Hamburg. Verdächtige dürfen nicht mehr ohne Anwalt aussagen – mit drastischen Folgen für die Hamburger Justiz.
Gut gemeint, aber nicht gut gemacht – das ist die Meinung der Staatsanwaltschaft zu einem neuen Regelwerk für die Strafverfolgung von jungen Tätern, das in der Hamburger Justiz für Frust sorgt. Grund: Das sogenannte Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren soll auf dem Papier den Rechtsbeistand von Jugendlichen und Heranwachsenden stärken. In der Praxis aber konterkariert es laut Staatsanwaltschaft alle Bemühungen, die oft langwierigen Verfahren schneller abzuschließen.
Das Gesetz wurde nach Vorgaben der EU bereits im Jahr 2019 verabschiedet. Nun seien die negativen Folgen spürbar, heißt es von Ermittlern. So können Jugendliche und Heranwachsender bis 21 Jahren nur noch in Beisein eines Verteidigers vernommen werden. „Selbst wenn man einen Täter im Streifenwagen sitzen hat und er dort reinen Tisch machen will, muss ein Polizist ihm ins Wort fallen und die Aussage unterbinden“, sagt ein Beamter.
Verteidiger muss zunächst Akteneinsicht bekommen
Sie würde ohnehin nichts nützen. Eine ohne Rechtsbeistand abgegebene Aussage unterliegt mittlerweile nämlich einem sogenannten Verwertungsverbot. Sie kann in einem Strafverfahren nicht genutzt werden. Stattdessen muss die Polizei einen Pflichtverteidiger hinzuziehen. Der kann aber nicht einfach angerufen werden und kommen. Staatsanwaltschaft und auch das Gericht müssen zunächst eingeschaltet werden.
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Zudem muss der Verteidiger zunächst Akteneinsicht bekommen. Das bedeutet, dass eine Vernehmung eines unter das Jugendstrafrecht fallenden Täters in der Regel erst nach Wochen möglich ist. Theoretisch. In der Praxis führt das neue Gesetz sogar dazu, dass es so gut wie keine Aussagen von beschuldigten Jugendlichen oder Heranwachsenden mehr gibt.
Selbst Zeugenaussagen sind selten geworden
So stellt die Staatsanwaltschaft in einem internen Bericht fest, dass viele Fälle nicht mehr „durch ein klärendes Gespräch und einer schnellen erzieherischen Intervention“ gelöst werden könnten. Und das, obwohl es nicht nur im Sinne der Strafverfolgungsbehörden, sondern auch im Sinne der Beschuldigten sei. Das habe fatale Folgen. Gerade Ersttäter, die früher innerhalb kurzer Zeit durch ein „normenverdeutlichendes Gespräch“ wieder auf den rechten Weg zurückgeholt werden sollten, erhalten eine solche Ansprache oft nicht mehr.
Selbst Zeugenaussagen sind rar geworden, heißt es aus Ermittlerkreisen. Da viele Taten innerhalb von Jugendgruppen begangen werden – wie beispielsweise am Brennpunkt Jungfernstieg – können einschreitende Polizisten häufig nicht sofort unterscheiden, wer Täter und wer Zeuge ist. Die Folge: Niemand wird mehr vernommen. Alle bekommen einen Pflichtverteidiger. Am Ende sagt niemand mehr aus. Das, so die Staatsanwaltschaft, erschwere „die Wahrheitsfindung erheblich“.
Umfangreiche Informationspflichten
Mit dem „Vernehmungsverbot“ sind zudem auch umfangreiche Informationspflichten eingeführt worden. Bundesweit ist von einer Arbeitsgruppe ein Merkblatt erstellt worden, das Beschuldigten ausgehändigt werden muss. Was sich Fachleute mit juristischem Sachverstand ausgedacht haben, übersteige, so stellt man in Hamburg fest, in der Realität deutlich den geistigen Horizont der jungen Kriminellen. Diese seien gar nicht in der Lage, „die umfangreichen Belehrungstexte zu erfassen“, heißt in der Bewertung der Staatsanwaltschaft.
Dass überhaupt zeitnah Fälle aufgeklärt werden, liegt der Staatsanwaltschaft zufolge mittlerweile an der recht guten Videoüberwachung an Brennpunkten der Jugendkriminalität. So konnte ein Angriff auf Mitarbeiter des Sicherheitspersonals in der Europa Passage im März dieses Jahres vor allem durch Aufnahmen aus Überwachungskameras geklärt werden. Der Fall hatte für großes Aufsehen gesorgt, da einer der Wachleute leblos zusammengebrochen war und reanimiert werden musste.
Erhöhter Aufwand
Die Aufnahmen hatten nicht nur gezeigt, wer an der Attacke, die sich wegen des Fehlens einer Mund-Nasen-Bedeckungen entzündet hatte, beteiligt war. Sie zeigten auch, dass der Wachmann, der zusammengesackt war, überhaupt nicht angegriffen worden war. Er war plötzlich erkrankt. „Der Fall zeigt, dass Ermittlungen auch entlastende Aspekte hervorbringen. Fallen Aussagen weg, kann sich das, sind nicht gerade klärende Videoaufzeichnungen zur Hand, sogar nachteilig für den Beschuldigten auswirken“, so ein Beamter.
Laut Staatsanwaltschaft sei es in Hamburg durch die Neuregelung „zu einer erhöhten Verfahrensdauer, erhöhten Kosten aufgrund erheblich gestiegener Verteidigungsbeiordnungen sowie erhöhtem Aufwand auf allen Ebenen“ gekommen. Dabei waren auch die Vorzüge des neuen Regelwerks nicht zuerst für Deutschland gedacht – sondern für EU-Länder, die recht lax mit den Rechten minderjähriger Verdächtige umgingen.