Hamburg. Mit Videoangeboten, Onlinebestellung und Verkauf am Eingang trotzen Händler dem Corona-Lockdown. Ein Ortstermin.
Man möchte sich die Augen reiben, aber die Szene spielt sich wirklich so ab. Vor dem feinen Bekleidungsgeschäft von Conrad Hasselmann am Klosterstern in Hamburg steht eine ältere Dame, streift kurzerhand ihre Daunenjacke ab und zieht einen Mantel über, den ihr der Ladenbesitzer gerade über einen Tisch durch die Tür rausgereicht hat. In der Hand hat er noch eine weitere Größe. Straßenanprobe im Corona-Lockdown – selbstverständlich mit Maske.
„Ich hatte den Mantel im Schaufenster gesehen“, sagt die Kundin. Ein edles Schnäppchen mit Alpakafell, um ein Drittel reduziert auf 999 Euro. Inzwischen hat sie ihren eigenen Mantel wieder an und will sich die Sache bis zum Nachmittag überlegen. Geschäftsinhaber Hasselmann nickt freundlich. Seit Mitte Dezember die Geschäfte erneut schließen mussten, kann er nur über das Internet oder auf Bestellung verkaufen. Das ist deutlich weniger als normalerweise, aber besser als nichts. „Ich bin jeden Tag ganz normal im Laden. Ich finde es wichtig, Präsenz zu zeigen“, sagt der Kaufmann. Sogar die Kerzen in den Laternen am Eingang hat er angezündet.
Auf dem Eppendorfer Baum sind zahlreiche Passanten unterwegs
Ein Tag Ende Januar, gerade hat die Bundesregierung beschlossen, den harten Lockdown bis Mitte Februar zu verlängern. Auf dem Eppendorfer Baum sind zahlreiche Passanten unterwegs. Jogger schlängeln sich vorbei. Mütter mit FFP2-Masken schieben Kinderwagen durch die schicke Shoppingmeile mit vielen kleinen Läden im Herzen des Hamburger Stadtteils.
Es ist kurz vor 12 Uhr. Viele haben Einkaufstaschen dabei. Klar, die Apotheke ist offen, die Sparkasse, das Reformhaus genau wie Weinhaus, Bäcker, Fischladen, Fleischerei. Aber auch in zahlreichen anderen Geschäften ist trotz inzwischen mehr als fünfwöchiger Pandemie-Schließung jemand. „Ich bin da, wenn das Licht brennt. Einfach klopfen“, steht auf einem Zettel an der Tür des Lederwarenladens Struve, auf dem Beratung per Messengerdienst oder Video angeboten wird.
„Hier kämpft jeder ums Überleben“, sagt Andreas Hiller, Chef der Haspa-Filiale am unteren Ende der Straße und Vorstandsmitglied der Interessengemeinschaft Eppendorfer Baum. Kaum ein Händler, der nicht auf Click & Collect oder Call & Collect, also Abholeinkauf per Online-Bestellung oder am Telefon, umgeschaltet hat. Teilweise mit sehr kreativen Auslegungen. Vor einem Schuhladen balanciert eine Frau auf einem Bein und probiert einen Slipper an – trotz winterlicher Temperaturen ohne Socken. „Was soll man machen?“, sagt sie und lacht.
Traum-Hochzeitskleid trotz Lockdowns – so geht's
Bei Felicitas Bachmann wäre jetzt normalerweise der Laden voll. Seit 20 Jahren verkauft sie in ihrem Salon Hamburg am Klosterstern Brautmoden und Abendkleider. „Wer im Spätsommer und Herbst heiraten will, kommt jetzt zur Anprobe“, sagt sie. Das geht gerade natürlich nicht. Damit die Bräute auch im Lockdown an ihr Traum-Hochzeitskleid kommen, hat die 54-Jährige gemeinsam mit Tochter Lili Anfang Januar ein neues Online-Angebot geschaffen.
Nach einem virtuellen Treffen, bei dem sich die Kundinnen per Video gemeinsam mit einer Beraterin im Laden umschauen können, wird die Auswahl zum Anprobieren nach Hause geliefert – samt einer Flasche Prosecco. „Für viele Frauen ist der Kauf des Brautkleides sehr emotional. Im Netz bestellen funktioniert nicht“, sagt Bachmann. 80 Euro werden fällig für das Bridal fitting at home, wie sie es nennt. Die Aufwandsentschädigung wird beim Kauf eines Kleids zu Preisen ab 1500 Euro gutgeschrieben. „Das Feedback war von Anfang an positiv. Und seitdem klar ist, dass der Lockdown verlängert wird, steigen die Anfragen“, sagt die Geschäftsfrau. „Wir müssen die Zeit nutzen.“
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Schaufenster werden häufiger umdekoriert
Einige Schritte weiter steht Christine Lienau im Eingang des Spielwarengeschäfts, das ihr Großvater 1926 gründete. Gemeinsam mit ihrer Mutter Sybille teilt sie sich den Bereitschaftsdienst. In die Tür haben sie einen Tisch gestellt, der ein bisschen an eine Ladentheke erinnern soll. „Bitte klingeln“ steht auf einem Zettel neben einer Messing-Glocke.
Gerade hat eine Kundin eine Murmelbahn abgeholt, die sie telefonisch bestellt hatte. „Toll, dass sie den Straßenverkauf machen“, sagt sie. Christine Lienau nickt. Trotzdem sieht sie besorgt aus. In einem Laden mit gut 3000 Artikeln, in dem man normalerweise alles anschauen und anfassen darf, kann ein Abholservice die Umsatzausfälle nicht wettmachen. 20 Prozent der normalen Einnahmen erwirtschaften die Lienaus zurzeit.
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Das Wichtigste sind die Schaufenster, die deutlich häufiger als sonst umdekoriert werden, um das Angebot zu präsentieren. Gerade hängt über die gesamte Länge ein rot-weißes Absperrband. Passt zur Situation, in der Supermärkte, Drogeriemärkte und Discounter Spielsachen verkaufen, aber Kunden das kleine Fachgeschäft nicht betreten dürfen. „Wir halten durch“, sagt Christine Lienau. „Aber es wird schwierig.“
Eppendorfer Baum ist über den Stadtteil hinaus bekannt
Etwa einen halben Kilometer ist der Eppendorfer Baum lang. Der Straßenname leitet sich von dem Schlagbaum ab, den es hier früher gab. Bis heute ist der Isebekkanal eine Grenze – zwischen den Bezirken Eimsbüttel und Nord. In Hamburg gehört der Eppendorfer Baum zu den Geschäftsstraßen, die wie die Waitzstraße in Groß Flottbek, die Osterstraße in Eimsbüttel oder die Ottenser Hauptstraße in Ottensen über den Stadtteil hinaus bekannt sind – und die jetzt weniger als die Innenstadt unter den Folgen von Homeoffice und Ladenschließungen leiden.
Trotzdem lässt sich auch hier der Strukturwandel im Einzelhandel ablesen. Mehr als ein halbes Dutzend Ladenlokale stehen leer. Nur vereinzelt sieht man Schilder, die auf Nachmieter deuten. Ein Donuts-Laden wirbt für die Neueröffnung, die Hamburger Modefirma Closed will in eine geschlossene Dat-Backhus-Filiale ziehen. Wann ist unklar. „Früher waren die Flächen schon vor dem Auszug des alten Mieters neu vermietet“, sagt Haspa-Filialdirektor Hiller. Er gehört zu den Initiatoren der Interessengemeinschaft Eppendorfer Baum, die 29 Mitglieder und viele Pläne hat.
"Alle haben gemerkt, wie wichtig die Nachbarschaft ist"
„Natürlich hat der Lockdown im Frühjahr 2020 jedes einzelne Mitglied ausgebremst“, sagt Quartiersmanagerin Mareike Menzel, die seit Mitte 2019 die Entwicklung der Straße für die Kaufleute vorantreibt. Ihre erste Tat waren allerdings keine großen Aktionen, sondern Corona-Abstandsschilder mit gemeinsamem Logo. Zudem hat die Interessengemeinschaft bei Fragen zu Corona beraten. „Alle haben gemerkt, wie wichtig die Nachbarschaft und der Zusammenhalt am Standort ist. Alle sitzen in einem Boot“, sagt Menzel, die für die Zum Felde BID Projektgesellschaft arbeitet.
Für die Zeit nach dem Lockdown gibt es schon ein Projekt. Die Eppendorfer schließen sich der Initiative der Interessengemeinschaft Mühlenkamp an. Dort haben die Geschäftsleute seit einigen Wochen große Plakate in ihre Fenster gehängt. Der Slogan „Ich kaufe mit Herz. Ich kaufe lokal“ soll Kunden motivieren, nicht im Internet zu bestellen, sondern in den Läden im Stadtteil zu kaufen. „Wir bereiten uns vor, damit wir – wenn es wieder losgeht – geschlossen und positiv aus der Krise gehen können“, sagt die Quartiersmanagerin.
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Allerdings spiegelt sich auch in der Mitgliederstruktur der Interessengemeinschaft die Grenze zwischen den unterschiedlichen Abschnitten des Eppendorfer Baums wider. Westlich des Isebekkanals, wo die Straße breiter wird, ist das Interesse an der gemeinsamen Kaufmannschaft noch gering. Hier sind mehr größere Ketten vertreten, darunter Blume 2000, Tchibo oder Butlers. Diese Unternehmen haben ihre Filialen aktuell geschlossen.
Angeboten wird oft ein kostenloser Bringdienst
Der Schuhfilialist Gundlach verweist im Schaufenster auf den Online-Shop. Trotzdem sind auch hier reichlich Menschen unterwegs. Buchhändler Heymann hat Heftchen mit Leseproben vor den Abholschalter gestellt. Angeboten wird zudem ein kostenloser Bringdienst. Auch gegenüber beim Bettenhaus Bürger ist Licht an. Beraten wird per Telefon oder E-Mail.
Überall in Hamburg versuchen Händler, in Kontakt mit ihren Kunden zu bleiben. Geschäfte, die bislang nicht im Internet präsent waren, verkaufen jetzt über soziale Medien wie Instagram und Facebook. Schuhhändler stellen linke Schuhe mit fortlaufenden Nummern ins Fenster, um telefonische Bestellung zu erleichtern. In Ottensen hatte Imke Schilter, die in ihrer Souterrain-Werkstatt Patuko Lederhosen und -schuhe für Kinder sowie Taschen näht, vor Weihnachten einen Pop-up-Wohnzimmerladen eröffnet. Seit Beginn des Lockdowns verkauft sie ihre eigenen Produkte und die von befreundeten Kunsthandwerkern durch das Fenster ihres Ateliers.
Die aktuellen Corona-Regeln für Hamburg im Überblick
- Alle Regeln, die im Rahmen der Eindämmungsverordnung bis zum 10. Januar gelten sollten, werden grundsätzlich bis zum 14. Februar verlängert – ein Großteil des Einzelhandels bleibt geschlossen, bestellte Waren dürfen aber abgeholt werden. "Körpernahe Dienstleistungen" wie Friseure, Nagel-, Massage- und Tattoo-Studios dürfen nicht angeboten werden. Auch Kultur- und Freizeiteinrichtungen bleiben geschlossen, Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit bleibt verboten.
- Kontaktregeln Angehörige eines Haushalts dürfen sich nur noch mit einer weiteren Person treffen. Ausnahmen für Kinder gibt es nicht.
- Die Maskenpflicht wird angepasst: Stoffmasken reichen in den meisten Fällen nicht mehr aus. Stattdessen müssen medizinische Masken (mindestens OP-Masken, auch FFP2- oder KN95-Masken sind möglich) getragen werden. Bis zum 1. Februar gilt eine Übergangsphase, danach werden Verstöße mit Bußgeldern geahndet.
- Kitas und Schulen: Die Präsenzpflicht an den Schulen bleibt aufgehoben, stattdessen soll so weit wie möglich Distanzunterricht gegeben werden. Kinder sollen – wann immer möglich – zu Hause betreut werden. Die Kitas wechseln in die "erweiterte Notbetreuung". Die privat organisierte Kinderbetreuung in Kleingruppen bleibt gestattet.
- Arbeitgeber sind angehalten, so weit wie möglich ein Arbeiten von zu Hause aus zu ermöglichen. Zusätzlich soll eine neue Bundesverordnung Arbeitgeber dazu verpflichten, Homeoffice anzubieten, so weit das möglich ist. Betriebskantinen dürfen nur öffnen, wenn sie für den Arbeitsablauf zwingend erforderlich sind.
- Sollte die Sieben-Tage-Inzidenz auf einen Wert über 200 steigen, müsste eine Ausgangsbeschränkung erlassen werden, die den Bewegungsradius auf 15 Kilometer rund um den Wohnort einschränkt. Wie genau diese Regel in Hamburg angewandt würde, ist noch nicht bekannt – der Senat will darüber entscheiden, sollte sich die Inzidenz dem Grenzwert annähern.
- Senioren- und Pflegeeinrichtungen sollen mehrmals pro Woche Personal und Besucher testen. Das war in Hamburg schon verpflichtend und gilt nun bundesweit.
- Zwei-Test-Strategie bei Reiserückkehrern aus Risikogebieten: Ein Corona-Test direkt nach der Einreise ist verpflichtend, die zehntägige Quarantäne kann frühestens fünf Tage nach der Einreise durch einen weiteren Test verkürzt werden. Die Kosten für die Tests werden nicht übernommen.
Optiker Marcus Carl hält die Leerstände für „bedrückend“
Schon im ersten Lockdown haben sich auch verschiedene lokale digitale Initiativen wie #Hamburghandelt oder #Hamburgbringts gebildet. Die Geschäftsschließungen im März waren auch die Initialzündung für wir-liefern.org, eine Non-Profit-Einkaufsplattform, die sich als virtuelle Fußgängerzone und Alternative zu Amazon versteht. Der Eintrag ist für die Ladeninhaber, Dienstleister und Gastronomen kostenlos – allerdings gibt es keinen Lieferdienst, sondern die Anbieter müssen Versand oder Abholung selbst organisieren. In Hamburg und Umgebung sind inzwischen mehr als 500 Einträge gelistet.
Eine echte Geschäftsstraße ersetzt das nicht. „Wir können froh sein, dass wir am Eppendorfer Baum einen Mix haben mit einer Reihe von Geschäften, die auch während des Lockdowns öffnen dürfen“, sagt Marcus Carl, Inhaber des Fachgeschäfts Optik Martin Carl. Das bringt Menschen in die Straße. Bei Fische Schmidt reicht die Warteschlange mit viel Abstand mittags einige Hauseingänge weiter.
Auch bei Butter Lindner stehen die Kunden brav hinter einem Absperrband mit rotem Samt. Carl darf als Optiker auch weiterhin öffnen. Trotzdem merkt auch er die Auswirkungen der Pandemie. „Die Stammkunden kommen weiter, aber die Spontankäufe fallen weg“, sagt er. Der Brillenexperte, der ebenfalls in der Interessengemeinschaft engagiert ist, sieht die Zukunft der Geschäftsstraße mit Bedenken. „Die Leerstände sind bedrückend“, sagt er. „Und es wird noch andere treffen.“ Der Eppendorfer Baum lebe von den kleinen Läden und ihren Inhabern, die ihr Geschäft mit Herzblut betrieben. „Die Kunden wieder zurückzuholen und das wieder in Gang zu bringen, wird sehr schwer werden.“ Die Einsatzbereitschaft ist vorhanden.