Hamburg. Hans-Jürgen Wilhelm, Vorstand des Elisabeth Alten- und Pflegeheims im Schanzenviertel, spricht über die Probleme in Corona-Zeiten.

Es ist eine der Fragen, die derzeit besonders vehement diskutiert wird: Wieso infizieren sich weiter so viele Pflegeheimbewohner mit dem Virus? Immer wieder sorgen Corona-Ausbrüche in Heimen für Schlagzeilen. Allein im „Haus Ilse“ in Norderstedt infizierten sich 59 Bewohner und 29 Mitarbeiter. Sieben Heimbewohner sind bisher an den Folgen der Infektion gestorben. Auch das traditionsreiche Elisabeth Alten- und Pflegeheim im Schanzenviertel ist von der Pandemie betroffen. Hans-Jürgen Wilhelm, promovierter Soziologe und Wirtschaftsjurist, führt das Haus seit 2011. Er hat sich bei der Arbeit selbst infiziert, ist inzwischen wieder auf dem Weg der Genesung.

Hamburger Abendblatt: Herr Wilhelm, in der zweiten Welle der Pandemie wird ein Vorwurf immer wieder erhoben: Es sei nicht gelungen, die Bewohner von Pflegeheimen gegen das Virus zu schützen. Wie sehen Sie diesen Vorwurf?

Hans-Jürgen Wilhelm: Nun, die Frage wäre ja, wie hätte dieser Schutz aussehen sollen und welche Konsequenzen hätte er für die Bewohnerinnen und Bewohner gehabt. Hundertprozentige Sicherheit gibt es leider nicht. Und mehr Sicherheit führt immer auch zur Einschränkung von Freiheiten. Hier für alle Bewohnerinnen und Bewohner unserer Pflegeheime die eine richtige Lösung zu finden, die dann für alle stimmt, ist naiv.

Wo genau ist das Problem?

Wilhelm: Wir sind eine sehr vernunftgeprägte Gesellschaft, die alles naturwissenschaftlich beantworten will. Wir sehnen uns nach der einzig richtigen Antwort. Aber die gibt es bei dieser Pandemie nicht. Das zu akzeptieren, ist schwer. Wir reden über Sorgen, Ängste, Nöte und das Gefühl der Ohnmacht. Wir reden über Angehörige, die jetzt zu Hause sitzen und ertragen müssen, dass sie nicht ins Pflegeheim dürfen. Das darf man nicht wegdiskutieren. Ich darf aber auch nicht wegdiskutieren, dass sich meine Mitarbeiter fragen: Warum öffnen wir das Haus wieder für Besucher und riskieren, dass wir uns anstecken? Und warum spazieren unsere Bewohner immer noch draußen rum und fangen sich womöglich das Virus ein? Da geht es um sehr reale Ängste. Aber eben auch um berechtigte Bedürfnisse und Wünsche.

Corona: Diese Testverfahren gibt es

  • PCR-Test: Weist das Virus direkt nach, muss im Labor bearbeitet werden – hat die höchste Genauigkeit aller Testmethoden, ist aber auch die aufwendigste
  • PCR-Schnelltest: Vereinfachtes Verfahren, das ohne Labor auskommt – gilt als weniger zuverlässig als das Laborverfahren
  • Antigen-Test: weniger genau als PCR-(Schnell)Tests, dafür zumeist schneller und günstiger. Laut RKI muss ein positives Testergebnis durch einen PCR-Test überprüft werden, ein negatives Ergebnis schließt eine Infektion nicht aus, insbesondere, wenn die Viruskonzentration noch gering ist.
  • Antigen-Selbsttest: Die einfachste Test-Variante zum Nachweis einer Infektion mit dem Coronavirus. Wird nicht von geschultem Personal, sondern vom Getesteten selbst angewandt. Gilt als vergleichsweise ungenau.
  • Antikörper-Test: Weist keine akute, sondern eine überstandene Infektion nach – kann erst mehrere Wochen nach einer Erkrankung sinnvoll angewandt werden
  • Insgesamt stellt ein negatives Testergebnis immer eine Momentaufnahme dar und trifft keine Aussagen über die Zukunft

Und die Bewohner selbst?

Wilhelm: Auch da ist der Umgang mit Corona völlig unterschiedlich. Wir haben Bewohner, die weiter zum Einkaufen gehen, die sich mit ihren Angehörigen treffen wollen. Und wir haben Bewohner, die jedes Ansteckungsrisiko minimieren und fast nur im Zimmer bleiben. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns. Deshalb kann es den Königsweg, die einzig richtige Lösung nicht geben. In letzter Konsequenz geht es immer um das Abwägen von Sicherheit und Lebensqualität.

Man könnte einen ganz rigiden Kurs fahren und die Heime komplett schließen. Kein Bewohner darf mehr raus, kein Besucher darf mehr rein.

Wilhelm: Dann hätten wir immer noch 140 Mitarbeiter, die rein- und rausgehen. Ich kann die nicht alle mit einem zertifizierten Chauffeur zur Arbeit bringen. Die fahren U- und S-Bahn, nutzen die HVV-Busse, die gehen einkaufen. Es wäre naiv zu glauben, wir könnten eine hundertprozentige Sicherheit garantieren, wenn wir uns komplett abschotten.

Man kann ja auch Hochbetagte verstehen, die sagen, sie möchten ein vielleicht letztes Mal mit ihren Kindern und Enkeln Weihnachten feiern.

Wilhelm: Absolut. Aber wenn man dann sah, dass da eine Gruppe mit fünf, sechs Kindern stand und Oma abholte, konnte man ahnen, dass das kein Fest im engsten Kreis werden würde. Deshalb haben wir ja jeden Rückkehrer auch so behandelt, als wenn er Corona-positiv wäre. Wir haben einen Test gemacht und eine fünftägige Zimmer-Quarantäne angeordnet. Dies mussten wir auch aus Rücksicht auf die Bewohner machen, die konsequent im Heim geblieben sind.

Aber man darf die Bewohner ja nicht einschließen.

Wilhelm: Natürlich nicht. Und wenn ein Bewohner sein Zimmer verlässt, weil er wegen seiner Demenz die Quarantäne gar nicht begreift, kann man ihn nur freundlich bitten, wieder in sein Zimmer zu gehen. Sie können auch einem Menschen mit einer Demenz nicht einfach einen Mundschutz überstreifen. Das wird der nicht akzeptieren.

Wann werden Sie das Besuchsverbot wieder aufheben?

Wilhelm: Wir haben seit einigen Tagen keine neuen Fälle mehr, drei Bewohner sind aber noch infiziert. Wenn sie nicht mehr positiv getestet werden, werden wir in Absprache mit dem Gesundheitsamt Besuche mit den vorgeschriebenen Tests wieder zulassen. Aber auch da gibt es keine hundertprozentige Sicherheit. Denn ein Schnelltest darf maximal 48 Stunden alt sein, ein PCR-Test sogar 72 Stunden. Und ich habe die Sorge, dass manche Besucher die Corona-Regeln im Heim nicht mehr so einhalten, weil sie denken, dass sie ja negativ getestet sind.

Wie laufen die Tests bei den Bewohnern?

Wilhelm: Die Tests bei Bewohnerinnen und Bewohnern laufen sehr gut und der mit Abstand größte Teil unterstützt uns hier sehr. Auch wenn der Test ja wirklich nicht angenehm ist. Und stellen Sie sich vor, Sie müssen einem Bewohner mit einer Demenz, der überhaupt nicht begreift, worum es geht, ein Teststäbchen in die Nase stecken. Das ist nicht einfach, für beide nicht.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Große Hoffnungen werden mit der Impfung verknüpft.

Wilhelm: Bis Februar sollen ja Bewohner von Heimen geimpft sein. Die PR läuft immer hervorragend und durch die mediale Begleitung der ersten Impfungen nach Weihnachten, die sicherlich menschlich nachvollziehbar waren, wurden Erwartungen geweckt. Diese Erwartungen werden aber aktuell gerade nicht erfüllt. Das sorgt für Unruhe und Unsicherheit auch in unserer Einrichtung, denn wir haben heute erst den Termin zur Impfung erfahren. Viele Bewohner, Mitarbeiter und Angehörige fragten uns in dieser Zeit aber immer wieder: Warum geht es hier nicht los? Aber wir hatten keine Informationen und auch keinen Einfluss darauf. Wir können immer nur immer versuchen zu beruhigen.

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Ist einer Ihrer Bewohner an oder mit Covid-19 gestorben?

Wilhelm: Wir hatten eine Bewohnerin, die in der Palliativphase war, die kurz vor ihrem Tod positiv getestet wurde. Aber auch eine Infektion eines Bewohners mit einem leichten oder mittleren Verlauf nimmt die Pflegekräfte emotional sehr mit. Anders als im Krankenhaus, wo die Patienten in der Regel nur kurz bleiben, leben unsere Bewohner über einen langen Zeitraum bei uns. Da bauen sich sehr intensive Beziehungen auf. Deshalb ist es auch für unsere Bewohner mit einer Demenz oft sehr schwierig, zu verstehen, warum die Pflegekraft, die sich seit Monaten um sie kümmert, plötzlich eine Maske trägt. Die erkennen die dann gar nicht. Auch das belastet unsere Mitarbeiter und deren tägliche Arbeit.

Können Sie Gruppenangebote weiterführen?

Wilhelm: Kaum. Wir haben 18 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der sozialen Betreuung im Haus, Alltagsbegleiter und Therapeuten. Aber wir dürfen nicht gemeinsam Sport machen, spielen, massieren oder singen. Oder die Weihnachtsfeste, die wir jedes Jahr in unserem großen Festsaal und auf unseren Etagen gefeiert haben. Alles ging dieses Jahr nicht. Keine Kino-Nachmittage, kein Tanznachmittag. Die letzte Feier, die wir hatten, war die Faschingsfeier im Februar 2020. Das ist nicht nur für unsere Bewohnerinnen und Bewohner schwer zu ertragen, sondern auch für die Mitarbeiter. Diese Feste, Feiern und Begegnungen fehlen uns allen, da sind Pflegeheime keine Ausnahme.

Wie akzeptieren die Angehörigen die Corona-Einschränkungen?

Wilhelm: 90 bis 95 Prozent haben großes Verständnis. Wir stehen mit ihnen im engen Kontakt und versuchen auch Anrufe zu ermöglichen. Aber es gibt auch Angehörige, die es total lustig finden, wenn sie es schaffen, sich an Mitarbeitern vorbei ins Haus zu schleichen, um Oma trotzdem zu besuchen und das dann als eine Art Jungenstreich darstellen. Das finde ich erschreckend. Es sind ja keine Regeln, die wir aufstellen, um jemanden zu ärgern. Es geht einzig und allein um die Sicherheit der Bewohner und Mitarbeiter.

Wie viele Mitarbeiter Ihrer Einrichtung haben sich infiziert?

Wilhelm: Mit mir 13. Zum Glück hatten die meisten keine oder nur leichte Symptome, eine Mitarbeiterin musste allerdings ins Krankenhaus. Es geht ihr aber schon wieder besser und sie ist wieder zu Hause.

Bei insgesamt 140 Mitarbeitern inklusive der externen Reinigungsfirma hat sich damit fast jeder zehnte angesteckt. Wie gehen Ihre Kolleginnen und Kollegen mit dieser Gefahr um?

Wilhelm: Mit einem bewundernswerten Einsatz. Sie springen ein, helfen aus, übernehmen andere Dienste. Das ist wirklich vorbildlich. Und deshalb haben sie auch Wertschätzung verdient. Und auch Verständnis für ihre Sorgen vor einer Ansteckung, wenn wir das Haus wieder öffnen.

Hans-Jürgen
Wilhelm hat mehrere Fachbücher
geschrieben. Zuletzt
erschien „Beziehungsgestaltung in
der Pflege von Menschen mit Demenz“
Hans-Jürgen Wilhelm hat mehrere Fachbücher geschrieben. Zuletzt erschien „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“ © privat

Gibt es einen Wunsch Ihrerseits an die Politik?

Wilhelm: Was den Heimen wirklich helfen würden, wären konkrete Ansagen, wann sie mit einer Impfung rechnen dürfen, wie die konkrete Planung aussieht. Dann hätten Bewohner, Mitarbeiter und Angehörige eine hoffnungsvolle Perspektive. Aber ich denke, die Stadt würde sich das auch wünschen. Im Moment stoßen alle Menschen an ihre Grenzen. Der eine Teil weiß vor lauter Stress nicht mehr, wo vorne und hinten ist, der andere Teil sitzt ohnmächtig zu Hause und muss das Ganze über sich ergehen lassen und vielleicht sogar zusehen, wie seine Existenzgrundlage verschwindet.

Also keine konkreten Vorwürfe von Ihrer Seite an die Politik?

Wilhelm: Nein, im Gegenteil. Ich habe hohen Respekt vor jedem, der in der aktuellen Situation den Mut hat, Entscheidungen zu treffen. Es ist eine schwierige Zeit für alle, die alles richtig machen wollen und eine dankbare Zeit, für alle die, die es glauben besser zu wissen. Vielleicht hätte die PR nach Weihnachten zum Impfstart dezenter sein können. Aber jetzt zu sagen, man hätte mehr Impfstoff bestellen müssen, ist in der heutigen Situation einfach, aber hilft niemandem weiter. Und was uns jetzt am wenigsten hilft, sind Schuldzuweisungen, Besserwisserei und enttäuschte Erwartungen. Stattdessen brauchen wir mehr Vertrauen in die Arbeit der Menschen im Pflegeheim.