am Sandtorkai.

Blick über das Unesco-Weltkulturerbe Hamburger Speicherstadt.
Blick über das Unesco-Weltkulturerbe Hamburger Speicherstadt. © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez

Dass sich Neu und Alt sinnvoll ergänzen, dass ein Rad ins andere greifen kann, beweist die Zusammenarbeit der Produktionsfirma mit dem Speicherstadtmuseum. Obwohl Lydia Struck seit ihrem Studium der Volkskunde in Hamburg im Projekt Genussmittelkultur ins Speicherstadtmuseum kam und dort mit Führungen begann, ist niemals Alltag eingekehrt. „Immer wieder gibt es Neues zu entdecken“, weiß sie. „Dieses Quartier sieht jeden Tag anders aus.“

Interessante Entdeckungen

Wobei das Entdecken auch wörtlich zu verstehen ist. Vor ein paar Jahren verbarg sich unter einer Bodenklappe des alten Museumsspeichers eine bis dahin unbekannte Kammer. In anderen Speichergebäuden wurden Hohlräume freigelegt, in denen während des Zweiten Weltkriegs wahrscheinlich Menschen versteckt wurden.

 HHLA-Architekt Mirko Schröder kann solche Überraschungen bestätigen. In einem Treppenhaus des Blocks E fanden Arbeiter kürzlich hinter einer unscheinbaren Tür einen fensterlosen Büroraum, dem seit Jahrzehnten niemand Beachtung geschenkt hatte. „Alles wirkt so, als sei just jemand rausgegangen“, sagt Schröder, „um rasch wiederzukommen.“ Daraus wurde nichts. Warum auch immer.

Anfangs gelangten Requisiten mit Winden auf die Böden

Noch älter als die im Kämmerlein gefundenen Tageszeitungen, Unterlagen und nicht ganz jugendfreien Fotos sind Sackkarren, Körbe oder Kaffeesäcke aus dem Museumsfundus. Ausgewählte Erinnerungsstücke wurden ausgeliehen, um in einer der „Pfefferkörner“-Folgen zur Geltung zu kommen. Produktionsleiterin Eva-Maria Eiter und ihre Mitstreiter weben die fabelhafte Kulisse der Speicherstadt geschichtsbewusst in die Serie ein. Anfangs wurden Filmrequisiten wie früher mit Winden durch Luken auf die Böden befördert. Heutzutage hilft ein Techniklift.

„Für diese Transportwege braucht man damals wie heute einen Windenschein“, wirft Gastgeber Frederik Braun in die Runde. Wenn er in der langen Nacht von Mittwoch auf Donnerstag gegen ein Uhr früh den Betrieb verlässt und kein Auto mehr am Brook steht, „kann ich mir vorstellen, wie es damals war.“ Dann gehe sein Herz auf. Diesen Charakter gelte es zu bewahren.

Bastion der Speicherstadt als lebendiges Quartier soll weiterentwickelt werden

Als das Miniatur Wunderland zum neuen Jahrtausend an den Start ging, fanden die beiden Braun-Brüder in den Ritzen zwischen Holzbohlen Kaffeebohnen. Damals war die Speicherstadt noch zollfreie Zone innerhalb des Freihafens. Und Besucher sorgten sich, ob sie mit einem Bierkasten im Kofferraum passieren durften. Oder ob sie einen Ausweis brauchten. Waren in den roten Backsteingebäuden seit 1888 zumeist Kontore und Lager für Teppiche, Kaffee, Tee, Gewürze ansässig, habe sich die Geschäftskultur verändert. Zukünftig könnten die Teppichkaufleute vielleicht an einem Ort untergebracht werden. Etwa 30 bis 40 gibt es noch. In den 1980er-Jahren waren es noch 200.

Im Zentrum zwischen Hamburgs Innenstadt und der wachsenden HafenCity soll die Bastion der Speicherstadt mit 300.000 Quadratmetern Nutzfläche behutsam als lebendiges Quartier weiterentwickelt werden. Modeagenturen wie Boden.4 sind Beispiele für die Zukunft. Parallel sollen traditionelle Werte und angestammte Unternehmenszweige kultiviert werden. Motto der HHLA als Eigentümer des Areals: Eine nachhaltige Entwicklung ist der beste Denkmalschutz.

Architektonische Fantasie mit Fingerspitzengefühl

Schritt für Schritt, Stein um Stein geht’s voran. „Unsere Agentur wird den Showroom modernisieren“, sagt Jenni-fer Kokott, „der einmalige Speichercharme jedoch bleibt erhalten.“ Lydia Struck weist darauf hin, dass die Ausstellungsfläche des Museums Am Sandtorkai nur ein Interimsquartier während des Umbaus der Speicher ist. Ursprünglich für zwei Jahre geplant, sind daraus mittlerweile zehn Jahre geworden. „Es muss hier weiterhin nach Teppich riechen“, meint Eva Maria Eiter – im übertragenen Sinne. Flair und internationaler Nimbus seien traumhaft.

Mirko Schröder freut sich, im Zusammenspiel mit dem Denkmalschutz architektonische Fantasie mit Fingerspitzengefühl und Verstand ausleben zu können. Die Fassaden bleiben. Dahinter sei eine Menge möglich. Kurz skizziert er das aktuelle HHLA-Projekt: Sanierung und Teil-Wiederaufbau der ehemaligen Maschinenzentralstation neben dem Kesselhaus. Nach der Zerstörung im Krieg soll das Gebäude als Teil des Blocks M mit insgesamt 5600 Quadratmetern Nutzfläche auf den historischen Fundamenten auferstehen.

Miniatur Wunderland wird um 50 Prozent erweitert

Auch Frederik und Gerrit Braun wären ohne Visionen und anpackendes Naturell mit ihrem Miniatur Wunderland nicht so weit gekommen. Diese Attraktion wird von aktuell 6500 Quadratmetern um gut 50 Prozent auf 10.000 Qua­dratmeter erweitert. Um direkt von einem Kontinent zum nächsten zu gelangen, wurde die Brücke über den Kehrwiederfleet errichtet. Nach dem intensiven Gespräch im Konferenzraum genießt das Quintett die überragende Sicht.

Man könnte ein Buch schreiben über dieses Treffen. Belassen wir es bei einer Schlussfrage: Welcher Ort in der Speicherstadt ist den fünf Kennern persönlich der liebste? „Der 1888 gebaute und nun sanierte Sandtorkaihof“, antwortet Lydia Struck vom Speicherstadt Museum. Besonders wegen der Ruhe und der Lichtverhältnisse. „Die Poggenmühlenbrücke bei Dunkelheit und der stilvollen Beleuchtung“, sagt Jennifer Kokott von Boden.4. HHLA-Architekt Mirko Schröder mag den Blick vom Katharinenplatz auf den Holländischen Brookfleet und das St. Annenufer.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Eva-Maria Lemke schätzt das Wasserschlösschen. Mit Vorliebe bei einem Feierabendbier auf der Terrasse. Frederik Braun wollte ebenfalls den Sandtorquaihof nennen, wählt nun jedoch das Fleetschlösschen. Am besten mit Aussicht Richtung Hauptsitz der HHLA an der Straße bei St. Annen 1. Das schmucke Bauwerk mit den grünen Türmchen wird von Eingeweihten „Rathaus der Speicherstadt“ genannt. Früher regierten dort die Pfeffersäcke. Sie hatten nicht viel weniger Gewicht als die Ratsherren in der Innenstadt.