Hamburg. Diese Stadt hat neben Alster, Elbe, Michel und Elphi noch eine andere Eigenart, an der man sie von weitem erkennt: ihre Sprache.
Der Hamma, wie manche Loide hier schprechn, ich machas wohl laidn! Als Daniel Tilgner 1987 nach Hamburg kommt, um eine Ausbildung zum Werkzeugmacher zu beginnen, merkt er gleich, dass irgendetwas anders ist als in seiner Heimat Bremen: die Sprache. Nur 120 Kilometer trennen die beiden Hansestädte, dennoch sagt ihm sein Ausbilder am ersten Tag der Lehre, man würde sofort merken, dass er nicht von hier käme. Und Tilgner seinerseits bemerkt, dass er nicht alles versteht.
Da werden Kinder Schietbüdel genannt („Na, mein kleinen Schieter!“), man geht auf’n Zwutsch anstatt aus, in Tanzlokalen wird gescherbelt (getanzt), und die Möwen heißen Emmas. Warum nur? Da donnert ihm der alte Werkstattmeister ein: „O haua haua haua ha!“ entgegen, was Tilgner genauso wenig begreift wie, woher der Ausdruck „Daddeldu“ stammt und ob es ein Kompliment darstellt, wenn einen jemand als „benaut“ bezeichnet.
Die Erklärungen für die Ausdrücke und Sprechweisen interessieren Tilgner so sehr, dass er sich später während seines Geschichtsstudiums und als Hilfskraft in der Arbeitsstelle für Hamburgische Geschichte der Universität Hamburg mit Sprache beschäftigt und 1999 das „Kleine Lexikon Hamburger Begriffe“ herausgibt. Es erscheint in elf Auflagen. Doch zurzeit der Entstehung gab es noch keine HafenCity und keinen Euro, will heißen: Die Welt und Hamburg haben sich seitdem extrem verändert.
Man lernt nicht nur die Vergangenheit kennen, sondern auch viel Gegenwart
Dann kam in diesem Jahr Corona, und der Fan der sprachlichen Eigenheiten kratzte seinen ganzen Resturlaub zusammen und schrieb ein neues Lexikon, doppelt so dick wie das alte und mit vielen neuen Worten. Andere, nicht mehr gebräuchliche, wurden dafür aussortiert. „So snackt Hamburg“ heißt das Ende November erschienene Buch. Der Autor führt dabei anhand der Sprache kunterbunt durch Hamburg, man lernt nicht nur die Vergangenheit kennen, sondern auch viel Gegenwart. Gleich am Anfang („Nu geiht los“) liest man unter dem Buchstaben A etwa: Ahnma. Diese Verschmelzung von „Ahne mal“ verbreitet die Hamburger Musikgruppe „Die Beginner“ mit ihren „Pladden“, ein Refrain etwa lautet:
„Was los, Digga, ahnma‘
Wie wir gucken
Wie wir labern
Jeder sagt Digga heutzutage
Wir packen Hamburg wieder auf die Karte.“
Ahnma kann auf zwei verschiedene Weisen verstanden werden. Entweder möchte jemand sein Gegenüber zum Nachdenken anregen, weil derjenige etwas Offensichtliches gerade nicht zu begreifen scheint. Oder man möchte jemanden für etwas Tolles begeistern. „Stellimafoa!“
Sprache ist nicht statisch
Die ausführliche Erklärung dieses Wortes (und auch vieler anderer) gibt es wahrscheinlich in keinem anderen Lexikon. „Meine Kinder haben mich durch ihre Musik drauf gebracht“, erklärt Tilgner, der als Referatsleiter und Landesfilmarchivar im Zentrum für Medien (LIS) in Bremen arbeitet. Der 55-Jährige pendelt häufig nach Hamburg und erfreut sich dann jedes Mal an der anderen Ausdrucksweise: „Ihr hört eure Eigenarten gar nicht mehr, weil ihr ständig davon umgeben seid. Wie schade, denn sie sind so außergewöhnlich und klingen fantastisch.“ Wer einmal Heidi Kabels Lied „An de Eck steiht ’n Jung mit ’n Tüddelband“ mit dem berühmten Refrain „Ein jeder aber kann dat nich, denn he mutt ut Hamborg sien“ gehört hat, der versteht, welch besondere Farbe und Stimmung Sprache hervorbringt.
Manche Ausdrucksweise hat sich von Norddeutschland in den ganzen deutschsprachigen Raum ausgebreitet wie etwa der Abschiedsgruß „Tschüs!“ Den verband man noch bis in die 60er-Jahre eher mit den Hafenstädten, weil dort viele Seeleute zusammenkamen, unter denen der spanische Gruß „Adiós“ (zu Gott befohlen) üblich war. Im Französischen sagte man „Adieu“, woraus im Plattdeutschen „Adjüs“, kurz „Tschüs“ wurde. Man merkt an diesem Beispiel, wie wenig statisch Sprache ist, wie sehr „sich Worte auf die Reise machen“, laut Daniel Tilgner. So fürchten die Bayern jetzt schon um ihr „Servus“, und bei uns sagen auch nur noch die wenigsten Leute „Sonnabend“, sondern benutzen anstatt dessen „Samstag“.
Hamburger Missingsch: Kombi von Platt und Hochdeutsch
Früher haben die Leute ganz überwiegend Plattdeutsch gesprochen und mussten sich für reines Hochdeutsch richtig anstrengen, daraus wurde das Hamburger Missingsch. Diese Kombi von Platt und Hochdeutsch hörte man im 19. und 20. Jahrhundert vor allem in den Hafen- und Arbeiterstadtteilen. Missingsch ist inzwischen allerdings auch ausgestorben. Nur die Sprachfärbung, diese Vokalverziehung des langen „a“ zu einem Laut, der in Richtung „o“ geht, die gibt es noch. „Zum Glück“, findet Tilgner. In dieser Stadt klingt ein „a“ am Wortende mitunter eher wie ein „er“, zum Beispiel in „immer“, von vielen „imma“ ausgesprochen. Vater und Mutter mutieren gerne zu „Vadda“ oder „Mudda“. An dem Beispiel erkennt man zudem, wie ein „d“ nach Vokalen häufig das „t“ ersetzt, welches ab und an aber auch ganz eingespart wird: „Merks selbs, nech?“
Oftmals handelt es sich dabei eigentlich um schlechtes Deutsch, um Straßenjargon. Jeder Deutschlehrer müsste Einspruch erheben. „Aber zum Hören ist es wunderbar, so herrlich breit,“ findet Tilgner. Manche Eigenheiten gelten als unmodern, in den 70ern verschwand beispielsweise der „s-pitze S-tein“, flächendeckend setzte sich schp- und scht- durch. Auf alten Videos von Heidi Kabel oder Helmut Schmidt kann man diese Sprechart jedoch noch in Reinkultur erleben.
Viel Herzlichkeit durch Redensart
Wenn sie doch noch ab und an vorkommt, dann empfindet es der Autor als „wunderbar ehrlich“. Er sei beispielsweise gerade aus einer Bäckerei gekommen, wo er ein Franzbrötchen kaufte, und die Bäckerin hätte so wunderbar hamburgisch geschnackt. „Da hätte ich am liebsten gesagt: Mutti, ich muss dich knutschen. Man bekommt so viel Herzlichkeit durch Redensart mitgeliefert, da verstellt sich niemand“, sagt Tilgner.
In seinem wissenschaftlichen Umfeld erlebt Tilgner nämlich häufig das Gegenteil. Personen sprächen distinguiert, um sich abzusetzen und die anderen zu verunsichern. „Das’s mir zu akademsch!“, lautet der hamburgische Kommentar zu so einem gekünstelten, akademischen Verhalten. Sich „affich aufführn“ kommt meist gar nicht gut an.
Der Antagonist zu „akademsch“ lautet „reell.“ Dieser Begriff ist durch und durch positiv besetzt. Er leitet sich vom französischen „réel“ ab, was wirklich oder echt bedeutet, im Plattdeutschen sagte man „rejell“. Reell steht für etwas Gutes oder Vernünftiges, wenn etwas reell ist, dann taugt es was. Das Wort kann gleichzeitig wie „sehr“ als Verstärkung benutzt werden.
Gefühl von Heimat
Die Hamburger Tattoo-Legende Christian Warlich (1891–1964) war vier Jahrzehnte lang eine der schillerndsten Figuren auf St. Pauli. Er stach die Haut Tausender Menschen unter dem Motto: „Streng reell. Wundervollste Muster! Giftfrei! Und unverwüstlich bis über den Tod hinaus!“
Solche Geschichten hinter den Kulissen der Sprache zu wissen, bringt nicht nur älteren Menschen etwas, sondern vor allem jüngeren. In der immer globaler werdenden Welt kann es ein Stück „regionale Handfestigkeit“ erzeugen, wie Tilgner glaubt. Etwas gilt nur dort, wo Hamburg oder zumindest Norddeutschland ist. Ein Gefühl von Heimat. Sprache trage „den Code einer (im Idealfall beruhigenden) Nahbereichsidentität in sich und kann so ein Stückchen Gemeinschaftsgefühl stiften. Sie kann den Wert des eigenen Umfelds heben und damit auch das Selbstwertgefühl“, so Daniel Tilgner.
Dabei macht es heutzutage keinen Unterschied mehr, ob man in der Stadt zur Welt kam oder „nur“ zugezogen ist. Das war im 19. Jahrhundert noch anders: „Biste in Hambuich zur Welt gekomm‘, biste erst mal nur gebüürtich, waren aber auch deine Öllern schon in Hamburg geborene Schietbüdel, gehörste in‘ Kreis der Gebornen.“ Inzwischen muss man nicht mehr in dritter Generation auf dem Friedhof Ohlsdorf liegen, um in die Kreise der „besseren Gesellschaft“ Eintritt zu erhalten. Heute ist es wichtiger, das man „nemmich zu seiner Stadt steht, ihre Fahne hochhält und sich ansonsten anstännich benimmpt“.
Worte als Identifikationskraftwerke
Die Sprache des Herzens bleibt immer die, die man mit seinen Eltern spricht, aber die Sprache des Wohnortes kann die Integration erleichtern. Oder, wenn man lange unterwegs war, einen gleich wieder ankommen lassen. Viel emotionaler als eine Stimme vom Band findet man es doch sicherlich, wenn das Fahrpersonal selbst den knackenden Wagenlautsprecher möglichst nuschelig bedient: „Zuuhrückbleim, bidde!“ Minimale Pause, dann deutlich donnernder: „Zuuhrückbleim, hapichgesaacht!!“ Ein wohliger Schauer der Heimat durchzuckt jeden Reisenden, der keine Google Maps App benötigt, um zu wissen: Ich bin in Hamburg.
Worte als Identifikationskraftwerke, die die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ermöglichen. „Wer snackt wie ein Hamburger, der bekommt bestimmt auch etwas zurück. Es handelt sich um eine Zuneigungsgeschichte,“ glaubt Tilgner. Man müsse es sich seiner Ansicht nach vorstellen wie eine Art Kitt: „Dieses Bewusstsein hilft für die Zukunft, wenn man sich aufeinander verlassen muss. So, das klingt jetzt schmalzig. Fast wie in der Kirche.“
Auch zu diesem Themenkomplex findet sich natürlich ein Eintrag in dem Lexikon: „Anscheten, Herr Paster!“ Hinter dieser Redensart verbirgt sich ein Döntje, also eine altbekannte Anekdote, welche aus dem Religionsunterricht der 50er-Jahre überliefert wurde, als ein kleiner Buttje den Pastor zur Allgegenwärtigkeit Gottes befragte: „Is der liebe Gott auch in unsern Gartn!“ – „Ja, klein Bubi.“ – „Auch in unsern Hausflur?“ – „Auch dort.“ „Auch in Vater sein Weinkeller?“ – „Er ist überall, also auch dort.“ – „Anscheten, Herr Paster! Unser Vater hat gaa kein Weinkeller!“