Hamburg. Klimatologe Jochem Marotzke über das Klima von übermorgen, den Moorburg-Ausstieg und warum sein Optimismus wächst.

In der vergangenen Woche warnte der frühere Hamburger Umweltsenator Fritz Vahrenholt im Abendblatt vor übertriebenen Klimaschutzmaßnahmen. Diese könnten, so der SPD-Politiker, die Deindustrialisierung beschleunigen und zu dramatischen Wohlstandseinbußen führen. Er warb dafür, sich mehr Zeit zu nehmen, um aus der Kohlenstoffwirtschaft auszusteigen. Der Hamburger Klimatologe Prof. Jochem Marotzke, seit 2003 Leiter des Max-Planck-Instituts für Meteorologie, widerspricht. Er ist einer der Autoren des Sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats, der 2021 erscheint, und gehört zu den viel zitierten Experten auf diesem Gebiet.

Herr Prof. Marotzke, beginnen wir etwas spekulativ – wagen Sie eine grobe Klimavorhersage für die Hansestadt am Ende des Jahrhunderts?

Jochem Marotzke: Die Frage ist schwer zu beantworten. Es hängt eben so viel davon ab, ob die Menschheit ihre Treibhausgasemissionen schnell herunterfährt oder nicht. Tut sie es, ist Hamburg vielleicht kaum wärmer als heute. Tut sie es nicht, wird sich Hamburg vermutlich so wie bisher schneller als das globale Mittel erwärmen. Im ­Extremfall würden Hitzewellen und tropische Nächte alltägliche Erscheinungen.

Wie viel Zeit bleibt uns im Kampf gegen den Klimawandel? Eher drei Legislaturperioden oder doch drei Generationen?

Das kann man so einfach nicht beantworten. Es geht darum zu entscheiden, welches Klima wir wollen. Am Ende geht es um eine politische Güterabwägung. Welche Risiken sind wir bereit, durch den Klimawandel einzugehen? Und wie viel ist es uns wert, diese Risiken zu vermeiden? Je nachdem, wie wir diese Frage beantworten, lässt sich sagen, wie viel Zeit uns bleibt. Das Bericht des Weltklimarats von 2018 verdeutlicht: Wenn wir mit unseren Emissionen so weitermachen wie bisher und die Erwärmung sich so fortsetzt, wird die Welt irgendwann zwischen 2030 und 2052 um 1,5 Grad wärmer geworden sein. Uns droht also, diese Schwelle schon in zehn bis 30 Jahren zu reißen.

Wie wichtig ist das 1,5-Grad-Ziel?

Das ist für einige Staaten enorm wichtig – für manche Inselstaaten ist es die einzige Chance zu überleben. Andere Länder wie Deutschland werden vom Klimawandel betroffen sein, aber nicht in ihrer Existenz bedroht werden. Auch Hamburg ist nicht bedroht. Wir werden aber mehr Wetter-Extreme erleben, mehr Hitzesommer. Wer das alles zu akzeptieren bereit ist, kann sagen, wir haben mehr als diese zehn bis 30 Jahre Zeit. Aber: Der Umbau zu einer CO2-neutralen Wirtschaft und Gesellschaft ist eine so große Aufgabe, da können wir eigentlich gar nicht warten.

Klimaskeptiker verweisen darauf, dass das Basisjahr der Wissenschaft 1850 falsch gewählt ist, weil es am Ende der Kleinen Eiszeit erdgeschichtlich eher kalt war. Da verwundere der Temperaturanstieg nicht so sehr …

Das ist ein ziemlich schwaches Argument und für die aktuelle Debatte irrelevant Wir orientieren uns ja an der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert. Das ist ein Effekt von vielleicht 0,1 Grad. Die globalen Temperaturschwankungen waren im zweiten Jahrtausend relativ gering, sie können den heutigen Anstieg nicht erklären. Inzwischen sind wir bei einem Temperaturanstieg von rund 1,1 oder 1,2 Grad angekommen. Ohne uns Menschen ist dieser Anstieg nie und nimmer zu erklären, weder im Ausmaß noch in seiner Schnelligkeit. Und das ist ja erst der Anfang.

Corona hat immerhin gezeigt, dass ein CO2-Rückgang möglich ist – in diesem Jahr dürften wir bei einem Rückgang von fünf bis acht Prozent landen. Wird Corona unser Verhalten auch längerfristig verändern?

Da bin ich eher pessimistisch: Das Verhalten der Menschen deutet darauf hin, dass wir schnell in alte Muster zurückfallen. Andererseits reden wir jetzt, anders als nach der Finanzkrise 2008/09, über Nachhaltigkeit. Die EU hat mit dem Ziel eines Green Deals neue Prioritäten gesetzt. Manche Kollegen kritisieren, es sei politisch nichts passiert, obwohl wir seit 30, 40 Jahren vor dem Treibhauseffekt warnen. Das sehe ich etwas differenzierter: Die Emissionen sind zwar weiter gestiegen, aber heute haben wir endlich einen intensiven öffentlichen Diskurs über Klimaschutz. Das ist ein Riesenfortschritt, wenngleich auch bitter nötig. Klimaschutz kann nämlich nur dann politisch funktionieren, wenn er aus der Umweltnische rauskommt und zum Mainstream-Thema wird. Ich denke, die Emissionen werden bald heruntergehen. Das wird nur nicht so schnell erfolgen, wie es sich viele wünschen. Es könnte aber auch schlimmer sein: Wir könnten noch immer wie vor zehn, 15 Jahren in einer Welt leben, die kaum über den Klimawandel spricht.

Jetzt, wo der Klimaschutz im Mainstream angekommen sind, erleben wir zugleich, dass sich manche radikalisieren. Der Ton wird schriller.

Das ist nicht angenehm, aber der Preis des politischen Erfolges: Als die AfD stärker auf Leugnung des Klimawandels zu setzen begann, hielt ich das zunächst für ein populistisches Randthema. Da habe ich mich getäuscht, offenbar kann man so mobilisieren. Auf der anderen Seite wird aber auch unverantwortlich mit Ängsten gearbeitet. In einem Interview mit der Umweltbewegung Extinc­tion Rebellion etwa war davon die Rede, dass in den kommenden 20 Jahren zwei Milliarden Menschen am Klimawandel sterben. Das ist grober Unfug – und gefährlich obendrein. Wenn ich immer nur die Angsttrommel rühre, stumpfen die Menschen am Ende ab und wollen in Ruhe gelassen werden.

Täuscht der Eindruck, dass in der Öffentlichkeit oft mit Worst-Case-Szenarien gearbeitet wird?

Nein, nicht unbedingt. Das sogenannte Szenario RCP 8,5 — mit einer Zunahme der Weltbevölkerung auf zwölf Milliarden Menschen bis 2100 und der Verdreifachung des Energieverbrauchs — ist sehr schwer vorstellbar. Aber für eine Risikoabschätzung benötigen wir diese Extrem-Szenarien. Auch im Küstenschutz sind Worst-Case-Szenarien elementar – die Deiche sind nur sicher, wenn man auf das Schlimmste vorbereitet ist.

Kommen wir zum Best-Case-Szenario – eine klimaneutrale Welt bis 2050 und einen Temperaturanstieg von rund 1,5 Grad. Scheint ähnlich unwahrscheinlich.

Das ist schwerer zu beurteilen. Dieses Szenario wird wissenschaftlich nicht so hart angegangen. Um das Ziel aber zu erreichen, müsste der Ausstoß Jahr für Jahr um rund sieben Prozent zurückgehen. Das hieße, jedes Jahr einen Effekt wie bei Corona: Da müssen wir uns ehrlich in die Augen schauen – ist das realistisch? Ich fürchte, wir werden das 1,5-Grad-Ziel reißen. Auch das Zwei-Grad-Ziel könnte nur dann zu schaffen sein, wenn wir wirklich konsequent umsteuern — und wir das Glück haben, dass das Klima weniger sensibel auf CO2 reagiert als befürchtet.

Viel mehr als zwei Grad sollten es nicht werden, oder?

Es wäre jedenfalls eine ganz schlechte Idee, so weiterzumachen wie bisher. Bei einer möglichen Erwärmung von vier Grad bis zum Ende des Jahrhunderts hätten wir mögliche Folgen, die nicht mehr zu beherrschen wären.

Sie sprechen die Kipppunkte an.

Zum Beispiel. Aber schon Extremwetter-Ereignisse – Stürme, Trockenheiten – wären sehr dramatisch. Die stärksten Folgen werden die armen Länder spüren: Im Süden Afrikas wird es nach unseren Modellen gefährlich. Die Länder werden sich schnell erwärmen, deutlich mehr als im globalen Mittel. Dort könnte es so heiß und feucht werden, dass Menschen dort nicht mehr leben können. Sie werden sich also auf den Weg machen und nach Norden fliehen. Die politischen Folgen von Millionen Klimaflüchtlingen sind nicht zu unterschätzen: Das kann die Stabilität Europas und Deutschlands schneller gefährden als ein Dürresommer.

„Ich will, dass ihr in Panik geratet“, sagte die Klimaschützerin Greta Thunberg. Empfinden Sie Panik?

Nein, Panik ist in der Politik auch ein ganz schlechter Ratgeber. Wir müssen nüchtern abwägen.

Als Bewohner eines Inselstaates fällt diese Nüchternheit schwer …

In der Tat. Aber so bitter es ist, diese Inseln werden nicht zu retten sein – dafür müssten wir die Emissionen radikal gen null fahren. Das wird mit einem ethisch vertretbaren Aufwand nicht funktionieren. Das zeigt uns schon Corona – schauen Sie, mit welchen sozialen Folgen das Herunterfahren der Emissionen erreicht wurde.

Selbst China, immerhin für knapp 30 Prozent der Treibhausgase verantwortlich, will nun bis 2060 klimaneutral sein …

Nicht nur das Klimasystem ist träge, auch das gesellschaftliche System ist es. Schauen Sie sich das Hamburger Beispiel Moorburg an. Die Entscheidung zum Bau dieses Kohlekraftwerks fiel im Jahr 2007, 2015 ging es ans Netz. Wenn so ein Kraftwerk einmal gebaut ist, gilt die Entscheidung für Jahrzehnte. Entscheidungen, die ich heute fälle, wirken als Infrastruktur-Entscheidungen also lange nach. In Kenntnis dieser Vorlaufzeiten hätten wir längst anfangen müssen zu handeln. Und auch wenn wir Moorburg jetzt abschalten, hilft das dem Klima nicht, wenn andere, dreckigere Kraftwerke dafür länger laufen. Wir haben das Ziel, bis 2038 aus der Kohle auszusteigen – das dauert noch 18 Jahre.

Die Entscheidung für Moorburg fiel auch als Reaktion auf den Atomausstieg der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder. Hätten wir besser erst aus der Kohle aussteigen sollen?

Nicht wirklich. Natürlich ist die Kohleverstromung für das Klima ein Problem, aber das Risiko der Atomenergie ist noch schwerer abzuschätzen. Ein Super-GAU kann solch gravierende Folgen haben, dass ganze Landstriche unbewohnbar werden. Der Atomausstieg ist richtig – auch wegen der weiter ungeklärten Endlagerung des Atommülls.

Wir bekommen den Green Deal in Europa, Joe Biden in Amerika, und sogar die Chinesen bewegen sich. Sind sie heute optimistischer als vor fünf Jahren?

Ja. Durch den Aufstieg der Populisten hatte der Pessimismus um sich gegriffen, aber nun kommt manches in Bewegung. Die politischen Voraussetzungen sind heute besser als noch vor wenigen Jahren. Auch der CO2-Preis ist inzwischen breit akzeptiert, wir diskutieren nur noch, ob er als Steuer oder in Form des Emissionshandels eingeführt werden soll. Vor fünf Jahren wäre man für diese Forderung noch politisch gesteinigt worden. Der CO2-Preis ist ein ganz wichtiges Element. Wir würden uns ein größeres Tempo wünschen, aber die Richtung stimmt.

Wie wichtig ist das Pariser Abkommen, das nun fünf Jahre alt ist?

Sehr wichtig. Das ist ein Meilenstein für den Klimaschutz, es ist die Grundlage. Zwar löst das Abkommen selbst die Probleme nicht, aber es schafft den Rahmen zur Problemlösung. Es ist allemal besser als die oft vorgebrachte Kritik. Natürlich sind Ankündigungen noch keine Reduktionen. Aber ohne solche Ankündigungen würde viel weniger passieren. Das ist eine Klammer, die alle zum Handeln zwingt. Nach fünf Jahren sollen die Umsetzungen überprüft und gegebenenfalls verschärft werden. Dieser Mechanismus ist wichtig – da kommen die Staaten kaum raus. Es ist auch gut, dass Donald Trump die Wahl verloren hat – gerade weil radikale Präsidenten dazu neigen, in ihrer zweiten Amtszeit noch radikaler zu werden. Amerika will nun ins Pariser Abkommen zurückkehren.

Und wie wichtig ist die Bewegung „Fridays for Future“?

Diese Bewegung hat einen großen Teil der Bevölkerung angesprochen und damit politisch den Klimaschutz unterstützt. 2013, vor der vorletzten Bundestagswahl, schrieb die Süddeutsche Zeitung völlig zu Recht: „Es gibt derzeit keine Klimapolitik, weil die Wähler keine wollen.“ Das klang zynisch, aber es war so – damals konnte man mit Klimaschutz keine großen Stimmenanteile gewinnen. Heute sind wir viel weiter.