Hamburg. „Die Toten können uns retten“: Klaus Püschel gibt in seinem neuen Buch tiefe Einblicke in die Welt der Rechtsmedizin.

Er sieht sich als Detektiv in Weiß oder Grün: Klaus Püschel, langjähriger Chef der Hamburger Rechtsmedizin, hat in seinen viereinhalb Jahrzehnten als Gerichtsmediziner diverse Fälle untersucht – vom plötzlichen Kindstod bis hin zu den Taten von Serienkillern, von Aids bis Ehec. Vom Ehrenmord an der 16-jährigen Morsal bis zu den lange nicht aufgeklärten Göhrde-Morden, von Unfalltoten bis zum Untergang der Barkasse „Martina“ während einer Geburtstagsfeier 1984 in der Elbe, der 19 Menschen in den Tod riss.

Neben spektakulären Fällen beschreibt er in seinem neuen Buch mit dem Titel „Die Toten können uns retten“, das er zusammen mit Abendblatt-Autorin Bettina Mittelacher spannend aufgeschrieben hat, insbesondere die Rolle und Arbeitsweise der Rechtsmedizin selbst – und ihren Wandel. „Lange hat sich diese Wissenschaft wenig geändert, in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten jedoch gab es rasante Sprünge“, sagt er und nennt DNA-Analysen, verfeinerte toxikologische Untersuchungen und den verstärkten Einsatz von bildgebenden Verfahren.

„Die Methodik ist um ganze Dimensionen besser geworden“, so Püschel. Sie müssten nur konsequent eingesetzt werden, was angesichts beschränkter finanzieller Mittel der Rechtsmedizinischen Institute bisweilen nicht möglich ist.

Klaus Püschel bringt Buch heraus

Der Tod, so begriff der 69-Jährige bereits während seines Studiums in Hannover, „bedeutet in der Wissenschaft nicht das Ende“. Auch wenn dem Toten auf dem Sektionstisch nicht mehr geholfen werden kann, gibt die Obduktion doch Aufschluss über Verletzungsmuster und Krankheitsverläufe. So lassen sich oftmals nicht nur die einzelnen Fälle erhellen – sondern auch Menschenleben retten.

Die Aufklärung eines tödlichen Schütteltraumas bei einem Kind kann sein Geschwister retten, das Wissen um eine Seniorin, die von ihrem Pfleger erstickt wurde, kann ihre Mitpatientin vor dem gewaltsamen Tod bewahren. „Jeder Körper erzählt eine Geschichte“, sagt Püschel, und Gerichtsmediziner könnten „die Sprache der Toten“ verstehen. Wobei: „Die Krankheit, auf die ich am häufigsten stoßen sollte, war die Gewalt.“

Klaus Püschel: „Die Toten können uns retten“,Quadriga-Verlag, 20 Euro Quadriga
Klaus Püschel: „Die Toten können uns retten“,Quadriga-Verlag, 20 Euro Quadriga © Quadriga

Besonders erschüttert hat ihn nicht nur der Tod des afghanischen Mädchens Morsal, das von seinem Bruder getötet wurde, sondern auch das 20 Monate alte Kind, das im Gartenteich ertrank. Anschaulich beschreibt er beispielsweise den Tod von St.-Pauli-Killer Werner „Mucki“ Pinzner, der 1986 bei seiner Vernehmung ein Blutbad anrichtete. Aber: Wenn Rechtsmediziner in Fernsehkrimis zum Einsatz kommen, hat das mit der Realität wenig zu tun, so Püschel.

Oft wird man als Gerichtsmediziner Zeuge von vergangenem Schmerz

„Hier wird nach Belieben aufgebrezelt, gestrafft und gestylt.“ Anstatt modischer Gummistiefel, wie sie Rechtsmediziner Boerne im Münster-Tatort trägt, stecken seine Kollegen und er im wahren Leben in weißen Ganzkörperanzügen, die sogar trainierte Athleten übergewichtig aussehen ließen, so Püschel. „Wenn wir tatsächlich am Tatort so herumtrampeln würden wie einige unserer TV-Doubles, würden die Experten von der Spurensicherung vermutlich 1000 Tode sterben.“

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Detailliert beschreibt er die Abläufe am Tatort und im Sektionsraum. Das Credo: „Genau hinsehen, alles hinterfragen, auch das Unwahrscheinliche in Betracht ziehen und das scheinbar Unmögliche nicht ausschließen.“ Manche Sektionen hätten auch etwas Tröstliches, wenn sich herausstelle, dass das Opfer nicht leiden musste. Doch oft werde man als Gerichtsmediziner Zeuge von vergangenem Schmerz, erzählt Püschel, der in jungen Jahren zunächst Sportmediziner werden wollte.

„Die Toten können uns retten“

„Die Toten können uns retten“ – diesen Titel seines Buches bezieht er ausdrücklich auch auf die Corona-Pandemie. Püschel war als Leiter der Hamburger Rechtsmedizin 2020 der Erste, der – zunächst entgegen der Empfehlung des Robert-Koch-Instituts (Püschel: „für mich schlicht Ignoranz“) – die Corona-Toten obduzieren ließ, um mehr über den Krankheitsverlauf und die Schädigung der Organe zu erfahren.

Davon hat auch die Behandlung der Lebenden profitiert, etwa indem heute früh Thrombosen entgegengewirkt wird. Er wollte „herausfinden, welche Türen den einzelnen Viren im Inneren des Körpers am häufigsten geöffnet werden“, so Püschel. Im Buch beschreibt er ausführlich, welchen Schaden das Virus im Menschen anrichtet und was man daraus lernen kann.

Corona-Impfkampagne muss mehr Tempo vorlegen

Und, ganz aktuell: Natürlich müssten Impfstoffe und neue Medikamente sorgfältig erprobt werden. „Aber nach der großartigen Errungenschaft der Firma Biontech, die in Rekordzeit das segensreiche Mittel entwickelt hat, hätte ich mir gewünscht, dass die für die Zulassung von Impfstoffen zuständigen Behörden wie die Impfkampagnen etwas mehr Tempo vorgelegt hätten“, schreibt er in seinem Buch. „Es geht hier immerhin um Menschenleben.“

Als Rechtsmediziner weiß Püschel nur zu genau, dass der Tod zum Leben dazugehört und das einzig Sichere ist. Auch wenn er gern lebt, wie er schreibt, und seine Enkelkinder aufwachsen sehen möchte, ist dieses Wissen für ihn eine Bereicherung: „Wer sich mit dem Tod auseinandersetzt, statt ihn zu verdrängen oder zu leugnen, lebt freier und intensiver“, ist er überzeugt. „Er kostet sein Leben aus, verschwendet weniger wertvolle Momente und Gelegenheiten, meidet Gefahren, lacht mehr, lebt gesünder, inniger.“