Hamburg. Bei der Wahl zum Landesvorsitz der Grünen geht es im Duell von Maryam Blumenthal und Sina Demirhan auch um eine Weichenstellung.

Es war vor ziemlich genau 13 Jahren, im Juni 2008, als die Hamburger Grünen eine zumindest der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte junge Frau zu ihrer neuen Vorsitzenden wählten. Nötig war das, weil die bisherige Landeschefin Anja Hajduk als Stadtentwicklungssenatorin in den schwarz-grünen Senat eintrat und den Parteiposten aufgab. Die Trennung von Amt und Mandat war und ist bei den Grünen Usus.

Die „Neue“ bewährte sich intern schnell und stieg rasch auf: 2011 zog sie in die Bürgerschaft ein, 2015 wurde sie Senatorin, und 2020 schickte sie sich an, Bürgermeisterin zu werden. Das misslang zwar, aber es ist dennoch keine Frage: Für Katharina Fegebank war der Landesvorsitz der Grünen das Sprungbrett zu einer beeindruckenden politischen Karriere.

Die Grünen wählen eine neue Vorsitzende

Auch ihr damaliger Co-Vorsitzender in der Parteizentrale, Anjes Tjarks, hat es weit gebracht – er ist seit 2020 Verkehrssenator. Und Fegebanks Nachfolgerin an der Parteispitze hat der Posten ebenfalls nicht geschadet: Anna Gallina, die das Amt 2015 übernahm, ist seit 2020 Justizsenatorin.

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Warum das hier erzählt wird? Nun, an diesem Wochenende beginnt die Geschichte erneut von vorn: Die Grünen wählen eine neue Vorsitzende – mindestens. Vielleicht wählen sie aber auch ihre künftige Galionsfigur, quasi eine neue Katharina Fegebank. Wer weiß, auszuschließen ist das angesichts der Vorgeschichte dieses Postens zumindest nicht.

Stabwechsel wurde bei den Grünen von Corona durchkreuzt

Doch der Reihe nach: Als Mitglied der Regierung muss auch Gallina den Chefsessel in der Parteizentrale wieder räumen. Eigentlich hätte das längst vollzogen sein sollen, doch wie so vieles wurde auch dieser Stabwechsel von Corona durchkreuzt. Da die Durchführung eines Parteitages lange schlicht nicht möglich war, wurde der Termin immer wieder verschoben, bevor sich die Partei für ein digitales Format entschied.

Und so wird sich der Showdown an diesem Sonntag nicht nur im Bürgerhaus Wilhelmsburg abspielen, wo die Protagonisten vor die Kamera treten, sondern auch in Hunderten Hamburger Wohnzimmern, wo die Parteimitglieder das Geschehen per Livestream verfolgen und ihr Votum abgeben können.

Mehr als 4000 Mitglieder der Grünen dürfen abstimmen

Dieses Setting trägt mit dazu bei, dass sich kaum jemand eine Prognose traut, wer das Rennen machen wird: Maryam Blumenthal (35) aus Volksdorf, viele Jahre in der Wandsbeker Bezirkspolitik aktiv und dort Vorsitzende des Grünen-Kreisverbands, seit 2020 in der Bürgerschaft, auf Anhieb Vize-Fraktionschefin. Oder Sina Demirhan (26) aus Eimsbüttel, dort ebenfalls früher in der Bezirkspolitik aktiv, bevor sie vor 1,5 Jahren in die Bürgerschaft einzog und dort bereits den Vorsitz im Schulausschuss hat.

„Unübersichtlich“, „nicht greifbar“ sei die Lage, sagen Parteimitglieder. Das liege vor alle daran, dass die Grünen in wenigen Jahren von gut 1500 auf mehr als 4000 Mitglieder gewachsen seien, man viele der „Neuen“ noch kaum kenne und daher nicht einschätzen könne, wer sich mit welcher Motivation an der für alle Mitglieder offenen Versammlung beteiligen werde.

Unterschiede zwischen den Bewerberinnen muss man mit der Lupe suchen

Hinzu kommt: Auf den ersten Blick muss man die Unterschiede zwischen den Bewerberinnen mit der Lupe suchen. Zwei junge Frauen, die gleichwohl beide schon etliche Jahre in der Partei aktiv sind, beide Lehrerinnen, beide mit Migrationshintergrund, die zudem auch inhaltlich kaum Differenzen offenbaren. Auf den zweiten Blick stehen Blumenthal und Demirhan jedoch für einen Grundkonflikt, den die Grünen nicht nur in Hamburg auszutragen haben.

Ein nicht unerheblicher Teil der Partei vertritt den Standpunkt, dass Wahlen in der Mitte der Gesellschaft gewonnen werden und dass erst die Überwindung des alten Konflikts zwischen Fundis und Realos, ein geschlossenes, realpolitisches, man kann auch sagen: bürgerliches Auftreten es möglich gemacht haben, in ganz Hamburg ein breites Wählerspektrum anzusprechen. Fegebank ist zweifellos das Gesicht dieses Kurses.

Sina Demirhan steht aus Sicht vieler Mitglieder für den gemäßigten Mitte-Kurs

Viele andere Mitglieder sehen dagegen eher die von der Fridays-for-Fu­ture-Bewegung ausgelöste Klimadebatte als Hauptgrund für den Erfolg. Die Massen an vor allem jungen Menschen, die dadurch zu Grünen-Wählern oder -Mitgliedern wurden und nun ungeduldig auf radikalere Maßnahmen gegen den Klimawandel drängen, dürften nicht enttäuscht werden. Es gelte, sie mitzunehmen und einzubinden – und in Zeiten, in denen Senat und Fraktion an einen rot-grünen Koalitionsvertrag gebunden seien, sei das vor allem Aufgabe der Partei.

Die interne Rollenzuschreibung sieht so aus: Sina Demirhan steht aus Sicht vieler Mitglieder für den gemäßigten Mitte-Kurs, für eine eher moderierende Rolle der Landesvorsitzenden, die sich weniger ins Tagesgeschäft von Senat und Fraktion einmischt. Wer will, findet in ihrer Bewerbung dafür Belege, etwa dass die Partei „mit Katharina als Zweiter Bürgermeisterin erneut ins Zentrum des Regierungshandelns“ eingezogen sei. Oder den Satz: „Meine Bewerbung als eure Landesvorsitzende ist also auch eine Bewerbung darum, diesen Weg des Erfolges weiterschreiben zu dürfen.“

Mit Maryam Blumenthal wird dagegen die Erwartung verbunden, dass die Partei eine deutlich aktivere, in Teilen wohl auch radikalere Rolle einnimmt. Auch sie deutet dieses Ziel in ihrer Bewerbung durchaus an: „Vor uns liegt die Aufgabe, unser Verständnis von der Rolle unserer Partei gemeinsam neu zu konstruieren“, schreibt sie. „Neben einem starken Grünen Senat und einer starken Fraktion müssen wir zu einem Dreiklang finden, in dem zum einen Aufgabenklarheit und zum anderen eine enge Verflechtung auf Augenhöhe herrscht.“

Gemäßigt gegen radikal? So schlicht sind die Rollen nicht

Zu dieser Rollenverteilung passen auch die Bewerbungen um die Stellvertreterposten: Auch wenn jedes Vorstandsmitglied einzeln gewählt wird, tritt Demirhan inoffiziell mit René Gögge als Vize in spe an. Der 35-Jährige gehört zu den wenigen Grünen in der Bürgerschaft, die schon seit 2015 dabei sind, er gilt als ruhig und gemäßigt. „Senatstreu“ sei dieses Duo, sticheln die Blumenthal-Anhänger und kritisieren, dass sowohl Demirhan als auch Gögge sich aufgrund ihrer Mandate nicht auf die Parteiarbeit konzentrieren könnten – was aber nötig sei.

Das trifft auf Blumenthal zwar auch zu. Aber sie hat – ebenfalls inoffiziell – den Landesvorsitzenden der Grünen Jugend, Leon Alam, als Wunsch-Stellvertreter an ihrer Seite. Der 24-Jährige hat kein Mandat und dürfte gleichzeitig ein Signal an die vielen jüngeren Mitglieder sein, die sich politisch eher links der Mitte verorten. In diesem Lager wird daher auch unverblümt von einer „Richtungsentscheidung“ gesprochen: Wenn die neue Parteispitze für ein Weiter-so stehe und die junge, eher linke Strömung dort gar nicht vertreten sei, könne das zu großen internen Spannungen führen.

„Viel wird auf die Reden ankommen“

Die Blumenthal-Kritiker unterstellen ihr dagegen, den Parteivorsitz nur als Karrieresprungbrett in den Senat zu sehen. Einige befürchten sogar, dass sie am Thron von Katharina Fegebank rütteln könnte – was Blumenthal aber vehement zurückweist: „Katharina ist das Gesicht und das Herz unserer Partei“, betont sie. Dass sie besonders links oder gar radikal sei, wird in ihrem Umfeld ebenfalls belächelt – und darauf verwiesen, dass sie in Wandsbek lupenreine Realpolitik betrieben und einen rot-grünen Koalitionsvertrag ausgehandelt habe, obwohl Jamaika unter grüner Führung möglich war.

Auch Demirhans Unterstützer können mit der Zuschreibung, sie stehe für ein Weiter-so, wenig anfangen. Sie habe viele Ideen für eine Professionalisierung der Partei, für die Einbindung der Mitglieder und für neue Formate. Der Unterschied zu Blumenthal liege vor allem in ihrem unaufgeregten Politikstil.

Unsicher ist man sich in beiden Lagern allerdings, inwiefern die Mitglieder sich mit solchen Fragen überhaupt beschäftigen werden. „Viel wird auf die Reden ankommen“, heißt es. Ein weibliches Mitglied meint gar etwas verzweifelt, dass manche(r) wohl auch danach entscheide , wie bei den Kandidatinnen die Haare sitzen. Das allerdings wäre für die Grünen recht untypisch.