Hamburg. Der Tatort ist das Spiegelbild der Tat und des Täters. Deshalb gilt es, keine Details zu übersehen und nichts zu verändern.
Nein, kleidsam sind sie wahrlich nicht. Diese weißen Ganzkörper-Anzüge verleihen ihrem Träger eine Optik irgendwo zwischen Astronaut und Michelin-Männchen. Vermutlich ist das der Grund, warum in Fernsehkrimis die Kommissare lieber Jeans, Pulli und sportliche Jacke anziehen – und nicht den obligatorischen Vollschutz aus dem echten Ermittlerleben.
Dieses Abrücken von der Realität zugunsten einer telegeneren Fantasiewelt ist nur einer der Gründe, warum Kriminalhauptkommissar Christian Meinke schon lange keine TV-Krimis mehr sehen mag. „Wie die Leute da durch einen Tatort trampeln: Der wahre Ermittler stirbt tausend Tode, wenn er sieht, wie im Fernsehen agiert wird!“
Filigrane, präzise Arbeit, genaue Beobachtung, sicherer Instinkt und sorgfältige Dokumentation: Spurensicherung nach einem Tötungsdelikt ist Feinstdiagnostik. „Am Tatort wird nichts angefasst und nichts verändert. Denn der Tatort ist das Spiegelbild der Tat und des Täters“, erklärt Meinke, der seit 2016 bei der Hamburger Mordkommission ist und früher unter anderem beim Raubdezernat tätig war. „Die größte Fehlerquelle ist der Beamte am Tatort selbst.“ Deshalb sei es essenziell, dass der Vollschutz getragen wird, also ein Ganzkörper-Anzug, der auch die Haare bedeckt, um keine Spuren, seien es Fasern oder DNA, zu hinterlassen.
Jeder Schritt ist wohl überlegt, man darf sich nicht irgendwo abstützen
„Man muss einen Tatort fühlen und spüren“, erklärt der Kripo-Mann. „Alles kann wichtig sein, auch ein Geruch.“ Zum Beispiel ein schweres Parfüm, das vielleicht der Täter benutzt hat. Oder wenn etwa Bittermandelgeruch in der Luft liegt, könnte das auf eine Vergiftung mit Blausäure hindeuten. „Man bewegt sich sehr langsam und sehr bedacht“, so Meinke. „Und geht ein bisschen wie ein Balletttänzer. Jeder Schritt ist wohl überlegt, man darf sich nicht irgendwo abstützen.“ Denn mit jedem Fußabdruck, mit jedem Handgriff könnten Spuren, die ein Täter hinterlassen hat, zerstört werden.
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Deshalb werde schon beim ersten Betreten einer Wohnung gedanklich eine Art „Trampelpfad“ festgelegt, auf dem sich alle bewegen müssen. „Man geht beispielsweise nur auf der rechten Seite des Flurs. Und wenn es Blutspuren gibt, muss man natürlich vermeiden reinzutreten.“ Blut, Fasern, Sekrete, Finger- und Fußabdrücke, Haare oder Hautschuppen, aus denen DNA abgelesen werden kann: Jede Spur, die zu einem Täter führen kann, muss erfasst werden, jeder Hinweis gesammelt.
Nach einem ersten Eindruck, wird eine frühe Tathypothese erstellt.
Bevor die Spurensicherung ans Werk geht, verschafft sich der Ermittler einen ersten Eindruck vom Tatort. Wie liegt der Leichnam? Wirkt die Situation so, als habe ein Kampf stattgefunden? Was fällt auf? Stehen beispielsweise zwei Kaffeebecher auf dem Küchentisch, was auf einen Besucher kurz vor der Tat hindeuten könnte? „Grundsätzlich sind wir zu zweit, wenn wir uns einen ersten Eindruck von einem Tatort verschaffen“, erzählt der 47-Jährige.
Nun, nach einem ersten Eindruck, wird eine frühe Tathypothese erstellt. „Was ist passiert, und wie ist es passiert? Für die Aufklärung eines Tötungsdelikts ist der Dreh- und Angelpunkt der Ermittlungen der Tatort. Was wir dort nicht finden und nicht bemerken, ist auf ewig verloren“, erläutert Meinke. Deshalb werde ein Tatort „eingefroren“. Das geschieht mithilfe eines 3-D-Scanners, der aussieht wie eine klobige Kamera auf einem Stativ.
Ein Scan dauert wenige Minuten, gegebenenfalls wird das Gerät nach und nach versetzt, um weitere Räume oder Regionen aufzuzeichnen, beispielsweise das Treppenhaus vor einer Wohnung, in der ein Mord geschehen ist. Mithilfe dieser Scan-Optiken können die Ermittler sich später noch wie am Originalort dreidimensional „bewegen“. So können beispielsweise Angaben von Verdächtigen oder Zeugen überprüft werden. Einen Tatort „einzufrieren“ bedeutet aber auch: Jede Veränderung, die vor Eintreffen der Ermittler vorgenommen wurde, muss protokolliert werden. Etwa, wenn Notärzte, die in der Wohnung waren, einen Stuhl zur Seite gestellt haben, um sich Platz für ihre Rettungsmaßnahmen zu verschaffen. „Jedes Detail kann wichtig sein“, betont Meinke.
"Der Tatort endet erst dort, wo sich die Spur des Täters verliert“
Die Ermittler würden den Toten zudem nicht bewegen. Auch der Rechtsmediziner, der im Fernsehkrimi üblicherweise als Erstes die Leiche umdreht und vielleicht eine frühe Einschätzung zur Todeszeit gibt, kommt noch nicht zum Zug. Vorher treten die Fachleute von der Spurensicherung in Aktion, die alle erreichbaren Stellen des Leichnams mit einem speziellen Klebeband abkleben, um mögliche Spuren wie Fasern oder Hautschuppen zu sichern, die vom Täter stammen könnten. Erst dann wird der Tote umgedreht, um nun an der anderen Körperseite Spuren zu sichern.
Wichtig sei es, dass der Rechtsmediziner relativ früh die Körperkerntemperatur am Leichnam misst, weil dies für die Feststellung des Todeszeitpunkts wichtig ist. „So lange bleibt auch das Fenster zu, um die Raumtemperatur nicht zu verändern – egal, wie übel es in der Wohnung stinken mag.“ Menthol gegen den fiesen Geruch unter die Nase zu reiben, sei indes eine Erfindung von Drehbuchautoren. „Ich kenne keinen Kollegen, der das je benutzt hat. Obwohl der Geruch oft das Schlimmste am Tatort ist und nicht die Optik.“
Die im Krimi oft genutzten Spurentafeln werden allerdings auch am echten Tatort aufgestellt. Nummeriert werde systematisch von links nach rechts oder im Uhrzeigersinn, „wie es am sinnvollsten erscheint“, sagt der Mordermittler. Wichtig sei auch die Suche nach einem möglichen Tatwerkzeug. Werden Gegenstände als Beweismittel vom Tatort mitgenommen, werden sie nicht in Klarsichttüten verpackt wie im Krimi. „Wir benutzen fast ausschließlich Papiertüten“, erklärt Kripo-Mann Meinke. „Würden wir beispielsweise ein blutiges Tatmesser in einer Plastiktüte lagern, würde das schimmeln, und die Spur wäre vernichtet. Unter Luftabschluss verändern sich selbst Fingerspuren.“ Und natürlich beschränke sich die Spurensuche nicht auf die Wohnung des Opfers. „Wir stellen auch die Kippe im Gebüsch sicher. Der Tatort endet erst dort, wo sich die Spur des Täters verliert.“
„Wir gucken in den Kühlschrank, durchsuchen Schubladen"
In der Wohnung des Opfers ist der Müll ebenfalls von Interesse. „Wir gucken in den Kühlschrank, durchsuchen Schubladen, um beispielsweise ein Testament zu finden, den Pass, Hinweise auf Angehörige“, erzählt Meinke. Immens wichtig sei zu heutiger Zeit zudem die Auswertung elektronischer Geräte wie Handys und Computer. „Und auch ein Täter hinterlässt digitale Spuren.“ So würden von der Polizei unter Umständen von den Providern die Handydaten all jener Leute angefordert, die zur mutmaßlichen Tatzeit in der Nähe des Tatorts gewesen sind. „Wir gehen wirklich jeder Spur nach.“
Wichtige Hinweise kann zudem Blut am Tatort liefern. Einer von denen, die sich damit besonders gut auskennen, ist der Biologe Oliver Krebs, der am Institut für Rechtsmedizin des UKE arbeitet. Er kommt meist erst dann zum Tatort, wenn die Experten von der Spurensicherung fertig sind. „Blutspuren bleiben. Wir haben Zeit, da wir uns in der Regel nicht um die Spuren am Leichnam kümmern“, erzählt Krebs. „Die Kleidung geht zur Polizei.“ Und wenn am Opfer Blut gefunden wird, das vom Täter stammen könnte, würden mit einem Tupfer Abriebe genommen, die in Absprache mit der Kripo untersucht werden.
„Für uns interessanter ist der Tatort selbst“, erklärt der Experte. Dort suchen er und seine Kollegen nach Blutspuren, die mit bloßem Auge sichtbar sind – und auch solchen, die verborgen wurden, sei es, dass jemand aufwendig geputzt hat oder dass beispielsweise eine Wand, auf der Blutflecken waren, übermalt wurde. „Blut ist etwas, das man schwer loswird“, weiß Krebs. „Auch wenn man es nicht mehr sieht, ist es noch da. Da hilft kein Putzen, kein Feuer, keine noch so heiße Wäsche.“ An einem Tatort inspiziert Krebs die Räume, guckt gegebenenfalls mit Taschenlampe und Lupe, um jeden noch so kleinen Blutstropfen aufzuspüren. „Wenn es eine große Blutlache gibt, ist offensichtlich, dass an der Stelle das Opfer lange gelegen hat.“ Bei den Blutspuren werden mit Tupfern exemplarisch Proben genommen. Stets stelle sich die Frage, ob Blut vom Täter am Geschehensort zu finden ist. „Wir können herausfinden: Von wie vielen Personen finden wir Blut? Und wir erstellen das DNA-Profil.“
Auch die Formen der einzelnen Blutspuren liefern Informationen
Nicht selten müsse an einem Tatort auch die Frage geklärt werden, ob es sich überhaupt um menschliches Blut handelt. „Dafür machen wir vor Ort einen Schnelltest“, erläutert der Biologe. Und oft sei der Fundort des Toten nicht die Stelle, wo die Tat ihren Ursprung hat. „Es gibt mitunter viel Bewegung der Beteiligten durch hoch emotionale Zustände und Kämpfe. Ein verletztes Opfer versucht, weitere Angriffe abzuwehren oder zu entkommen. Und der Täter verfolgt ihn.“ Ein erster Angriff sorge häufig für eine offene Wunde. „Erst vom zweiten Schlag an gibt es Spritzmuster. Daraus versuchen wir zu deuten, wie sich eine Tat zugetragen hat.“
Etwa bei einem Axtmord. Wenn der Leichnam im Bett liegt und die Blutspritzer vom Kopf aus in alle Richtungen gehen, muss das Opfer bei dem Verbrechen gelegen haben. „Wir hatten auch Fälle, wo wir die Bewegung des Täters sehen konnten, weil er in Blut getreten ist.“
Aber nicht nur das Muster, auch die Formen der einzelnen Blutspuren liefern Informationen. Da unterscheiden die Fachleute unter anderem zwischen der Bärentatzenform, der Kommaform oder den Ausrufezeichen. Bei Letzteren zum Beispiel sei das Blut in die Richtung gespritzt, in die der Punkt des „Ausrufezeichens“ deutet, erzählt der Biologe. Aus dem Muster und der Form von Blutspuren könne deren Flugrichtung abgeleitet werden. „Früher haben wir Bindfäden im Raum entsprechend der Blutspuren gespannt, sodass sich eine Art Spinnennetzmuster ergab. Wo die Linien sich schnitten, hatten wir den Ort, an dem es zur Gewalteinwirkung kam.“ Heute machen das Scanner und Software.
„Wenn man den Raum abdunkelt, wird das Blut sichtbar“
Durch die Blutspurenanalyse könne nicht nur der Ort einer Gewalteinwirkung bestimmt werden, sondern auch Aussagen zu den beteiligten Werkzeugen und Geschehensabläufen getroffen werden. „Von wo ist die Gewalt gekommen? In welchem Winkel ist ein Schlag beim Opfer aufgetroffen? Wie haben Täter und Opfer zueinander gestanden? Im besten Fall bekommen wir zu allen diesen Fragen Erkenntnisse. Ich kann anhand eines bestimmten Blutspurenmusters beispielsweise auch erkennen, ob jemand mit großem Schwung ausgeholt hat.“ Und von sogenannten Transferspuren sprechen die Experten, wenn jemand mit blutiger Hand an der Wand entlanggestreift ist. „Auch dies ergibt ein charakteristisches Muster.“
Selbst wenn keine Blutspuren sichtbar sind, heißt das nicht, dass es keine gibt. Vielleicht hat jemand mühsam geschrubbt, um den Teppich oder das Sofa wieder sauber zu bekommen, in der Hoffnung, dass nichts nachgewiesen werden kann. Doch das ist ein Irrtum. Sichtbar machen Experten das Blut mit der Flüssigkeit Luminol, die mit einem bestimmten Anteil des roten Blutfarbstoffs reagiert und dann blau leuchtet.
„Wenn man den Raum abdunkelt, wird das Blut so sichtbar“, erläutert Krebs. Nicht einmal Überstreichen hilft. „Wir haben auch dann eine Leuchtreaktion, wenn vier- bis fünfmal gemalt wurde“, verrät der Biologe. So kamen die Ermittler schon manchem Verbrechen auf die Spur. „Da hat jemand seinen Keller gestrichen, den Teppich rausgerissen. Und trotzdem haben wir Blut nachgewiesen.“