Hamburg. Ton weg, Bild eingefroren – und dann platzt auch noch das Kind herein. Eine nicht ganz ernst gemeinte Beobachtung aus der Praxis.

Praktisch, diese Videokonferenzen. Man muss sich nicht mehr in Konferenzräume ins andere Stockwerk bemühen – und schon gar nicht außer Haus. Das spart viel Zeit. Außerdem kann man nebenbei heimlich seine Mails scannen oder sich unbemerkt die Nägel feilen. Es ist 15.02 Uhr, als sich Jutta Schneider in die Videokonferenz einwählt.

„Ach, Jutta“, da bist du ja“, sagt Projektleiterin Angelika Schmidt-Giebel. Sie hat als Gastgeberin zu diesem Meeting eingeladen. Auf die Begrüßung von Frau Schneider reagiert sie mit Grimassen. „Wir hören dich nicht, du musst den Ton freigeben“, ruft sie. Zu Hause gibt Frau Schneider die Audio-Zuschaltung frei. „Hört ihr mich jetzt?“, fragt sie. Sechs Köpfe nicken. „Tut mir leid, hatte einige technische Probleme.“ „Na, jetzt bist du ja da“, stellt die Gruppenmoderatorin fest.

Zunächst fehlt der Ton

„Jetzt fehlt nur noch Herr Zwiesel, Moment, ich ruf ihn schnell an.“ Auf dem Bildschirm ist zu sehen, wie sie konzen­triert auf ihrem Smartphone tippt, dann aber aufblickt. „Ich glaube, da kommt Herr Zwiesel, ich lasse ihn mal herein.“ Ein weiteres Bild baut sich auf, zunächst ohne Ton. „Sie müssen den Ton freigeben!“, ruft Schmidt-Giebel. Das Bild flackert etwas, Martin Zwiesel ist leicht verpixelt zu sehen. Frau Schmidt-Giebel gestikuliert. Herr Zwiesel scheint zu verstehen, was sie meint, jedenfalls wird das Bild klarer, und Ton ist jetzt auch da. „Moin zusammen“, sagt er leicht verlegen. Es ist 15.12 Uhr.

Frau Schmidt-Giebel eröffnet die Sitzung. „Schön, dass es alle geschafft haben“, sagt sie. „Ich hoffe, diese Form der Konferenz ist für euch okay?“ Gundula Hilke-Neumann runzelt die Stirn. „Ich habe nicht ganz verstanden, was du gesagt hast“, hakt sie nach. „Ob diese Form der Konferenz für euch okay ist?“, ruft Frau Schmidt-Giebel nun schon etwas lauter. „Ach so, ja klar“, sagt Frau Hilke-Neumann.

Ein Tackern ist zu hören – es wird zum Dauerklackern

Ein Tackern ist zu hören, erst leise, dann lauter. Acht Gesichter in acht Mini-Bildschirmen schauen irritiert. „Tippt da jemand?“, will Gruppenmoderatorin Angelika Schmidt-Giebel wissen. Das Tackern wird zu einer Art Dauerklackern. „Bitte mal alle, die gerade nicht sprechen, den Ton ausstellen!“ Nun ist zu sehen, wie sieben Teilnehmer ihren Bildschirm absuchen. Dann erscheint neben ihren Köpfen ein rotes, durchgestrichenes Mikrofon. „So ist es besser“, sagt Schmidt-Renz. Es ist 15.20 Uhr.

Die Konferenz kann beginnen. „Wir wollten uns ja zusammensetzen, also virtuell natürlich, um den Stand des Projekts Delta zu besprechen“, leitet Frau Schmidt-Giebel ein. „Dafür brauchen wir erst mal eine Übersicht der Verkaufszahlen aus den letzten drei Quartalen. Klaus, magst du sie vortragen?“

Diese Konferenz ist auf 40 Minuten begrenzt

Klaus Wiegand, stellvertretender Abteilungsleiter Controlling, übernimmt. Geübt schaltet er den Ton ein. „Danke, Angelika. Ja, am besten zeige ich euch mal einige Grafiken, dann seht ihr selbst ...“ Klaus Wiegand macht ein paar Klicks, dann ist keiner der Teilnehmer der Konferenz mehr im Bild. Stattdessen sieht man den Inhalt seines eigenen Bildschirms mit seinem E-Mail-Programm.

„Moment noch, das war nichts“, sagt er und klickt weiter. Nun ist nur er im Bild, aber keiner der anderen – und auch keine Grafik. „Ach, was soll’s, ich kann die Zahlen auch kurz referieren“, sagt er und schaltet wieder alle Bilder der Konferenzteilnehmer dazu. „Die Verkäufe sind nach dem ersten Corona-Lockdown im März erst einmal stark eingebrochen, um 30 Prozent“, berichtet er.

Moderatorin Schmidt Giebel unterbricht kurz: „Ihr Lieben, diese Konferenz ist auf 40 Minuten begrenzt, weil ich den kostenlosen Zugang nutze. Wundert euch also nicht, wenn es irgendwann abbricht. Vielleicht sind wir dann ja auch durch oder ich lade noch mal neu ein.“ Klaus Wiegand schaut etwas irritiert, räuspert sich und macht dann weiter. Es ist 15.29 Uhr. „Also, wie gesagt. Nach einer Erholung der Verkaufszahlen im Sommer sind sie im Oktober wieder zurückgegangen. Jetzt ist die Frage ...“.

Das Bild steht still – „Julia, bist du noch da?“

Es knistert in der Leitung, die Gesichter der anderen sind kurz verpixelt, dann wieder klar. „Ach, das WLAN ist mal wieder schwach“, sagt Schmidt-Giebel. „Also, jetzt ist die Frage, ob wir die Änderung unserer Preisstruktur so durchziehen wie geplant oder das noch mal zurückstellen“, macht Wiegand weiter. Julia Studt vom Marketing meldet sich per Handzeichen zu Wort. „Julia?“, ruft Moderatorin Schmidt-Giebel sie auf. „Ich habe dazu ein paar wichtige Argumente zuuuusaaamchchchen gestäääällt chrchrchr“, ist von ihr zu hören, bevor ihr Bild einfriert. „Julia? Bist du noch da?“, ruft Angelika Schmidt-Giebel. „... ohne den erfoooorderlichen Rückckckenwinnn“, ist Julia Studt noch kurz zu vernehmen, dann krächzt die Maschine ein paarmal, und es ist Ruhe. „Julia?“, ruft Schmidt-Giebel. Auf dem Bildschirm bewegt sich Julia Studt noch einmal, dann friert ihr Gesicht wieder ein. Es ist 15.35 Uhr.

„Die Verbindung zu Julia ist offenbar abgerissen“, stellt Angelika Schmidt-Giebel fest. Jutta Schneider will auch etwas sagen. Das erkennt man an ihrer Mimik, Ton ist nicht zu hören. „Jutta, du musst dich laut stellen“, sagt Moderatorin Schmidt-Giebel. Schneider schaut konzentriert auf ihren Bildschirm, dann ist sie zu hören. Zu sehen ist nun ihre vierjährige Tochter, die auf ihren Schoss geklettert ist und winkt. Die Übrigen winken zurück. „Wie süß“, sagt Gundula Hilke-Neumann.

Lesen Sie auch:

Jutta Schneider nimmt ihrer Tochter eine Schere aus der Hand. „Vielleicht kann Julia ihren Vorschlag für die nächste Sitzung ausarbeiten“, sagt sie dann in überraschend klarem Ton. „Ja, das ist eine gute Idee“, meint Schmidt-Giebel. „Unsere Zeit ist eh fast um.“ Auf dem Bildausschnitt von Klaus Wiegand ist nur noch ein leerer Schreibtischstuhl zu sehen und dahinter eine Bücherwand. Dann kommt er wieder ins Bild, eine dampfende Tasse in der Hand. „Hab mir nur grad Kaffee geholt“, sagt er entschuldigend. „Wo waren wir?“ Es ist 15.39 Uhr.

„Wir wollten uns vertagen“, sagt Angelika Schmidt-Giebel. „Wir sind ja auch ein gutes Stück weitergekommen.“ Sie schaut hektisch zur Uhr. „Julia arbeitet zum nächsten Mal ihren Vorschlag aus, und der Klaus schickt vorher mal die Zahlen rum, und dann treffen wir uns ….“ Die Verbindung reißt ab.

Hier können Sie den täglichen Corona-Newsletter kostenlos abonnieren