Hamburg. Wohnidylle im Hamburger Süden oder Reserve für eine mögliche Hafenerweiterung? 740 Menschen leben in Unsicherheit.

Das alte Schild hängt noch. „Grundschule Moorburg“ steht darauf. Doch der Schulbetrieb wurde bereits vor mehr als zehn Jahren aufgrund fehlender Anmeldezahlen eingestellt. „Märchenkeramik Atelier“ ist stattdessen auf einem Aufkleber an der Tür zum ehemaligen Verwaltungstrakt der Schule zu lesen. Die Gebäude sind heute Sitz des Kulturvereins Elbdeich.

Moorburg, einer der ältesten Stadtteile Hamburgs hat in den fast 700 Jahren seines Bestehens vieles erlebt. Kriege und Stürme. Den Kampf gegen die Franzosen an der Moorburger Schanze 1814 oder das Fährunglück auf der Alten Süderelbe 1861, bei dem sieben Milchbauern ertranken. Das Haus des Fährmanns steht heute noch.

Fast jedes Haus in Moorburg erzählt seine eigene Geschichte. Ein großformatiges Bild an der Wand der Schule berichtet von der jüngsten Entwicklung: der Bedrohung durch die Ansiedelung der Industrie. Links auf dem Gemälde sieht man die Containerkräne des Umschlagterminals Altenwerder, rechts die mächtigen Türme des Kohlekraftwerks Moorburg.

Moorburg ist erneut in Aufruhr

Dazwischen eine stilisierte Schlickdeponie, die die Hafenbehörden in Moorburg errichten wollten, im Hintergrund die Baustelle für den neuen Anschluss der Autobahn A 26. Und mittendrin – umzingelt von den Großbauten – zeigt das Bild die Comicfigur Miraculix, der seinen Zaubertrank für Asterix und das unbeugsame gallische Dorf braut. Das Bild steht stellvertretend für die derzeitige Lage des Dorfes Moorburg und seiner gut 700 Einwohner.

Seit bald 40 Jahren schwebt über ihnen das Damoklesschwert der Vertreibung, weil Moorburg von der Stadt als Flächenreserve für eine mögliche Hafenerweiterung gehalten wird. Seitdem belastet die Bewohner die Ungewissheit über ihre Zukunft – und um die Auseinandersetzung zwischen Industrie und Wohnraum. An vielen Häusern hängen Protestplakate mit einem stilisierten Bild der alten Moorburg, das hier einst gestanden hat.

Blick über das inzwischen vom Netz gegangene Kohlekraftwerk Hamburg-Moorburg.
Blick über das inzwischen vom Netz gegangene Kohlekraftwerk Hamburg-Moorburg. © dpa

Und nun ist das gallische Dorf an der Elbe, das sich etwa einen Kilometer entlang des Elbdeichs schlängelt, erneut in Aufruhr. Denn kürzlich hat die Hamburger Handelskammer einen Plan zur Weiterentwicklung des Hamburger Hafens vorgelegt, in dem auch Moorburg eine Rolle spielt. Die Idee: Rund um den geplanten Bau eines Elektrolyseurs zur Herstellung von Wasserstoff auf dem Gelände des mittlerweile außer Betrieb genommenen Kohlekraftwerks Moorburg könnte ein Klima- und Energiehafen mit Industriebetrieben entstehen.

Der Plan fußt auf dem Hafenentwicklungsgesetz von 1982, das die Flächen von Moorburg ausdrücklich als Erweiterungsgebiet des Hafens vorsieht. Es bestehe „eine große Herausforderung: den politischen Willen zu entwickeln, das Gebiet einer Hafennutzung zuzuführen“, heißt es in der Vorlage der wichtigsten Hamburger Wirtschaftsvertretung.

Sollte der Plan realisiert werden, müssten die Moorburger und ihre Häuser weichen

Das Problem für die Moorburger: Sollte der Plan realisiert werden, müssten sie und ihre Häuser weichen. Das schmucke Dorf mit seiner wechselvollen Geschichte würde also plattgemacht. „Das war ein Schock fürs ganze Dorf, als wir davon erfuhren“, sagt David Ghrim, Mitglied des runden Tisches Moorburg, der so etwas wie das inoffizielle Sprachorgan der Dorfgemeinschaft ist. Ghrim steht auf dem Deich und schaut auf die Häuser herab, um deren Existenz er bangt.

„Wir hatten eigentlich gehofft, dass Moorburg endgültig erhalten bleiben kann, nachdem nun die Containermengen im Hafen abnehmen. Und dann kam das.“ Aber Ghrim, der hauptberuflich Banker ist, wäre kein Moorburger, wenn er sich nicht kämpferisch zeigen würde. „Wenn das der Plan der Wirtschaft ist, dann müssen wir jetzt einen Gegenentwurf machen. Ein Konzept, mit dem wir Moorburg als lebenswerten Ort weiterentwickeln.“

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Entwicklungskonzepte für Moorburg habe es schon einige gegeben, aber keines sei verwirklicht worden, sagt Manfred Brandt, der 100 Meter weiter westlich auf einem Obsthof wohnt. Brandt ist ein Moorburger Urgestein. 1945 hier geboren, hat er vieles miterlebt. Wie Moorburg nach den schweren Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg erneut aufgebaut wurde, wie die Sturmflut 1962 dem Dorf wieder große Teile entriss – und wie es nun der Industrie geopfert werden soll.

Etwa 85 Prozent der Häuser befinden sich in öffentlicher Hand

Brandt ist ein Intellektueller, promovierter Agrarwissenschaftler, einer der sich politisch stark engagiert hat, Mitgründer des Vereins „Mehr Demokratie“. Den alten Heuboden des Bauernhauses hat er zu einem Kulturzentrum ausgebaut. Dort sitzt er jetzt, trinkt eine Tasse Kaffee und erklärt, warum Moorburg keine wirkliche Chance bekommt. „Es liegt an dem Hafenentwicklungsgesetz.“

Dieses räume der Stadt nicht nur die Möglichkeit des Kaufs von Flächen ein, sondern verbiete auch eine Veränderung der Grundstücke sowie deren Bebauung. Ebenso dürfen weder bauliche Anlagen verändert noch Betriebe errichtet werden. „Im Grunde ist schon das hier nicht zulässig“, sagt Brandt und zeigt auf seinen umgebauten Heuboden. Erlaubt seien nur Maßnahmen, die der Erhaltung der bisher ausgeübten landwirtschaftlichen Bewirtschaftung dienen. „Wie will man da ein Dorf weiterentwickeln?“

Die Folgen sind sichtbar. Zwischen bewohnten Häusern mit gepflegten Vorgärten und kleinen Spielplätzen finden sich immer mehr baufällige Gebäude, deren Fenster blind sind. Die Bewohner sind längst weggezogen, an einen anderen Ort – mit mehr Sicherheit und Zukunftsperspektive. 1800 Einwohner lebten hier 1982, als das Gesetz Moorburg für eine etwaige Hafenerweiterung heranzog.

740 sind es heute. Etwa 85 Prozent der Häuser befinden sich in öffentlicher Hand, werden entweder von der Liegenschaftsverwaltung oder vom städtischen Wohnungsunternehmen Saga betreut. „Die Saga ist auch aktiv und versucht neue Mieter zu finden. Aber viele Häuser stehen unter Denkmalschutz und müssten erst aufwendig saniert werden“, so Brandt. Und das sei mit den rechtlichen Vorgaben schwer durchzusetzen.

Wann immer industrielle Kräfte nach Moorburg greifen, reagieren die Bewohner empfindlich

Brandt führt durchs Dorf und deutet auf verschiedene Häuser. Hier gab es früher einen Kolonialwarenladen“, sagt er. „Und hier eine Bank. Dort gab es mal eine Tankstelle. Und dahinten eine Post.“ Plötzlich steht er vor dem letzten großen Moorburger Verlust: dem Wasserturm. Den echten Wasserturm gibt es schon seit Jahrzehnten nicht mehr, aber das Gasthaus, das dort steht, trägt den gleichen Namen. Astra wurde hier früher ausgeschenkt, verrät ein Werbeschild. Aber aus dem Zapfhahn fließt seit Längerem kein Bier mehr.

Ende 2019 wurde mit dem Wasserturm das letzte Lokal in Moorburg geschlossen. Zumindest das soll sich bald ändern. „Wenn Corona vorbei ist und es wieder wärmer wird, suchen wir aktiv nach einem Pächter“, sagt Brandt. Über die Handelskammer ist er verärgert. „Die hat überhaupt nicht darüber nachgedacht, was sie mit ihrem Papier auslöst bei den Menschen hier. Das war einfach rücksichtslos.“

Wann immer industrielle Kräfte nach Moorburg greifen, reagieren die Bewohner empfindlich. Sie haben erlebt, wie ihre Nachbarn im alten Fischerdorf Altenwerder in den 1970er-Jahren von der Stadt enteignet wurden. Heute steht dort Hamburgs modernstes Containerterminal. Die Moorburger mussten hilflos zusehen, als die Stadt ihnen ein riesengroßes Kohlekraftwerk vor die Tür setzte, das gerade einmal fünf Jahre Strom lieferte, bevor es nun für die Klimawende abgeschaltet wurde. Südlich von Moorburg werden künftig die Felder durch die neue Autobahn A 26 zerschnitten. Westlich trennt die Autobahn A 7 das Dorf von den anderen Dörfern im Alten Land. Moorburg ist eine idyllische Insel inmitten von Beton.

„Es ist erstaunlich, wie stabil das Dorf trotz all der widrigen Umstände geblieben ist“

Dabei präsentiert sich dieses Eiland trotz der Aufgabe vieler Geschäfte nicht als sterbender Ort, sondern quicklebendig. Gerade in den vergangenen Jahren haben sich hier wieder viele junge Menschen angesiedelt, die der Enge der Großstadt entkommen wollten. Eine von ihnen ist die Sozialpädagogin Saskia Hoppen. „Ich würde wahnsinnig gerne hierbleiben, vielleicht auch ein Haus kaufen und das Dorf entwickeln“, sagt sie. Kaufverträge gibt es aber nicht, nur Mietverträge von der Saga, versehen mit dem Passus, dass man innerhalb eines Jahres wieder rausmuss, wenn die Fläche benötigt wird.

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„Es gibt hier viele, die so denken wie ich und die auch die alten Häuser beleben wollen“, sagt Hoppen. „Weil es keine Einkaufsmöglichkeiten mehr gibt, haben die Dorfbewohner Fahrgemeinschaften nach Hausbruch zum Supermarkt eingerichtet. Bekommt eine junge Mutter ein Kind, kochen die Nachbarn für eine Woche vor, um die Familie zu versorgen.“ Die Dorfgemeinschaft halte zusammen, so Hoppen.

„Es ist erstaunlich, wie stabil das Dorf trotz all der widrigen Umstände geblieben ist“, sagt auch Brandt und zählt auf: „In Moorburg gibt es eine sehr aktiven Kirchengemeinde, eine leistungsfähigen Feuerwehr, einen der ältesten Schützenvereine Hamburgs, zwei Kulturvereine und einen Sportverein.“ Das sei der soziale Kitt, der alles zusammenhält. Auch wenn es durchaus widerstreitende Interessen unter den Bewohnern gebe. „Alteingesessene und neu Hinzugezogene sind sich nicht immer in allem einig. Aber wo ist man das schon?“

Gibt es also eine Zukunft für das gallische Dorf an der Elbe?

Hamburgs Wirtschaftssenator Michael Westhagemann scheut derweil den Konflikt mit dem Dorf und hat den Vorschlägen der Handelskammer zumindest vorübergehend eine Absage erteilt. „Die Menschen in Moorburg müssen sich in den nächsten Jahren keine Sorge um ihre Häuser machen“, sagte er kürzlich dem Abendblatt. Aber auch das ist wieder keine dauerhafte Lösung. Eine solche schwebt hingegen dem Fraktionschef der Grünen in der Bürgerschaft, Dominik Lorenzen, vor.

„Unser Ziel ist es, dem Dorf auch langfristig eine Entwicklungsperspektive zu geben und es aus dem Hafenerweiterungsgesetz zu streichen. Dafür werden wir Grünen bei den nächsten Koalitionsverhandlungen kämpfen, so es denn dazu kommt“, sagt. Er verstehe die Bedenken der Wirtschaftsbehörde gegen eine Entlassung aus dem Hafenerweiterungsgebiet. „Und auch wir wollen im Hafen mehr Wertschöpfung generieren. Aber wenn wir uns die Entwicklung anschauen, zeigt sich, dass wir das Dorf Moorburg dafür nicht benötigen.“

Gibt es also eine Zukunft für das gallische Dorf an der Elbe? Die Politik solle mit den Bewohnern darüber sprechen, die ja auch unterschiedliche Vorstellungen hätten, sagt Lorenzen. Eines steht für ihn aber heute schon fest: „Dass das Dorf für immer so konserviert wird, wie es jetzt ist, das glaube ich nicht.“