Hamburg. Hamburgs Zukunftsfähigkeit steht auf dem Spiel: Wir sollten in die Zukunft blicken und klären, wovon wir künftig leben wollen.

„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“ – Helmut Schmidts Satz ist oft zitiert – und wahrscheinlich genauso häufig missverstanden worden. Das Orakel von Langenhorn wollte damit nicht alle Zukunftsperspektiven in einem Satz abräumen, sondern reagierte 1980 nur patzig auf eine Journalistenfrage. 30 Jahre später klärte er auf: „Es war eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage.“ Aber die SPD hat dieser Satz offenbar bis heute tief geprägt.

Immerhin: Es hätte schlimmer kommen können, denn Hamburgs früherer Innensenator und späterer Bundeskanzler hatte noch andere Weisheiten auf Lager: „Willen braucht man. Und Zigaretten“, verkündete der Ehrenbürger 2007 auf die Frage, wie er sein Arbeitspensum schaffe. Gottlob haben Sozialdemokraten wie Peter Tschentscher und Melanie Leonhard in der Pandemie diesen Ratschlag ignoriert. Aber große Visionen sind ihre Sache nicht, vielleicht blieb im Corona-Jahr auch zu wenig Zeit.

Visionen für Hamburg: Ja, aber bitte realistisch

Eine gewisse Skepsis gegenüber Visionen mag dabei durchaus angebracht sein: Im Wolkenkuckucksheim verliert man schnell die Bodenhaftung, wer nur Ideen für die Zukunft hat, kümmert sich zu wenig um die Mühen der Gegenwart. Der schwarz-grüne Senat flog auch deshalb 2010 auseinander, weil man zwar manche Visionen hatte, aber schon am einfachen Alltag scheiterte. Unvergessen, wie der Senat das ganze Schul­system umbauen wollte, aber im Eiswinter 2010 am Räumen der Straßen scheiterte – oder wie man der Hansestadt eine Elbphilharmonie schenkte, aber darüber fast den Wohnungsbau vergaß.

Dennoch: Ganz ohne Strategien und Visionen droht sich eine Stadt im Klein-Klein zu verlieren und zurückzufallen. Nur mit kleinem Karo gibt es keinen großen Wurf. Dass diese Sorgen um sich greifen, zeigen die Appelle aus Politik und Wirtschaft. Schon 2014 meldeten sich mit Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) und den früheren Senatoren Wolfgang Peiner (CDU) und Willfried Maier (Grüne) drei hochrangige Politiker „In Sorge um Hamburg“ zu Wort.

Zukunft Hamburgs liegt im Ausbau der Hochschulen und Forschung

Ihre Botschaft war klar: Hamburg dürfte im Wettbewerb der Metropolen zurückzufallen, wenn die Hansestadt allein auf traditionelle Stärken in den Bereichen Hafen, Logistik und Luftfahrt setzt. Sie sehen die Zukunft in einem mutigen Ausbau der Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Weltweit, so die drei Altpolitiker, sei die Wissenschaft der wichtigste Motor der Entwicklung einer Region. Die Hansestadt dagegen sei auf diesem Gebiet überwiegend zweitklassig.

Universität Hamburg: Hamburg sollte sich auf den Ausbau der Hochschulen konzentrieren.
Universität Hamburg: Hamburg sollte sich auf den Ausbau der Hochschulen konzentrieren. © Funke Foto Services | Michael Rauhe

Der Aufruf verhallte nicht ungehört – er verwandelte die Hansestadt aber nicht über Nacht in eine Metropole des Wissens. Und am Ende dieser Pandemie sollte man auch noch einmal die Frage stellen, auf welche Schwerpunkte man denn an Universitäten setzt – und wofür man das Geld ausgibt: Für die modische Genderforschung, so hat es der langjährige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes Josef Kraus einmal nachgezählt, gibt es hierzulande inzwischen mehr Professoren als für Pharmazie.

Detailverliebtheit statt Fokus auf das große Ganze

Es sollte nicht der letzte Weckruf sein: Die Handelskammer hat gerade in ihrer Denkwerkstatt Hamburg 2040 die Perspektiven des Standortes ausgelotet. Der HWWI-Chef Henning Vöpel und Ex-Staatsrat Nikolas Hill haben mit der „Zeit“-Stiftung im Verfassungskonvent eine breite Debatte angestoßen. Auch der Managerkreis der SPD stellt sich gerade die Frage, ob die Stadt für die Zukunft passend aufgestellt hat. Überall hört man die Debatte, wovon die Stadt in Zukunft leben möchte. Seltsam nur, dass die Politik derlei Diskussionsprozesse höchstens wohlwollend begleitet, aber nicht selbst forciert. Es regiert, ziemlich typisch für Hamburg, eine gut gelaunte Selbstzufriedenheit mit der Liebe zum Detail, bei der das große Bild aus dem Blick gerät – kurzum: eine spitzwegsche Gemütlichkeit.

Möglicherweise lähmt der Erfolg vergangener Tage den Willen zum Aufbruch. Abgesehen von den Achtzigerjahren, in denen die Stadt durch eine tiefe Krise ging, profitierte Hamburg wie kaum eine zweite Metropole von Wiedervereinigung und europäischer Einigung: Vom Zonenrand rückte Hamburg in die Mitte des Kontinents. Der wirtschaftliche Erfolg war über zwei Jahrzehnte mit dem pulsierenden Hafen fast ein Selbstläufer.

Viele kleine Ideen ergeben noch kein großes Konzept

Nun aber, verschärft durch Corona, stellt sich die Frage erneut. „Eventus stultorum magister est: Erfolg ist der Lehrmeister der Dummköpfe“, wusste schon der römische Geschichtsschreiber Titus Livius. Klaus von Dohnanyi sagt: „Erfolg war; Zukunft wird aber anders sein! Hamburg könnte da was von München lernen. Oder von Rotterdam.“ Diese Städte sahen den Mauerfall als Weckruf, sich neu zu erfinden - und zu investieren.

Nun ist es es nicht so, dass Hamburg keine Visionen hat. Aber sie bewegen sich zu sehr auf Ressortebene und sind nicht Teil eines großen Konzeptes. Seit dem großen Leitbild der „Wachsenden Stadt“, das Wolfgang Peiner ersonnen hatte und welches die Stadtentwicklung in den Nullerjahren beschleunigte, ist nur eine Leerstelle geblieben. So muddeln viele vor sich hin, aber zum großen Wurf langt es nicht. Immerhin: Mit dem Ziel, Hamburg zur Wasserstoffmetropole zu machen, hat der parteilose Wirtschaftssenator Michael Westhagemann – unterstützt von Peter Tschentscher – eine Vision formuliert. Aber es ist eine Idee, die viele Metropolen und Länder teilen. Ob Hamburg in der Zukunftstechnik, die sauberen Strom liefern soll, wirklich vorne landet, steht dahin. Ein Hoffnungszeichen ist das geplante Wasserstoffkraftwerk in Moorburg, aber um einen echten Technologieschwerpunkt zu bilden, bedarf es großer Spieler in der Industrie und dem Maschinenbau. Es gibt einige wie Aurubis, aber es gilt, verstärkt Technologieführer in Hamburg anzusiedeln.

Entstehung von Innovationspark geplant

Ähnlich sieht es beim zweiten großen Thema der Wirtschaftsbehörde aus, der Künstlichen Intelligenz. Hier scheint die Stadt etwas weiter als andere zu sein, weil Hamburg über ein funktionierendes Ökosystem von Forschungseinrichtungen und Anwendern in der Industrie wie NXP verfügt. Aber auch hier verfolgen viele Regionen ehrgeizige Ziele.

Ebenfalls voran geht es im Bereich Life Sciences, der schon vor mehr als 15 Jahren als Schwerpunktbereich ausgemacht wurden. Jetzt wurde bekannt, das in unmittelbarer Nähe zum DESY-Forschungszentrum ein Innovationspark für Start-ups und junge, technologieorientierte Unternehmen entstehen soll. Dort sollen innovative Bio- und Medizintechnologie-Firmen entstehen. Westhagemann erhofft sich einen „Magneten für talentierte Forscher“ und „Projekte mit internationaler Strahlkraft.“ Ob aber die veranschlagten 35 Millionen Euro aus dem Hamburger „Wirtschaftsstabilisierungsprogramm“ wirklich so weit strahlen, wird sich zeigen. Nur ein Vergleich: Allein die Kosten des Kurzarbeitergeldes summieren sich inzwischen auf rund zwei Milliarden Euro hamburgweit.

Corona hat Luftfahrtbranche stark getroffen

In der Wissenschaft hat die grüne Senatorin Katharina Fegebank einiges erreicht und dem Thema eine neue Dynamik verliehen. Mit der Science City bekommt die Wissenschaft in Bahrenfeld sogar einen eigenen Stadtteil. Es fehlt aber die Vernetzung zu den anderen Zielen: Wenn etwa Wasserstoff, Biotech und Künstliche Intelligenz als die Treiber ausgemacht sind, muss sich das auch viel stärker in der Hochschullandschaft wiederfinden. Wer erfolgreich sein will, muss seine Schwerpunkte benennen.

Airport Helmut Schmidt in Fuhlsbüttel: Flughafen Hamburg in Corona-Zeiten, ob Ankunft oder Abflug – hier ist derzeit nicht viel los.
Airport Helmut Schmidt in Fuhlsbüttel: Flughafen Hamburg in Corona-Zeiten, ob Ankunft oder Abflug – hier ist derzeit nicht viel los. © Michael Rauhe/Funke Foto Services

Denn klar ist: Die alten Cluster funktionieren nicht mehr so, wie erhofft: Seit 2014, dem Jahr der Streitschrift „In Sorge um Hamburg“, hat sich die Dynamik noch einmal beschleunigt: Die Luftfahrtbranche ist von Corona schwer getroffen: Der Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft rechnet damit, dass erst 2025 das Niveau von 2019 wieder erreicht wird. Viele Fluglinien sind der Pleite nah – unvorstellbare 118,5 Milliarden Dollar Miese habe allein die Airlines 2020 geschrieben. Für Airbus sind das schlechte Nachrichten – zwar liefert der Flugzeugbauer auf Finkenwerder weiterhin Maschinen aus und kann noch auf gefüllte Auftragsbücher schauen – aber seit dem Ausbruch der Corona-Krise sind die Bestellungen dramatisch zurückgefallen, mehrere Monate in Folge gab es überhaupt keine Order mehr. Im Dezember etwa gingen zwei Neubestellungen ein – zeitgleich gab es aber 31 Abbestellungen.

Ziel von 25 Millionen Standardcontainern im Hafen wird nicht erreicht

Langfristig trübe sieht es auch im Hafen aus: Die hochfliegenden Pläne von 25 Millionen Standardcontainern, von denen man noch vor wenigen Jahren träumte, sind passé – nun dürften es bis 2025 lediglich elf bis 14 Millionen TEU werden. Das hat nur zum Teil mit Hamburger Fehlern – etwa der verspäteten Fahrrinnenanpassung – zu tun, viel aber mit der Verlagerung von Warenströmen.

Seit dem Gewinn des Hinterlandes nach 1990 läuft der Trend gegen Hamburg. Allüberall wächst die Konkurrenz – nicht nur durch die klassischen Rivalen Rotterdam und Amsterdam, sondern auch durch die wachsenden Ostseehäfen oder den Aufstieg der Mittelmeerhäfen. Es sind gerade die Chinesen, die Verkehre über ihre Strategie der Neuen Seidenstraße verlagern – etwa nach Piräus, wo sie 2009 bei der Privatisierung eingestiegen sind, oder auch über Duisburg – hier endet derzeit die Seidenstraße.

Eingeschränkte Flugangebote treffen den Tourismus

Über die Jahre hat der maritime Standort Hamburg an Bedeutung eingebüßt: Die Reederei Hamburg Süd wurde von Maersk übernommen, der wichtige Schiffsklassifizierer Germanischer ­Lloyd ging 2012 an die Norweger DNV. Und vom einstmals größten Schiffsfinanzierer, der HSH Nordbank, blieb kaum etwas übrig. Der Hafen bleibt ein Teil der Hamburger Identität, kann aber in Zukunft nicht auf die gleiche politische Aufmerksamkeit hoffen wie in der Vergangenheit. Ein Teil der Hafenflächen dürfte für die Zukunft der Stadt anders genutzt werden müssen.

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Besonders bitter, wenn auch unverschuldet, ist die Unterbrechung einer weiteren Erfolgsgeschichte: Der Tourismus – ein echter Beschäftigungsmotor gerade für weniger gut ausgebildete Arbeitskräfte – wechselte von der Überholspur in den Rückwärtsgang. Nach bald einem Jahr ohne oder nur mit eingeschränktem Programm kämpfen viele Hotels, Kneipen, Restaurants und Kultureinrichtungen ums Überleben. Während der Städtetourismus nach der Pandemie bald wieder ins Laufen kommen sollte, wird das Geschäft mit Kongressen und Tagungen noch lange Probleme bereiten. Und wenn beispielsweise die Flugangebote erst 2025 wieder das Vorkrisenniveau erreichen, werden schon wegen des eigeschränkten Angebots weniger Reisende kommen können.

Die Ausgaben für Forschung sind zu niedrig

Es gibt also erheblichen Handlungsbedarf. Der OECD-Bericht zur Entwicklung in der Metropolregion Hamburg von 2019 hat ihr im internationalen Vergleich ein schlechtes Zeugnis ausgestellt, wenngleich er natürlich nur das Vergangene beurteilen kann. Nicht nur die süd­deutschen Metropolen sind besser und produktiver, sondern auch benachbarte Regionen im Ausland wie Kopenhagen und Göteborg.

Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind in der Metropolregion Hamburg zu niedrig, es mangelt an Fachkräften. Auch die Hochschulen rangieren nur im Mittelfeld. Der Weg an die Spitze ist lang und steinig – das zeigt auch der Abgang des erst 2017 mit hohen Erwartungen für die TU Harburg verpflichteten Präsidenten Ed Brinksma. Nach nur zweieinhalb Jahren ging der als Hoffnungsträger geholte Hochschulentwickler zurück in seine Heimat. Nicht nur die Opposition beklagt die „desaströse finanzielle Situation“ der Technischen Universität in Harburg.

Zu wenige Investoren für Innovationsfonds

Klingt das jetzt alles zu negativ? Vielleicht. Aber das Bessere ist der Feind des Guten. Hamburg hat gute Chancen – die Stadt ist attraktiv und weltoffen, wohlhabend und lebenswert. Wer die Fachkräfte der Welt holen will, benötigt nicht zwangsläufig die besten Hochschulen, da wird auch Lebensqualität zum Standortfaktor: Die Stadt bietet Kultur, eine bunte Szene, viel Landschaft und durch den Hafen als Bühne auch etwas Einzigartiges. Mit einer vorbildlichen Kinderbetreuung ist die Stadt für junge Eltern attraktiv. Und mit dem Wohnungsbauprogramm schafft die Stadt Raum für Neubürger.

Was zu wenig gelingt, ist das alte Geld – in Hamburg reichlich vorhanden – für neue Strukturen und Technologien zu benutzen. Hierzulande gibt es zu wenig Wagniskapital, zu viele Ideen finden keine Finanzierung. Die schöne Idee eines Hamburger Innovations-Wachstumsfonds scheiterte im vergangenen Jahr. Er sollte mit einem Fondsvolumen in Höhe von 100 Millionen Euro innovative Start-ups fördern. Leider fanden sich nicht ausreichend Investoren. Er wurde abgewickelt.

Hamburg braucht eine Zukunftsvision

Das vielzitierte Gründerbiotop für Start-ups braucht nicht nur Geld, sondern eine Vision. Statt sich ständig selbstgefällig als „schönste Stadt der Welt“ auf die Schulter zu klopfen, sollte sich die Hansestadt ein Ziel setzen: Etwa die innovativste Stadt zu werden. Es muss ja nicht gleich „der Welt“ sein.

Wir diskutieren eifrig, wie wir leben möchten, aber zu wenig, wovon wir eigentlich leben wollen. Welche Schwerpunkte will die Hansestadt beackern, in welchen Bereichen ihre Kräfte bündeln, wie wissenschaftlich an die Spitze kommen, auf welche Weise Start-ups, Entwickler und Erfinder fördern? Welche Stärken wollen wir stärken, welche neu entwickeln und welche Themen anderen überlassen? Wohin soll das knapper werdende Geld fließen? Fragen gibt es reichlich.

Die Politik und die Stadtgesellschaft sollten darauf bald Antworten finden.