Hamburg. Der Hamburger Marc Kritzky bekommt nach langer Leidenszeit ein Spenderherz im UKE. Und schließt einen Handel mit sich selbst.
Als Marc Kritzky die 452 Stufen des Michel-Turms erklommen hat, liegt die Stadt in der Sonne unter ihm. Der 55-Jährige ist erst einmal etwas außer Atem. Das würde wohl jedem so gehen, aber für Kritzky ist dieser Aufstieg etwas ganz Besonderes. Der Hamburger hat eine Herz-Transplantation hinter sich. Vor eineinhalb Jahren war er fast schon tot.
Beim langen Warten auf ein Spenderherz im Krankenhaus hat er eine Art Handel mit sich selbst gemacht: Wenn alles gut wird, wenn er das übersteht und sich wieder fit fühlt, dann will er die Aussichtsplattform der Hauptkirche St. Michaelis, 106 Meter über der Elbe, erklimmen.
Und nun steht er hier, wirkt trainiert wie ein deutlich jüngerer Mann, und ist voller Dankbarkeit. Nicht nur dafür, dass Michel-Hauptpastor Alexander Röder ihm den Zugang zum ansonsten wegen Corona für die Öffentlichkeit geschlossenen Turm ermöglicht hat. Sondern vor allem für die zweite Chance, die er bekommen hat.
Hamburger Marc Kritzky verlor fast sein Leben
Es war ein ganz normaler Tag im Herbst 2019, als sein Leben beinahe geendet hätte. Kritzky war schon lange herzkrank. Im August 2019 hatten die Ärzte festgestellt, dass seine Mitralklappe nicht mehr richtig schloss, im September wurde sie rekonstruiert. Der Diplom-Ingenieur erholte sich zunächst nur langsam, absolvierte eine Reha und hatte gerade wieder begonnen zu arbeiten. An diesem sonnigen Tag ging er nun mit seiner Frau Katrin Mehrens erst einkaufen und dann spazieren.
Und es ging ihm gut. Zum ersten Mal habe er wieder das Gefühl, es gehe aufwärts, sagte er seiner Frau, als sie später zusammen zu Hause auf dem Sofa saßen. Sie ging in die Küche, um etwas zu trinken zu holen, und als sie zurückkam, war er auf dem Polster zusammengesunken und zuckte immer wieder. Das war der eingebaute Defibrillator, der unablässig Stromimpulse gab, um sein Herz wieder zum Schlagen zu bringen.
Ehefrau reanimiert herzkranken Mann
Panisch rief Katrin Mehrens den Rettungsdienst. Die Stimme am anderen Ende gab ihr Anweisungen: sofort mit der Herzdruckmassage beginnen, jede Minute zählt. Mehrens wusste nicht, wie das geht, der letzte Erste-Hilfe-Kurs war eine Ewigkeit her. Macht nichts, sagte der Notrufmitarbeiter: „Ich leite Sie da durch.“ Nach dem Takt von „Stayin’ alive“ presste sie rhythmisch auf die Brust ihres Mannes, bis die Retter an der Tür klingelten. „Ich war wie in Trance“, sagt die 54-Jährige.
45 Minuten lang wurde ihr Mann noch zu Hause reanimiert, bis sich die Retter mit ihm auf den Weg ins Heidberg-Krankenhaus machten. Unterwegs musste Kritzky abermals reanimiert werden. Es dauerte, bis Mehrens aus der Klinik die erlösende Nachricht bekam: Ihr Mann war erst mal stabil. Allerdings hatte eine Computertomografie in seinem Kopf Auffälligkeiten gezeigt, die auf eine Schädigung des Hirns infolge von Sauerstoffmangel hindeuten könnten.
Kritzky musste ins künstliche Koma versetzt werden
„Man hat mir gesagt, es sei nicht abzusehen, wie er sein werde, wenn er aufwache, erzählt sie. Kritzky wurde ins künstliche Koma versetzt, sein Körper heruntergekühlt, um die Organe zu schonen. Vier Tage lang saß sie bei ihm am Bett und hielt seine Hand, bis sie plötzlich merkte, dass die sich in ihrer bewegt.
Nach dem Aufwachen erkannte Kritzky seine Frau zuerst nicht, konnte auch kaum verständlich sprechen. Eine harte Zeit. Doch ein weiterer Scan des Kopfes ergab, dass sich die Auffälligkeiten in seinem Gehirn zurückgebildet hatten, er wurde wieder klarer. Auch wenn er weiterhin selbst keinerlei Erinnerungen mehr an seinen Zusammenbruch hat. Oder an die Stunden davor. An den Film, den er am Vorabend gesehen hat. „Da war ein Faden gerissen“, sagt er. Immer wieder fragte er nach, ließ sich seine eigene Geschichte erzählen „und irgendwann schaltete sich mein Hirn wieder ein“.
Verlegung zur Transplantation ins UKE
Dann die Frage: Wie geht es weiter? Kann ich ein neues Herz bekommen? Will ich das? Er wurde ins Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) verlegt. Sein Körper war so ausgebrannt, dass er nicht nur zur Transplantation angemeldet wurde, sondern auch zügig auf eine Hochdringlichkeitsliste kam. Hier begegnete er auch Christine Oelschner, der Transplantationskoordinatorin für Herz und Lunge im Universitären Herz- und Gefäßzentrum des UKE.
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Fast vier Monate lang musste er warten, bis es so weit war. In der Klinik, zu Hause wäre die Gefahr zu groß gewesen. Und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Am 21. Februar 2020 – den Tag kann er wie aus der Pistole geschossen nennen – wurde er informiert, dass möglicherweise ein passendes Herz für ihn gefunden war. „In dem Moment schaltete sich bei mir das Gehirn aus, ich war nicht mehr in der Lage, meine Sachen zusammenzupacken“, erzählt er.
Kritzky überdachte den eigenen Glauben
Parallel dazu fuhr ein Team zu dem Spender, um zu prüfen, ob dessen Herz infrage kam. Abends gegen 20 Uhr wurde Kritzky auf die Operation vorbereitet. Morgens um 5 Uhr erhielt seine Frau den Anruf: Die Transplantation ist geglückt.
Kritzky betrachtet sich selbst als nicht religiös. Aber in den Monaten in der Klinik, in seinem Zimmer, hatte er viel Zeit zum Nachdenken. Darüber, wie viel Glück er hatte, wie dankbar er ist – seinen Ärzten, dem Team des UKE und natürlich dem Spender, der den Vorschriften entsprechend anonym bleibt, aber dem er so viel zu verdanken hat. „Und ich kam zu dem Schluss, dass da vielleicht doch jemand dahintersteckt, der lenkend in mein Leben eingreift.“ Also besucht Kritzky nun Orte, um sich zu bedanken. Orte wie den Michelturm.
Enge Begleitung von UKE-Transplantationskoordinatorin
Anfang April 2020 konnte er wieder nach Hause. Vor allem in der ersten Zeit begleitete ihn stets die Angst: Sein Körper kann das neue Herz jederzeit abstoßen. Täglich muss er 25 Tabletten einnehmen. Sie unterdrücken die Immunreaktion, machen aber auch beispielsweise Infektionen besonders gefährlich. Jedes Mal, wenn sein Blutdruck absackt, ist sofort die Panik da, es könnte etwas Schwerwiegendes sein. Doch die UKE- Transplantationskoordinatorin Christine Oelschner begleitet die Patienten eng.
Kritzky und seine Frau sind längst per Du mit ihr. Sie können sie jederzeit anrufen. Etwa wenn er versehentlich einen Schokoriegel gegessen hat, der Nüsse enthält, sie eigentlich verboten sind. Oder das Blutbild Auffälligkeiten zeigt. „Frau Oelschner ist immer da, das ist eine Riesenerleichterung“, so Kritzky. Mit ihr haben er und seine Frau in den eineinhalb Jahren mehr Zeit verbracht als mit manchen Familienmitgliedern.
2020 wurden am UKE 28 Herzen transplantiert
Am Herzzentrum des UKE wurden im vergangenen Jahr 28 Herzen transplantiert, deutschlandweit waren es 339. Aber 700 Menschen warteten 2020 auf ein neues Herz, 77 von ihnen standen in dieser Woche auf der Hochdringlichkeitsliste der Stiftung Eurotransplant, die Organe an geeignete Empfänger vermittelt. Aber auch dringend transplantationsbedürftige Patienten warten meist drei bis sechs Monate auf ein neues Herz.
Derzeit sind es am UKE acht Menschen, darunter zwei Kinder. Jeden Tag, sagt Oelschner, sterben in Deutschland drei Menschen, weil sie kein passendes Organ bekämen. Sie hätte sich ebenso wie die allermeisten Transplantationsmediziner eine Widerspruchslösung gewünscht, als das Organspendegesetz 2019 vom Bundestag novelliert wurde.
Ein neues Leben mit Einschränkungen
Oelschner wünscht sich, dass sich jeder zu Lebzeiten einmal mit dem Thema Organspende auseinandersetzt und seine persönliche Entscheidung dazu in einem Organspendeausweis einträgt. Man könne eine Spende auch ablehnen, aber mit einer Entscheidung, die man zu Lebzeiten trifft, würden die Angehörigen entlastet, die im Ernstfall eine Entscheidung treffen müssen. Komme es dazu und Angehörige müssten entscheiden, lehnten leider 60 Prozent eine Organspende ab.
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Kritzkys neues Leben ist nicht ohne Einschränkungen. Er weiß, dass man mit einem transplantierten Herz durchschnittlich zehn bis 20 Jahre leben kann, manche schaffen aber auch 35 Jahre. Der Diplom-Ingenieur arbeitet wieder, 5,5 Stunden am Tag, auch wenn er eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beziehen könnte. Doch das ist ihm wichtig. Er will sein altes Leben zurück, will wieder reisen mit seiner Frau, wenn die Corona-Pandemie hinter uns liegt.
Hamburger ist voller Dankbarkeit für Spenderherz
„Das Herz zu spenden“, sagt Kritzky, bevor er sich an den Abstieg vom Michelturm macht, „das ist ein wahres Zeichen der Nächstenliebe.“ Und das meint er auch im christlichen Sinn. Der 55-Jährige weiß nicht, wessen Herz da nun in seiner Brust schlägt, da ist der Datenschutz außerordentlich streng. Nur so viel: Das Herz gehörte einem jungen Menschen.
Kritzky hat dessen Familie einen Brief geschrieben, der über die Transplantationskoordinatorin weitergegeben wurde. Sehr lange hat er überlegt, was er schreiben soll, und sich am Ende bedankt für dieses unglaubliche Geschenk, das ihm neues Leben ermöglicht. Die Familie, soweit ist bekannt, hat seinen Brief erhalten. Nur ein Wunsch ist nun noch offen: „Es wäre das Größte, wenn sie mir zurückschreiben würde“, sagt Kritzky.