Hamburg. Der Richter ließ sich Watt-Kutschen vorführen. Verletzter Insel-Postbote erhält Schmerzensgeld, aber das Strafverfahren wird beendet.
Elsa und Franklin haben die Ruhe weg. Gemächlichen Schrittes trotten die beiden Pferde als Zugtiere über einen Hof auf Neuwerk, in einem Kreis, in einer Acht, so wie ihr Kutscher die Stute und den Wallach lenkt. Und damit genau so, wie Amtsrichter Johann Krieten es ihm vorgibt. Die Probefahrt verläuft unter den kritischen Augen des Gerichts und soll eine Situation nachstellen, die alles andere als glimpflich verlaufen ist.
An ähnlicher Stelle gab es vor zweieinhalb Jahren einen Wattwagenunfall mit drei Verletzten. Wie kam es zu dem Unglück, bei dem die Kutsche umgestürzt ist und die Fahrgäste „herauskatapultiert“ wurden, wie es Inselpostbote Michael Stoppe jetzt erzählt? Es war ein Unglück, bei dem der heute 65-Jährige nach eigenen Angaben dachte: „Das überlebst du nicht?“ Dieser Frage soll an diesem Tag nicht im Gerichtssaal nachgegangen werden – sondern mehr als 120 Kilometer vom Strafjustizgebäude entfernt, auf Neuwerk, umgeben von Nordsee, von Wellen und Wind. Ein Ortstermin im Hamburgs Ortsteil 142.
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Der Kutscher Hendrik B. ist wegen eines Vorfalls vom 7. Februar 2019 wegen fahrlässiger Körperverletzung angeklagt. Dem 27-Jährigen wird vorgeworfen, die Rückfahrt von Neuwerk nach Cuxhaven versucht zu haben, obwohl die Deichsel seiner Kutsche kaputt war. Schon nach wenigen Metern hatte Hendrik B. die Kontrolle über das Gespann verloren. Die Pferde gingen durch.
Die Kutsche kippte, und es kam zu den Verletzungen der Fahrgäste. Amtsrichter Krieten ist ein sehr erfahrener Jurist. Doch dieser Fall sei überhaupt erst der dritte, den er in seiner jahrzehntelanger Zeit als Strafrichter mit einem Ortstermin verhandele, sagt er. Aber die Umstände sind hier eben besonders. Das einzigartige Umfeld mit Wellen und Watt, der Weg neben dem Deich, auf dem der Unfall geschah, die Kutsche und die Zugtiere und ein Wattwagen, der ohne Deichsel unterwegs war – so etwas ist schwerlich in einem nüchternen Verhandlungssaal zu beurteilen.
Ist das Fahren einer Pferdekutsche ohne Deichsel Routine?
Und so sollte an diesem Tag der Angeklagte die Gelegenheit bekommen zu zeigen, ob er seine Kutsche auch ohne Deichsel lenken kann. Am ersten Verhandlungstag hatte er nonchalant erklärt, eine solche Übung sei „nichts Unübliches“ und „kein Provisorium“. Da klang das Fahren einer Pferdekutsche ohne Deichsel nach Routine. Wie aber ist so eine Situation in der Realität?
Deshalb sind am frühen Donnerstagmorgen die Verfahrensbeteiligten nach Cuxhaven zur „Alten Liebe“ angereist, haben die „MS Flipper“ bestiegen, die den Richter, die Staatsanwältin, den Protokollführer, den Sachverständigen, den Nebenkläger nebst Anwalt sowie Pressevertreter nach Neuwerk bringt. Vom Anleger geht es einige Schritte zu einem Hof, der wie der Angeklagte Wattwagen-Touren anbietet.
Demonstrations-Veranstaltung mit einer Kutsche
Dort wartet bereits eine Kutsche mit zwei eingespannten Kaltblütern, die das Gericht für eine Demonstrations-Veranstaltung organisiert hatte. Hier ist eine Deichsel so angebracht, wie es üblicherweise zu erwarten ist. Einige Meter entfernt steht der Wattwagen der „Wattenpost“ des Angeklagten Hendrik B., noch ohne Pferde – und ohne Deichsel.
Ein Gerichtstermin unter freiem Himmel und vor ungewöhnlicher Kulisse. Der Amtsrichter lässt ausführlich erklären, wofür die Deichsel genau ist, wie hoch die Fahrgäste auf dem Wattwagen sitzen und welche Eigenschaften Pferde haben müssen, um sich als Zugtiere für Kutschfahrten im Watt zu eignen.
Eins der beiden Pferde war wohl schon am Morgen unruhig
An jenem verhängnisvollen Februartag vor zweieinhalb Jahren ist jedenfalls so gar nichts gelaufen, wie es sein sollte. Eins der beiden Pferde von Hendrik B. war wohl schon am Morgen unruhig. Von den Tieren wurde der Wagen offenbar so stark gegen eine Mauer gezogen, dass dort ein Stein herausbrach – und die Deichsel. Trotzdem hatte der Kutscher den Wagen und die Pferde für die nächste Tour eingesetzt. „So wie ich das gerichtet habe, wird das häufiger gemacht“, hat der Landwirt am ersten Verhandlungstag gesagt.
Ein Fahrgast hatte besorgt gefragt, ob das „nicht gefährlich“ sei, so ohne Deichsel. Doch der Kutscher fuhr trotzdem los. Den Vorhalt, er habe sich darauf verlassen, es werde „schon alles gutgehen“, will der Angeklagte so nicht gelten lassen. Er habe „alles unternommen unter Sicherheitsaspekten. Aber ein Pferd ist ja immer noch ein Fluchttier“. Und wie auf der Flucht haben sich die Tiere dann damals verhalten.
Wagen fing an zu schlingern
„Die sind abgegangen wie eine Rakete“, erzählt der Inselpostbote, der damals neben dem Kutscher saß. „Der Wagen fing an zu schlingern. Dann wurde ich aus der Kutsche herauskatapultiert.“ Er habe für einen Moment mit dem Leben abgeschlossen. Als er nach kurzer Bewusstlosigkeit aufwachte, merkte er, dass er mehrere Verletzungen davongetragen hatte. Bis heute leide er unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, sagt der 65-Jährige.
Er habe sich vorzeitig pensionieren lassen müssen, obwohl er seine Zeit als Inselpostbote gern „bis zu Ende“ gemacht hätte. 21.000 Euro seien ihm durch die frühe Pensionierung entgangen. Die möchte der Cuxhavener, der in dem Prozess als Nebenkläger auftritt, gern als Schadenersatz haben. Der Angeklagte Hendrik B. hatte den Postboten indes als jemanden dargestellt, der den Unfall als Vorwand genutzt habe, um nicht mehr arbeiten zu müssen.
Die beiden Pferde leben nicht mehr
Die beiden Pferde, die an dem Unfall beteiligt waren, leben nicht mehr. Nachdem die Tiere damals losgerannt waren und die Kutsche umkippte, hatte Hendrik B. sie zwei Tage später zum Schlachter gegeben. Für eine Demonstration seiner Fahrkünste ohne Deichsel will der Angeklagte nicht auf das vom Gericht angemietete Gefährt zurückgreifen. Er hat ein eigenes mitgebracht. Nun also sind das Kaltblut Elsa und das Schwere Warmblut Franklin vor den Kutschwagen der „Wattenpost“ gespannt, einen Wagen, der für diese Demonstration ohne Deichsel unterwegs ist.
„Fahren Sie mal im Kreis“, fordert Amtsrichter Krieten den Angeklagten auf. Der erledigt das, mit recht angespannter Miene, aber fehlerfrei. „Und nun bitte eine Acht“, lautet die Anweisung des Vorsitzenden. Auch das klappt. Die Deichsel, meint Kutscher Hendrik B., sei „lediglich ein Hebel, um das Lenkverhalten zu verbessern. Aber nicht um zu verhindern, dass sich die Pferde ins Gehege kommen.“
Einen anderen Anbieter von Wattwagen-Touren vernimmt das Gericht vor Ort als Zeugen. „Wir haben immer Ersatzdeichseln auf Lager, erklärt Hans-Werner F. „Wären Sie ohne Deichsel gefahren“, möchte der Richter wissen. „Wir haben gesehen, dass es geht“, sagt der Zeuge nach einem Moment des Überlegens. „Wenn ich in der Not wäre, würde ich gucken, ob ich es wage.“ Bis nach Cuxhaven würde er ohne Deichsel aber nicht fahren, sagt der 63-Jährige.
Insgesamt ist es gut gelaufen für den Angeklagten
„Ich möchte nicht alles machen, was machbar ist.“ Die Demonstration hat aber noch etwas anderes gezeigt: Eine Deichsel kann nicht unbedingt verhindern, dass die Kutsche auf die Pferde auffährt. Zeugen hatten geschildert, dass genau dies vor dem Unfall passiert sei und die Tiere deswegen durchgegangen seien. Aber nun ist klar: Hundertprozentig gefeit wäre man auch so nicht vor einem Unglück. Es ist also insgesamt gut gelaufen für den Angeklagten.
Und so versammeln sich die Verfahrensbeteiligten nach der Kutschfahrt-Demonstration in einem Gebäude der Außenstelle der Hamburg Port Authority. „Ich bin froh, dass dieser Ortstermin hier heute stattgefunden hat“, zieht Richter Krieten jetzt Bilanz. „Weil er doch eine andere Sicht ergeben hat, was technisch ablaufen kann und was möglicherweise abgelaufen ist.“
27-Jährige hatte sich zu der Vorführung bereit erklärt
Er wolle „nicht verhehlen“, sagt der Vorsitzende an die Adresse des Angeklagten, „dass Sie sich vor zweieinhalb Wochen um Kopf und Kragen geredet haben“. Eigentlich hätte Kutscher Hendrik B. „ganz kleine Brötchen backen“ und sagen müssen, dass ihm der Wattwagenunfall leid tue. Statt dessen habe er Attitüde gehabt nach dem Motto: „Was wollt ihr eigentlich.“ Ohne Deichsel zu fahren sei „doch der Normalfall“. Und der Briefträger sei ein „Weichei“, der sich ohnehin gern vor der Arbeit drücke. „Schlechter konnte es eigentlich nicht laufen“, so der Richter.
Aber jetzt sei sehr wohl positiv zu würdigen, dass der 27-Jährige sich zu der Vorführung bereit erklärt habe. „Sie haben sich in Gefahr begeben, dass es schief geht.“ Die Vorführung der Fahrten mit und ohne Deichsel hätten „Einblicke gegeben, die man nach Papierlage nicht hatte. Am Morgen, da sei es noch denkbar gewesen, dass eine Freiheitsstrafe herauskommt, die Verhängung eines Berufsverbotes hätte überlegt werden müssen. „Aber das Gericht schießt nicht so aus der Hüfte.“
Verfahren wird gegen eine Zahlung von 8000 Euro eingestellt
Und das Ergebnis des Ortstermins lautet: Die Schuld, die Hendrik B. auf sich geladen hat, ist nicht so erheblich, als dass er verurteilt werden muss. Das Verfahren wird – mit Zustimmung des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft – gegen Zahlung von 8000 Euro eingestellt. 5000 Euro zahlt Hendrik B. zugunsten des Naturschutzvereins „Jordsand“, 3000 Euro bekommt als Schmerzensgeld der Inselpostbote Michael Stobbe. Ob er darüber hinaus auf Schadenersatz klagt, ist noch offen.
Die Entscheidung im Prozess jedenfalls könnte den sozialen Frieden wiederherstellen. Es wäre ein schönes Ergebnis eines besonderen Verhandlungstages. Mittlerweile ist das Wasser zwischen Neuwerk und Festland abgelaufen. Zurück geht es mit einem Wattwagen – von einem Trecker gezogen, nicht von Pferden