Boris Herrmann ist ein Segler, der allein die Welt umrundete, und dabei unfassbar viele Menschen berührte und bewegte. Wie macht er das?
Wenn ein Segler es in 80 Tagen einmal um die Welt schafft, 24.000 Seemeilen und eine Rettungsaktion bei der härtesten Einhandregatta genauso heil übersteht wie die drückende, weitgehend schlaflose Einsamkeit und am Ende sogar gewinnen kann bei seiner ersten Teilnahme, als erster Deutscher überhaupt – dann ist es natürlich ein Riesenpech, dass er 85 Seemeilen vor dem Ziel mit einem Fischtrawler kollidiert.
Fast nicht zu glauben, zu traurig, um wahr zu sein. Und irgendwie doch passend zu der Geschichte, die so viele, viele Menschen in den vergangenen Wochen verfolgt haben, die sich vorher weder für Segeln interessiert noch gewusst haben, wer Boris Herrmann ist.
Boris Herrmann ist ein großes Glück für Hamburg
Nun, dieser Boris Herrmann, der mit dem Riesenpech, ist ein großes Glück – für seine Sportart, für seine Heimatstadt Hamburg (und ein wenig auch für seinen Geburtsort Oldenburg) und für all die, die ihn in den jahrelangen Vorbereitungen unterstützt haben. Auf der Vendée Globe ist er zu einem dieser seltenen Helden geworden, für den die Menschen den Sport so lieben, ganz gleich, ob sie gewinnen oder verlieren.
Klar, seine verrückte Geschichte wäre perfekt gewesen, wenn er als Erster ins Ziel gekommen wäre, gerade aus Sicht der Segelexperten, also jener, die schon lange wussten, dass Boris Herrmann ein besonderer Sportler ist. Für alle anderen, und das sind mehr, ist das gar nicht so wichtig. Ja, sie haben mit Boris Herrmann gelitten in seinen letzten Stunden bei der Vendée Globe, aber sie haben sich auch sehr gefreut, als er, deutlich langsamer als geplant, ins Ziel kam. Als er endlich dort war, wo er immer hinwollte, und sich der Traum eines Mannes erfüllt hatte. Einmal dieses Rennen durchzustehen. Er hat es geschafft.
„Ich hatte das Gefühl, als wäre ich mitgesegelt“
Wir haben es geschafft. Denn es hat sich doch in den vergangenen 80 Tagen so angefühlt, als wäre man selbst mit an Bord der „Seaexplorer“. „Ich hatte das Gefühl, als wäre ich mitgesegelt“, hat ein Mitglied meiner Familie gesagt, und das bringt es auf den Punkt. Was man dabei erleben konnte, hatte mit dem Hochseesegeln, wie es die breite Masse kannte, nichts mehr zu tun. So à la: Schiff legt ab, wird kleiner und immer kleiner, ist irgendwann ein Punkt weit hinten am Horizont …
Mit Boris Herrmann auf die Reise zu gehen war, vom Start an, anders. Wie ein Fußballspiel in der Champions League mit Bayern München, bei dem man selbstverständlich in der Halbzeitpause mit in die Kabine gehen und Thomas Müller vor dem Elfmeter noch ein paar Fragen stellen darf.
Boris Herrmann ließ an seiner Reise Fans teilhaben
Jeden Tag gab es neue Bilder von Bord, in beeindruckender Qualität, so weit weg und doch so nah. Am Mikrofon: Der Sportler selbst, der erklärt und berichtet, Fragen beantwortet, sich selbst in der Endphase mit 7200 Fans zum Zoom-Meeting trifft.
Ob er noch mal durchs Schiff führen könne und vielleicht auch zeigen, wie die Stimmung da draußen so ist? Boris Herrmann hat es gern gemacht, er hat Interviews von unterwegs gegeben, eine Videobotschaft für den Neujahrsempfang des Hamburger Abendblatts geschickt, WhatsApp-Nachrichten beantwortet. Und selbst nach dem Unfall am Mittwoch, als die Fans geschockt und bangend vor ihren Computern saßen, kam ein Film.
Eine Stunde nach dem Zusammenstoß, Boris Herrmann im Cockpit, den Blick wie immer fest in die Kamera gerichtet: großer Sport, großes Drama, bei dem man fast live dabei sein kann, zum Glück mit Happy-End, weil der Held erstens nicht verletzt ist und es zweitens noch ins Ziel schafft. Das ist eine neue Qualität von Sportberichterstattung, auch, weil Boris Herrmann Objekt und Subjekt zugleich war.
In der Doppelrolle als Segler und als Hauptdarsteller in seiner eigenen, am Ende fast nicht zu glaubenden Geschichte, war der 39-Jährige unschlagbar. Zwischendurch musste man sich schütteln und bewusst machen: Das ist kein Film, das ist kein (ziemlich gut und interessanterweise nie kaputt aussehender) Schauspieler, der da durch die Meere rast. Das ist echt. Das ist Sport. Hochsee-Segeln in den 20er-Jahren des 21. Jahrhunderts, ein Erlebnis, wie gemacht für unsere YouTube- und Social-Media-Zeit.
Hoher seglerischer Anspruch trifft Lust auf Abenteuer
Boris Herrmann hat eindrucksvoll gezeigt, wie das alles zusammengehen kann, dieser hohe seglerische Anspruch, die Lust an Grenzüberschreitungen und Abenteuer und die Professionalität, wenn es darauf ankommt, die Leute daran teilhaben zu lassen. Was er in diesen Disziplinen gezeigt hat, setzt Maßstäbe und eröffnet dem Segelsport bei der Vermarktung völlig neue Möglichkeiten.
Denn auch für Sponsoren ist es ein Glücksfall, wenn sich ihr Engagement so eng und authentisch mit einem Sportler verbinden lässt, wenn zwischen dem Protagonisten und seinen Fans nichts ist (und Werbebanner perfekt platziert sind).
Nach Meeresmarathon beginnt Interviewmarathon
Keine Kameraleute, keine Regisseure. Das macht den Reiz aus, etwa, wenn Boris Herrmann eine live übertragene Fragerunde damit beginnt, dass er „kurz das Cockpit verlassen muss, weil irgendetwas das Schiff gerammt hat“. So geschehen ein paar Tage vor dem Ende der Vendée Globe, der Sitz an Bord für eine Minute leer, die Menschen zu Hause vor dem Bildschirm, wartend, hoffend, dass nichts Schlimmes passiert ist. Bis Boris Herrmann wiederkommt, die Kopfhörer aufsetzt, und grinst. Alles gut.
Nach dem Meeresmarathon begann für Boris Herrmann der Interviewmarathon. Nach seinem fünften Platz bei der Vendée Globe ist der Weltumsegler ein gefragter Mann. Trotz der Termine fand der 39-Jährige nach den 80 Tagen allein auf den Weltmeeren in den Schlaf. „In einem Bett zu liegen, das sich nicht bewegt, man muss nicht mehr aufpassen – das ist die größte Erlösung nach so einer langen Anspannung“, sagte der Hamburger Segelprofi am Tag nach der Ankunft.
Herrmann kontaktiert Eigner des spanischen Fischkutters
Indessen hat Herrmann Kontakt mit dem Eigner des spanischen Fischkutters aufgenommen, mit dem er am späten Mittwochabend 90 Seemeilen vor dem Ziel der Regatta zusammengestoßen war. „Ich habe den Schiffseigner angerufen und erst einmal gefragt, ob alles okay ist“, sagte der Segelprofi in einer Pressekonferenz. „Wir haben uns nett unterhalten. Auf jeden Fall keine Vorwürfe von meiner Seite.“ Sie hätten sich „nett gegenseitig beieinander entschuldigt“.
Zuletzt hatten Herrmann und der Kapitän des Fischkutters über den Vorfall noch unterschiedliche Ansichten geäußert. Kapitän Josu Zaldumbide hatte der „Süddeutschen Zeitung“ versichert, dass das AIS, durch das Schiffe ihre Navigationsdaten austauschen, bei ihm eingeschaltet gewesen sei. Herrmann hatte das angezweifelt.
Dramatische Kollision kurz vor Ende der Vendée Globe
„Er hat recht“, erklärte der 39-Jährige nun. „In der Hast der Situation habe ich das als die einfachste Erklärung wahrgenommen, weil ich schon das eine oder andere Fischerboot gesehen habe, das kein AIS an hatte.“ Herrmann konnte nach der Kollision nur noch mit reduzierter Geschwindigkeit weitersegeln und verpasste dadurch den erhofften Podiumsplatz.
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Solche Momente, spannende, unerwartete, lustige, gab es unzählige auf der Vendée Globe. Boris Herrmann hat sie alle geteilt, und ist dabei immer so ruhig und optimistisch geblieben, als wäre er nicht unendlich lange allein irgendwo auf wilden Ozeanen unterwegs, sondern nur mal Kiten in St. Peter-Ording.
Er hat nicht dieses Verrückte, dieses fast Wahnsinnige, wie einige seiner (französischen) Konkurrenten bei der Vendée Globe. Wenn man ihn persönlich trifft, kann man sich im ersten Moment - und im zweiten, dritten, vierten – nicht vorstellen, dass das dieser Mann sein soll, der sich Dinge wie eine Einhandregatta traut.
Er wirkt fast schüchtern, mindestens zurückhaltend, ist jetzt keiner, „der mal einen raushaut“ – außer eben, wenn er im Cockpit seines Segelschiffes sitzt oder steht, auf dem es die meisten von uns nicht zehn Minuten aushalten könnten, ohne sich zu übergeben.
Boris Herrmann unwiederrufbar mit Segelsport verbunden
Diese Spannung zwischen dem Menschen Boris Herrmann, der im normalen Leben eben genau das ist: normal, und dem Sportler hat einen Charme, dem man sich kaum entziehen kann. Siehe Vendée Globe.
Gut möglich, dass der Hamburger für den deutschen Segelsport nach der Regatta (und vor dem nächsten großen Rennen) eine ähnliche Figur wird, wie es Dirk Nowitzki für den Basketball geworden ist. Beide sind eher unauffällige Typen, beide eint, dass sie sich in sportliche Bereiche trauen, die von anderen dominiert werden.
Hamburger hatte echte Chance gegen starke Franzosen
Nowitzki setzte sich in der NBA gegen die übermächtigen Amerikaner durch, Herrmann konnte mit den französischen Seglern mithalten, die den Sieg bei der Vendée Globe normalerweise unter sich ausmachen. Diesmal war es zumindest knapp, und selbst die französischen Medien lobten und feierten „den Deutschen“, dessen Namen sie so schwer aussprechen können, wie die amerikanischen Medien den von Dirk Nowitzki.
A Star is born? Ja und nein. Boris Herrmann gehört jetzt zu den bekanntesten deutschen Sportlern, es wird TV-Sendungen und -Interviews mit ihm geben, ein Buch, Auftritte, neue Sponsorenverträge, das ganze Programm. Aber er wird sich noch weniger daraus machen als Nowitzki, der jedes Mal vor Zigtausenden Zuschauern gespielt und seinen Ruhm hautnah erlebt hat.
Boris Herrmann hat sich Lebenstraum erfüllt
Wer es 80 Tage allein auf einem Schiff aushält und sich damit einen Lebenstraum verwirklicht, ist keiner, der den Applaus braucht – wobei es natürlich für Boris Herrmann schön gewesen wäre, wenn bei Start und Ziel der Vendée Globe, wie sonst üblich, Hunderttausende Menschen den Seglern zugejubelt hätten.
Das ging nicht, wegen Corona, und vielleicht hat Boris Herrmann auch die Pandemie zu der neuen Popularität verholfen: Diese Vorstellung, dass da draußen einer ist, der sich nicht mit der Zahl der täglichen Neuinfektionen abquälen, der keine Maske tragen muss – ein Mann, der machen kann, wovon wir alle träumen, weil er den ganzen Irrsinn hinter sich gelassen hat. Bis zum vergangenen Donnerstag, an dem Boris Herrmann, zum ersten Mal in diesem Jahr überhaupt auf Menschen getroffen ist…
Herrmann ist und bleibt etwas Besonders
Menschen, die ihn wie einen Sieger gefeiert haben, obwohl er gar keinen Pokal in den französen Himmel heben durfte. Boris Herrmann hat nicht das Rennen, wohl aber Sympathien gewonnen, etwas, für das man eben nicht nur ein herausragender Sportler sein muss.
Dass es bei dem Hamburger sowieso um mehr geht, wussten die meisten, seit er mit der „Seaexplorer“ Klimaaktivistin Greta Thunberg über den Atlantik in die USA gebracht hat.
Seit der gemeinsamen Reise im Jahr 2019 sind die beiden befreundet, Greta war eine der Ersten, die Boris am Donnerstag gratulierte. Auch, weil der auf der Vendée Globe nicht nur Werbung in eigener Sache gemacht, sondern immer wieder darauf hingewiesen hat, dass es neben all den Regatten, die er gesegelt ist und noch segeln wird, ein anderes, viel, viel wichtigeres Rennen gibt – das Rennen gegen den Klimawandel, „das wir unbedingt gewinnen müssen“.