Hamburg. Giovanni di Lorenzo, Julian Reichelt, Barbara Hans: Vertreter der großen Medien sprechen über Journalismus in Zeiten von Corona.
Sie war lang, aber sie hat sich gelohnt: Bei der digitalen Nacht der Medien hat der Hamburger Presseclub zu seinem 50. Geburtstag mit Vertretern der großen in Hamburg (und darüber hinaus) erscheinenden Marken über Journalismus in Zeiten von Corona gesprochen.
Medien in Corona-Zeiten: "Spiegel" & Co. geben Einblicke
Wie kommen „Spiegel“, „Zeit“ und Co. durch die Krise? Wie geht es dem „NDR“, wie der „Bild“-Zeitung und dem Hamburger Abendblatt? Wir dokumentieren die spannendsten Passagen:
Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der „Zeit“:
Giovanni di Lorenzo berichtet von einem „großen Auflagenzuwachs“ über die Corona-Monate, der für viele in der Redaktion „Trost und Ermutigung“ gewesen sei: „Der Auflagenzuwachs gleicht ziemlich genau das aus, was an Erlösen aus Werbung, Veranstaltungen und Reisen weggebrochen ist.“ Das sei für den Verlag fantastisch.
Zu Beginn der Pandemie hatte die „Zeit“ die Redaktion zwei Monate in Kurzarbeit geschickt, Führungskräfte hatten auf Gehalt verzichtet, auch di Lorenzo: „Wir sind so froh, dass das vorbei ist. Denn organisatorisch ist Kurzarbeit für eine Redaktion ein Desaster.“
Der „Zeit“-Chefredakteur bezeichnet sich als geborenen Hypochonder, trotzdem sei er jeden Tag seit Beginn der Pandemie an seinem Arbeitsplatz gewesen: „Ich bin der Mannschaft sehr dankbar, dass fast alle hier in Hamburg weiter ins Büro gekommen sind. Ich glaube fest daran, dass Zeitungen zusammengequatscht werden müssen im direkten Austausch.“
Und: „Wir hatten in der ersten Welle vier Kollegen, die an Corona erkrankt sind, und die saßen alle im Homeoffice. Das ist also keine Garantie dafür, dass man sich nicht ansteckt.“ Grundsätzlich fände er es nicht gut, wenn sich Journalisten zu Hause auf Dauer verbarrikadieren: „Wir sind ein systemrelevanter Beruf. Pfleger und Verkäuferinnen gehen auch jeden Tag arbeiten und riskieren etwas. Dieses Berufsrisiko gehört bei uns auch dazu.“
Giovanni di Lorenzo ist auch in der Corona-Zeit weiter auf Reisen gewesen, nach Berlin und Bremen, wo seine Sendung „3 nach 9“ aufgezeichnet wird, sagt aber, dass ihm das manchmal unheimlich gewesen sei, „gespenstisch“.
„Zeit“-Leser sind oft Wissenschaftler, Lehrer, Intellektuelle – haben die auf die Corona-Berichterstattung einen besonders kritischen Blick? Di Lorenzo will mit dem Vorurteil aufräumen, dass „normale“ Menschen keine „Zeit“-Leser seien, und erzählt von einer „bemerkenswerten Begegnung“ auf einer Bahnfahrt von Berlin nach Hamburg.
Eine Zugbegleiterin habe ihn angesprochen: „Wissen Sie eigentlich, dass ich eine ihrer Leserinnen bin? Und wissen Sie, was mich das kostet, dieses Abo?“ Und dann habe sie einen Satz gesagt, den der Chefredakteur in Konferenzen immer wieder zitiere. Er lautet: „Manchmal verfassen Sie Artikel, die sind so kompliziert formuliert, dass ich den Eindruck habe, Sie wollen mich als Leserin nicht haben.“ Di Lorenzo: „Wir müssen, wenn wir Zeitung machen, an diese Zugbegleiterin denken, das ist wichtig, in jeder Hinsicht.“
Zur Kritik an der Corona-Berichterstattung: Ein kleiner Teil der Leser würde „den Medien“ vorwerfen, zu schnell auf den Kurs der Regierung einzuschwenken. „Vor allem aber gibt es die Kritik, dass wir zu viel über Corona berichten. Die Menschen wollen auch etwas anderes lesen, mir geht es übrigens genauso.“ Di Lorenzo glaubt, dass die Krise unser aller Leben nachhaltig verändern wird: „Du lernst Menschen von ihrer besten und von ihrer schlechtesten Seite kennen, beides wirkt nach.“ Er selber würde Leute bis heute ermahnen, wenn sie keine Masken trügen, „weil es doch nur Sinn macht, wenn wir das alle tun“.
Philipp Westermeyer, Chef und Gründer der Online Marketing Rockstars (OMR):
Philipp Westermeyer war mit der Absage seines OMR-Festivals, zu dem im Mai eigentlich 60.000 Menschen nach Hamburg kommen sollten, von allen Medienunternehmern am stärksten von der Pandemie betroffen: „Dadurch haben wir viel Geld verloren, danach aber viele neue Projekte angeschoben, die sich allmählich auszahlen.“
Dazu gehören neben den inzwischen 60 Podcasts, die OMR mit 25 Mitarbeitern produziert, auch ein erster Dokumentarfilm, den Westermeyer über den ehemaligen Bertelsmann- und Karstadt-Chef Thomas Middelhoff gedreht hat (erscheint am 19. November). „Wir haben uns echt gut gewandelt, deshalb schaue ich relativ entspannt aufs nächste Jahr, von dem man ja nicht weiß, ob es ein OMR-Festival geben wird.“
Tatsächlich habe man sich davon „unter Druck“ ein wenig emanzipiert: „Bis vor einem Dreivierteljahr war das Festival für uns das beherrschende Element, was ich immer schon etwas gefährlich fand. Denn wir wollen ja eine Medienmarke sein, kein Eventveranstalter.“
Der Umbau zum Medienunternehmen sei lange geplant gewesen, und jetzt beschleunigt worden, „und wir kommen damit sehr gut klar: ich hätte das OMR-Festival 2021 schon sehr gern, aber es würde uns auch ohne geben können“. Wenn es ein OMR-Festival 2021 geben sollte, dann frühestens in der zweiten Jahreshälfte – eine Entscheidung soll Anfang des Jahres fallen.
Insgesamt sei OMR auch deswegen gut durch die Krise gekommen, so Westermeyer weiter, weil „die meisten unserer Kunden, etwa aus der Software-Branche, davon nicht so stark betroffen waren“. Die Zahl der OMR-Mitarbeiter sei 2020 gestiegen, auf jetzt 120.
Das liege auch stark an der Entwicklung im Podcastbereich, die durch den Podcast von Christian Drosten noch einmal einen Schub bekommen hätte: „Er hat ganz andere Zielgruppen auf Podcasts aufmerksam gemacht“, sagt Westermeyer, der glaubt, dass es im nächsten Jahr die ersten Podcast-Umsatzmillionäre in Deutschland geben wird – wobei das Geld vor allem durch Werbung kommen werde.
An Podcasts, die sich über Abo-Modelle finanzieren, glaubt er dagegen nicht. Übrigens: Philipp Westermeyer hat in seinem eigenen Podcast demnächst VW-Chef Herbert Diess und Altkanzler Gerhard Schröder zu Gast.
Und was hat der OMR-Chef mit Dokumentarfilmen vor? „Es ist wie bei den Podcasts früher: Wir haben bestimmte Zugänge, die andere nicht haben, und die wollen wir jetzt auch im Filmbereich nutzen.“ Es sei ein Test, auf den er sehr gespannt sei. Der zweite Schritt könne sein, dass man „auf Dauer Abonnenten aufbaut für unsere Dokumentarfilme: aber das schafft du nie, wenn du nicht zeigst, dass du es kannst.“
Lars Haider, Chefredakteur des Hamburger Abendblatts:
Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider erzählte in seinen Gesprächen mit di Lorenzo und Westermeyer, dass die Zeitung bisher ohne Kurzarbeit durch die Krise gekommen sei, „es gab ja gerade durch Corona auch sehr viel zu berichten“.
Das Abendblatt habe weitgehend auf mobiles Arbeiten umgestellt, „auch um einen Beitrag zur Verringerung der Kontakte zu leisten“, was viel besser funktioniere als gedacht. Die Kommunikation über Videokonferenzen sei konzentrierter, effektiver und „nicht weniger kreativ“ als bisher.
In der Pandemie-Zeit hat das Abendblatt die Zahl seiner Podcasts auf 20 ausgebaut, mehrere Video-Formate wie eine digitale Konzertreihe oder die Talkshow abendblatt@work entwickelt, 25 neue Magazine und diverse Newsletter auf den Markt gebracht: „Wir tun alles, damit die Hamburgerinnen und Hamburg gut durch die Krise kommen – und sich von ihr ablenken können“, sagt Haider.
Das Interesse der Leser am Abendblatt sei dabei noch einmal gestiegen – genauso wie die Zahl der Menschen, die die Zeitung (vor allem digital) abonnieren: In der Spitze seien bis zu 400 Abos am Tag dazugekommen, der erste Podcast habe inzwischen mehr als 100.000 Abonnenten.
Tanit Koch, Chefredakteurin der RTL-Zentralredaktion und Geschäftsführerin von n-tv:
Tanit Koch berichtete, dass auch Fernsehen aus dem Homeoffice heraus funktionieren kann: Rund 70 Prozent ihrer Kolleginnen und Kollegen arbeiten derzeit von zu Hause, „die Leute vertonen unter der Bettdecke und im Kleiderschrank“, so Koch.
„Es ist fast ein Wunder, dass das alles so klappt, ohne dass der Bildschirm irgendwann einmal schwarz bleibt."RTL und n-tv seien im Dauer-Breaking-News-Zustand, das gehe bei vielen an die Substanz, sei aber auch sehr befriedigend.
Was fehlt? „Der direkte, menschliche Austausch“, sagt Tanit Koch, die früher Redaktionsleiterin der „Bild“-Zeitung in Hamburg und später Chefredakteurin des Blattes in Berlin war. Wie findet sie den Wandel ihres ehemaligen Arbeitgebers (auch) zu einer TV-Marke? „Es gibt viele Wettbewerber, und das ist gut so, aber wir konzentrieren uns auf uns“, sagte Koch.
Und hatte auch ein Lob für die „Bild“-Kollegen: „Ich fand deren Idee, von der US-Wahl aus einem eigenen Oval Office zu berichten, sehr gut. Wir könnten sowas aus Gründen der Glaubwürdigkeit nicht machen.“ Für das neue Jahr wünsche sie sich „Raum für Eskapismus, damit die Menschen auch andere Themen hören, sehen und lesen können als Corona“.
Julian Reichelt, Chefredakteur und inzwischen auch Geschäftsführer der „Bild“-Zeitung:
Julian Reichelt erzählte, dass „Bild“ als große Medienmarke, die manchmal zu Behäbigkeit neige, durch die Krise wendiger geworden sei. „Wir haben viele Dinge viel schneller umgesetzt, als ich das für möglich gehalten habe.“
Das betreffe insbesondere „Bild live“, mit dem er aus der Zeitung viel stärker eine TV-Marke machen will – zuletzt hatte „Bild“ mehr als zwölf Stunden live aus einem eigenen Oval Office (das für 20.000 Euro nachgebaut worden war) gesendet.
„Es hätte kein besseres Jahr für den Start dieses Projekts geben können, weil es zu keiner Zeit mehr Bedarf gegeben hat, Dinge live mitzuerleben“, so Reichelt. Zu seiner neuen Doppelrolle als Chefredakteur und Geschäftsführer sagte er: „Ich habe jetzt formal auch die Funktion, die ich gedanklich schon immer mitgedacht habe. Chefredakteure tragen grundsätzlich viel mehr zum Geschäftsergebnis bei, als sie sich eingestehen.“
Wie blickt Reichelt ins neue Jahr? „Ich bin optimistisch und zuversichtlich, auch wenn mich der zweite Lockdown in vielerlei Hinsicht deprimiert. Aber aus „Bild“-Sicht haben wir 2020 so gut zur Transformation genutzt, dass 2021 ein historisches Jahr für uns werden könnte. Das wäre ohne Corona wahrscheinlich nicht möglich gewesen.“
Barbara Hans, Co-Chefredakteurin beim „Spiegel“:
Barbara Hans findet, dass die „ganze Medienbranche gelernt hat, wie wandelbar sie ist“. Für den Journalismus seien Corona- auch „tolle Zeiten, weil das Informationsbedürfnis und dass Interesse an Qualitätsmedien sehr groß ist“.
Beim „Spiegel“ seien die Zugriffszahlen in den vergangenen Monaten teilweise „durch die Decke“ gegangen, die Verantwortung, Inszenierungen von Politikern, Virologen und Corona-Gegnern in der Krise kritisch zu beurteilen, sei gleichsam gestiegen.
Der „Spiegel“ würde gerade vor dem Hintergrund der Pandemie bemerken, „dass die Leserinnen und Leser zu uns kommen, weil sie sich die harte, politische Nachricht und Analyse interessieren“. Das sei immer der Markenkern gewesen, und werde es auch bleiben: „Man tut gut daran, dass fortzusetzen, was man am besten kann.“
Joachim Knuth, seit Januar Intendant des NDR:
NDR-Intendant Joachim Knuth freut sich darüber, dass sein Sender „wie so oft bei Krisen von seiner Glaubwürdigkeit profitiert“, journalistisch seien das, so „komisch das klingt“, tolle Zeiten.
Wirtschaftlich liegen schwierige Zeiten vor dem NDR, der innerhalb von vier Jahren 300 Millionen Euro einsparen muss, „auch, weil wir in den vergangenen Jahren etwas über unsere Verhältnisse gelebt haben“, so Knuth.
Und: Bei dieser Summe bleibe es nur, wenn der Rundfunkbeitrag wie geplant zum 1. Januar erhöht wird. Geschieht das nicht, müsste der NDR zusätzlich 35 Millionen Euro pro Jahr einsparen, dann würde man noch einmal über die Strukturen, das Programm und die journalistischen Angebote nachdenken.
Wobei Knuth, der für sechs Jahre gewählt ist, am Journalismus zuletzt sparen will: „Ich fühle eine große Verantwortung als Journalist für dieses Haus.“
Zu sehen ist die digitale Nacht der Medien unter anderem auf der Website des Hamburger Presseclubs.