Hamburg. Fritz Vahrenholt war Vordenker der Ökobewegung, Umweltsenator, Windmanager – heute zweifelt er an der Klimaschutzpolitik.
Fritz Vahrenholt hat die Umweltdebatte in Deutschland wie kaum ein Zweiter geprägt: Sein Buch „Seveso ist überall“ (1976) prangerte die Zustände in der Chemieindustrie an, sein Atlas „Die Lage der Nation“ (1983) bewertete die Umweltpolitik im Land.
1984 ging er als Staatsrat in die Hamburger Umweltbehörde, von 1991 bis 1997 war er Umweltsenator. Danach wechselte der SPD-Politiker in die Wirtschaft und baute ab 2001 den Windenergiehersteller Repower auf. Von 2008 bis 2012 arbeitete Vahrenholt als Geschäftsführer der neu gegründeten RWE Innogy GmbH.
Ex-Umweltsenator Vahrenholt kritisiert Klimaschutzpolitik
In den vergangenen Jahren hat sich der promovierte Chemiker zu einem der schärfsten Kritiker der deutschen Klimaschutzpolitik entwickelt. Seit seinem Rauswurf bei der Wildtierstiftung wegen seiner Thesen hat er das Thema zu seiner „Hauptbeschäftigung“ gemacht, wie er sagt. Mit seinem neuen Buch „Unerwünschte Wahrheiten“ und auf seinem Blog befasst sich der 71-Jährige mit der Klimaentwicklung und den Folgen der Klimapolitik.
Streiten Sie eigentlich gern, Herr Vahrenholt?
Fritz Vahrenholt Nein, eigentlich nicht. Wie kommen Sie darauf?
In Ihrem neuen Buch „Unerwünschte Wahrheiten“ legen Sie sich mit der ganzen Klimawissenschaft an...
Tue ich das? Weder leugne ich den Handlungsbedarf noch den Klimawandel an sich – ich komme nur zu anderen Erkenntnissen, was das Ausmaß oder das Tempo betrifft. Ich bin der Meinung, dass es nicht allein der Mensch ist, der für den Klimawandel verantwortlich ist, sondern auch natürliche Faktoren greifen. Deshalb haben wir mehr Zeit, als oft gesagt wird.
Wie kommen Sie darauf?
Mir kommt in der Klimadebatte ein Aspekt viel zu kurz. Unser Referenzwert ist stets das Jahr 1850, der Beginn des Industriezeitalters. Was aber kaum jemand weiß: Damals endete die Kleine Eiszeit, der kälteste Zeitraum der letzten 2000 Jahre. Allein der Mittelwert der letzten 2000 Jahre liegt etwa 0,4 Grad höher als 1850 – ganz ohne Treibhauseffekt.
Sie vertreten damit eine Minderheitenposition ...
Mag sein, aber deshalb muss sie ja nicht falsch sein. Vergleichen Sie das mit dem Thema Waldsterben. Es war zu Beginn der 80er-Jahre Konsens, dass der deutsche Wald wegen des sauren Regens verschwinden wird. Ich habe das auch vermutet. Fast vierzig Jahre später wissen wir, dass sich die Forschung geirrt hat. Wissenschaft muss sich infrage stellen lassen. Das gelingt aber nicht mehr wegen der Verquickung von Wissenschaft und Politik.
Nun kann man argumentieren, dass wegen der schaurigen Prognosen politisch gehandelt und der Wald gerettet wurde.
Man kann durchaus glauben, wie viele Klimawissenschaftler das tun, dass etwas Übertreibung der Sache nützt. Das ist in Grenzen akzeptabel, um eine Gesellschaft wachzurütteln. Bei meinem Buch „Seveso ist überall“ war das ähnlich – so haben wir viel in der chemischen Industrie erreicht. Aber man darf die Gesellschaft nicht durch fehlerhafte oder übertriebene Maßnahmen ins Unheil schicken. Heute leben wir in einem Klima der Angst.
Wo ist denn die Debatte Ihrer Ansicht nach verzerrt worden?
Zum Beispiel beim Grönland-Eisschild: Viele Menschen glauben, dieser würde in Kürze wegtauen. Auch bei den anhaltenden Temperaturen wird er noch Jahrtausende bestehen. Übrigens gab es vor 8000 Jahren einen Zeitraum von rund 3000 Jahren, der wärmer war als heute. Auch da überlebte der Eisschild. Und die Sahara war grün. Das ist auch jetzt die positive Nachricht: Die Erde wird grüner.
Das gilt nicht für alle Regionen – vielerorts fürchtet man Trockenheit.
In den letzten 100 Jahren hat global weder die Häufigkeit der Dürren noch der Starkniederschläge zugenommen. Aber wegen Erwärmung und steigendem CO2 wächst jedes Jahr die Blattfläche weltweit um die Größe der Bundesrepublik. In den vergangenen 50 Jahren ist die Pflanzenbiomasse um 30 Prozent angestiegen. Und wegen des CO2-Anstiegs sind die Erträge von Weizen, Reis und anderen Früchten um 15 Prozent gewachsen und wurde die Ernährungslage der Welt deutlich verbessert. Ich will CO2 nicht verharmlosen, es ist ein Klimagas. Aber es ist auch nicht erstrebenswert, zurückzukehren zum Zustand vor 1850.
So weit sind wir ja nicht. Das Pariser Klimaschutzabkommen hat sich zum Ziel gesetzt, die Erwärmung auf höchstens zwei Grad zu begrenzen. Soll das falsch sein?
Nein. Aber das Pariser Abkommen hat strukturelle Mängel. Es hat festgelegt, dass China als Entwicklungsland in den kommenden Jahren noch 50 Prozent mehr CO2 emittieren darf. Wenn wir unseren Ausstoß in Deutschland von 0,8 Milliarden auf 0,4 Milliarden Tonnen halbieren, dann ist das der jährliche Zuwachs von China. Dort werden noch 245 Kohlekraftwerke ans Netz gebracht, weltweit 1600 Kohlekraftwerke, die meisten mit chinesischer Hilfe. Indien ist glücklich, weil dort 56 Kohlegruben eröffnet wurden und nun jedes Dorf mit Strom versorgt wird.
Das kann doch kein Argument sein, hier nichts zu tun!
Nein, aber es zeigt die Relation. Wir bewegen mit unserem Ausstieg nichts, und niemand wird uns folgen, wenn wir innerhalb von zehn Jahren aus Kohle und Atomstrom aussteigen und damit ein dramatischer Wohlstandsverlust in Deutschland verbunden sein wird. Mit Wind und Sonne können wir keine hoch entwickelte Industriegesellschaft unterhalten. Uns drohen Deindustrialisierung und Wohlstandsverluste. Wir diskutieren hysterisch: Es heißt, wenn wir jetzt nicht schnell aus Diesel- und Benzinmotoren herausgehen, kippt das Klima. Was das für Hunderttausende von Arbeitsplätzen heißt, interessiert gar nicht weiter. Wir müssen die Zauberlehrlinge stoppen: Angst ist ein schlechter Berater.
Das sind auch Schreckensszenarien ...
Nein. Unsere Energiewende hat einen strukturellen Fehler: Wir konzentrieren das, was bisher drei Energieträger geleistet haben – Erdgas für Wärme, Öl für Verkehr und Strom für Industrie und Haushalte - auf einen einzigen Energieträger: Strom. Die Akademie der Technikwissenschaften geht davon aus, dass sich der Strombedarf verdoppelt. Ich sage, er wird sich verdreifachen. Dafür reichen die Erzeugungskapazitäten an Wind und Sonne niemals aus. Zudem bleibt das Problem der Dunkelflaute – es gibt zahlreiche Tage und Wochen ohne Sonne und Wind. Woher soll dann unser Strom kommen? Aus Pumpspeichern? Es gibt Berechnungen, wonach wir zur Speicherung sämtliche Täler von Norwegen bis Österreich mit Pumpspeicherseen füllen müssten. Das ist doch absurd.
Sie unterschätzen die Möglichkeiten des technologischen Fortschritts. Mit grünem Wasserstoff beispielsweise ließe sich Energie speichern.
In der Kette Windkraft-Wasserstoff-Stromerzeugung gehen zwei Drittel der Energie verloren. Das ist Physik. Bei der Elektrolyse, beim Speichern und bei der Verstromung verliert man die Energie. Wir müssten also noch mehr Anlagen bauen, um den Verlust auszugleichen. Die Kosten des Stroms würden sich vervielfachen.
Wir haben gerade bei den Solarzellen gesehen, welche Effizienzgewinne möglich sind.
Das stimmt bei der Solarenergie, wenn ich an meine ersten Solarzellen bei Shell zurückdenke. Wir können für wenige Cent an sonnenreichen Standorten Strom produzieren, bei Wind ist der Kostenrückgang nicht so deutlich. Aber das löst nicht das Problem der Zwischenspeicher, die bei der zu speichernden Menge unbezahlbar werden.
Haben Sie etwas gegen erneuerbare Energien?
Nein, überhaupt nicht – ich habe sie ja mit groß gemacht, Photovoltaik bei Shell, Windkraft bei Repower. Die erste Offshore-Anlage von RWE Innogy in der Nordsee trägt meinen Namen: Fritz. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, eine so schwankungsanfällige Energie zur alleinigen Energiequelle von Strom, Wärme und Mobilität zu machen.
Was sollte Ihrer Ansicht nach passieren?
Wenn die Lage so dramatisch ist, wie es immer heißt, frage ich mich, warum wir nicht neu denken. Warum sind wir nicht bereit, über das Abscheiden von CO2 aus Kohlekraftwerken nachzudenken? Und warum weigern wir uns, neue Kernenergietechnologien unvoreingenommen zu betrachten? Selbst der Weltklimarat hält sie für eine Alternative. Wir aber tragen Scheuklappen.
Unsere Kanzlerin ist Naturwissenschaftlerin ...
Ja, aber sie lässt sich von Stimmungen treiben. Das hat ihre Kehrtwende bei der Atomkraft gezeigt.
Beim Thema Deindustrialisierung sind wir bei Ihrer Partei – der SPD.
Die SPD hat ihr Klientel leider nicht mehr im Blick. Für das hippe grüne Stadtpublikum gibt es schon eine Partei, aber die Beschäftigten in der Stahl-, Chemie- oder Autoindustrie wurden aus dem Blick verloren. Die kleinen Leute werden nun noch ab Januar mit einer CO2-Abgabe bestraft. Den Durchschnittshaushalt kostet das im ersten Jahr 270 Euro, und dieser Betrag soll immer weiter auf über 600 Euro steigen.
Ihre Partei sieht das positiv.
Ja, leider. Eine an den Interessen der Arbeitnehmer orientierte Klima- und Energiepolitik sieht anders aus. Helmut Schmidt hat sich dafür interessiert. In meinem letzten Gespräch mit ihm über die Ursachen des Klimawandels sagte er mir: „Fritz, ich glaube der Uno kein Wort.“
In Ihrem Buch beginnen Sie mit einem Vergleich zu Corona. Warum?
Die Einschränkungen, die wir gemacht haben, haben kaum einen Einfluss auf die CO2-Konzentration in der Luft. Trotz des Shutdowns gehen die Emissionen weltweit 2020 um weniger als zehn Prozent zurück. Um eine Halbierung zu erreichen, benötigen wir also fünf Shutdowns. China emittiert mehr als 30 Prozent und macht nach einem kurzen Lockdown unvermindert weiter und mehr.
Sie werfen Experten und Medien vor, sich auf Nachrichten zu stürzen, die den Klimawandel stützen. Machen Sie in dem Buch nicht das Gleiche? Sie suchen die Nachrichten, wonach alles nicht so schlimm sei.
Wenn heute irgendwo in der Welt ein Hurrikan wütet, ist das für viele ein Beleg für den Klimawandel, doch Hurrikane haben seit Jahrzehnten nicht zugenommen. Wir hatten im Sommer eine Hitzewelle in Sibirien, die überall ein großes Thema war. Zugleich war es in Brasilien so kalt wie seit 50 Jahren nicht, davon sprach niemand. Wir haben eine selektive Wahrnehmung. Dabei zeigen wir im Buch, dass die Zahl der Hurrikane, Starkregenereignisse oder Dürren eben nicht zugenommen hat. Es hat sich sogar eher ausgeglichen.
In Ihrem letzten Buch „Die kalte Sonne“ von 2012 haben Sie eine baldige Abkühlung vorhergesagt – in Wahrheit wurde es wärmer. Haben Sie sich geirrt?
Wir haben die Abkühlung etwas zu früh angesetzt. Warten wir es ab. Seit 2017 haben wir eine Seitwärtsbewegung der globalen Temperatur. Auch die mittelfristige Klimaprognose des Bundesforschungsministeriums erwartet keine signifikante Erwärmung in den nächsten fünf Jahren. Es gibt eben noch andere Einflüsse auf das Klima wie die schwankende Sonnenstrahlung, die Wolkenbedeckung oder die 60-jährigen Kalt- und Warmphasen der Ozeane.
Man könnte Ihr Buch als Einladung zum Weiter so missverstehen ...
Nein, denn das steht da nicht drin. Ich sage, dass wir bis 2100 aus der fossilen Energie weitestgehend aussteigen müssen. Es geht um 200 Jahre Menschheitsgeschichte, in denen wir Öl, Erdgas und Kohle eingesetzt haben. Auch wenn es keiner hören will: Es waren die Jahrhunderte des größten zivilisatorischen Fortschritts in Gesundheit, Ernährung, Lebenserwartung und Lebensstandard. Die Mehrheit der Menschheit ist hungrig auf Wohlstand. Wenn wir ihnen Verzicht predigen, kommen wir nicht weit. Wir müssen einen technischen Weg aufzeigen, der Wohlstand und Klimaschutz verbindet. Nur dann sind wir Vorreiter. Wir schaffen eine vernünftige Energiewende in drei Generationen, aber nicht in drei Legislaturperioden. Danach gehen die CO2-Konzentrationen recht schnell wieder zurück und das war’s.
Wie kommt denn Ihr Buch an?
Unser Verlag hat gerade die vierte Auflage gedruckt. Vor acht Jahren gab es einen Diskussionssturm um unsere „Kalte Sonne“. Heute ist der Meinungskorridor verengt, die Debatte findet nicht statt, schon gar nicht mehr im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Sehnen Sie sich nach der Debatte zurück?
Ja, natürlich, denn es steht viel auf dem Spiel.
Was halten Sie eigentlich von der Umweltschützerin Greta Thunberg und der Bewegung Fridays for Future?
Um mit Norbert Bolz zu antworten: Untergangspropheten waren schon immer die erbittertsten Feinde der Aufklärung.