Hamburg. Ein Impfstoff ist in Sicht, doch Experten stellen eine Corona-Müdigkeit fest. Forscher debattieren über die Folgen der Pandemie.

Aktueller hätte das Symposium „Infektionen und Gesellschaft“ am Freitag im Hotel Elysée nicht sein können — wenige Stunden zuvor war mit 18.681 Corona-Neuinfektionen eine bundesweite Rekordmarke gemeldet worden, ab Montag hätte der Lockdown ein solches Seminar wohl unmöglich gemacht. „Wir leben in einer Zeit der Zumutungen – wir sind in der zweiten Welle“, sagte Prof. Edwin Kreuzer, Präsident der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, zur Begrüßung.

Der Kopf hinter der Veranstaltung der Akademie der Wissenschaften, der UKE-Infektiologe Prof. Ansgar Lohse, hatte das Symposium vor einem Jahr zu planen begonnen, nun hat Corona ihm das Anwerben der Experten erleichtert. „So einfach war es noch nie“, sagte er. Im Mittelpunkt der ganztägigen Veranstaltung standen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unserer Lebens mit Epidemien.

Die Zukunft nahm dabei einen breiten Raum ein. Prof. Marylyn Addo von der Sektion Infektiologie am UKE begann mit einer persönlichen Geschichte: Zum letzten Mal sei sie beim Ball der Katholischen Schulen in dem Großen Festsaal gewesen – in feierlicher Atmosphäre. „Seitdem hat sich einiges verändert“, sagte sie lakonisch. Nun waren die Mindestabstände penibel ausgemessen, die meisten der knapp 40 Teilnehmer trugen durchgängig Masken, viele Experten wie ifo-Chef Clemens Fuest ließen sich per Video zuschalten, interessierte Zuhörer durften die Konferenz nur im Internet verfolgen.

Zehn Impfstoffe gegen Corona in letzter Phase 3

Addo verwies in ihrem Vortrag auf eine Fülle von Epidemien: In elf Jahren gab es sechs internationale Gesundheitsnotfälle. Als Beschleuniger der weltweiten Forschung wirkte der Ebola-Ausbruch 2014 in Westafrika. „Währenddessen gab es eine Impfstoffentwicklung in noch nie da gewesener Schnelligkeit. Ebola hat alles verändert“, sagt Addo. Diese Erfahrungen und Erkenntnisse kämen den Forschern in der jetzigen Pandemie zugute: Damals gründete sich mit CEPI eine internationale Allianz aus Regierungen, der WHO, der EU-Kommission und Forschungseinrichtungen; zudem fanden Impfstoffentwickler zusammen, die nun zusammenarbeiten. „Wir haben uns auf eine ähnliche Situation mental vorbereitet“, sagt Addo. „Die Schnelligkeit von der Entdeckung eines Erregers bis zur ersten Impfung wie jetzt bei Covid-19 hat es noch nie gegeben.“

Derzeit befänden sich 45 Impfstoffe in der klinischen Erprobung, zehn davon in der letzten Phase. „Wir warten täglich auf die Ergebnisse“, sagte Addo. Drei Impfstoffe lägen vorn – ein Vakzin der Universität Oxford mit Astra Zeneca, das nur einmal verabreicht werden muss, sowie die Impfstoffe des US-amerikanischen Biotech-Unternehmens Moderna und der deutschen Biontech in Allianz mit Pfizer. Letzterer wird derzeit auch in Hamburg getestet. Addo zeigte sich zuversichtlich: „Aus den Studien bekommen wir sehr viele positive Signale“. Zudem liefen weitere Studien zu anderen Impfstoffen im UKE, die durch das Deutsche Zentrum für Infektionsforschung gefördert würden.

„Covid-19 birgt enorme Chancen für die Impfstoffentwicklung insgesamt“. So erhofft sich Addo zahlreiche neue Erkenntnisse und Strategien für die Zukunft. „Bis dato war vieles Versuch und Irrtum – mit den Daten aus dieser Forschung werden wir vieles besser verstehen, auch für die nächste Epidemie.“ Addo warb für die Kraft der Forschung: „Impfstoffe haben nach sauberem Wasser den größten Einfluss auf die Senkung der Sterblichkeit gehabt – mehr noch als Antibiotika.“

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Corona-Müdigkeit in Deutschland?

Prof. Cornelia Betsch von der Universität Erfurt befasst sich wissenschaftlich mit der Angst vor dem Impfen wie mit der Angst vor Infektionen. „Die Risikowahrnehmung hat zuletzt wieder zugenommen, bleibt aber hinter der im Frühjahr zurück“, sagte sie. Betsch sieht eine gewisse Pandemie-Müdigkeit in Deutschland. Aus der Angst vor der Infektion sei bei machen eine Angst vor Impfungen geworden – während der ersten Welle ließen viele Deutsche wichtige Impfungen aus. Eigentlich sei die Bühne für einen Impfstoff nun perfekt, weil er den einzigen Ausweg aus dieser Naturkatastrophe weise.

Europaweit aber sei die Bereitschaft nur „mittelprächtig ausgebildet“, in Italien und Großbritannien stärker, in Deutschland und Frankreich schwächer und zuletzt sogar rückläufig. Die Sicherheit des Impfstoffs wie seine Wirksamkeit seien von extremer Wichtigkeit. Sie rät zu einer frühzeitigen und transparenten Kommunikation, nicht zu Werbung.„Wir müssen extrem gut informieren und Unsicherheiten ausräumen, sagte Betsch. „Impfen ist ein sozialer Vertrag – daher muss die Mehrheit mitmachen.“

Corona wird nicht die letzte Pandemie sein

Den Blick zurück in die Infektionsgeschichte der Menschheit warf Prof. Hans-Georg Kräusslich, Virologe am Universitätsklinikum Heidelberg: Die Pest im 14. Jahrhundert etwa tötete jeden dritten Europäer und veränderte die Welt. Die Pocken rafften sogar die Hälfte der Azteken im 16. Jahrhundert dahin - und ebneten den spanischen Eroberern in Mittelamerika den Weg. Im 20. Jahrhundert wüteten die Spanische Grippe mit 20-50 Millionen Toten und die Asiatische und Hongkong-Grippe mit jeweils ein bis vier Millionen Toten weltweit. „Wir werden auch in Zukunft mit neuen Erregern konfrontiert werden und sollten uns darauf einstellen“, sagte Kräusslich.

UKE-Infektiologe Prof. Ansgar Lohse ist der Kopf hinter der Veranstaltung der Akademie der Wissenschaften.
UKE-Infektiologe Prof. Ansgar Lohse ist der Kopf hinter der Veranstaltung der Akademie der Wissenschaften. © HA | Andreas Laible

Prof. Clemens Fuest vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und Präsident des ifo-Instituts verwies auf die vielfältigen Folgen der Pandemie. Es gebe die Gefahr von Abwärtsspiralen, so könnte eine durch Corona ausgelöste Insolvenzwelle in einer Finanzkrise münden. Der Wachstumseinbruch sei enorm: „Die aktuelle Krise stellt die Finanzkrise in den Schatten.“ Fuest hofft aber auf eine kurze Krise. Hoffnung mache, dass der Konsum deutlich stärker eingebrochen sei als die Einkommen – so würde sich die Kaufkraft aufstauen. Die Politik müsse nun sehr zielgenau arbeiten, weil Branchen sehr unterschiedlich betroffen sind.

„Wir befinden uns in einer 90-Prozent-Ökonomie“, sagte Fuest. Der überraschende Anstieg der Infektionen sei in den aktuellen Prognosen noch nicht eingepreist. Trotzdem hält er den nun verhängten Lockdown light für den richtigen Weg: Wirtschaftlich würde er hochrentabel sein, sollte er einen weiteren Lockdown vermeiden helfen. Zu starke und übereilte Lockerungen seien für die Wirtschaft hingegen kontraproduktiv: „Ein langsamer Öffnungsprozess ist oftmals vernünftiger.“

Ist Corona der Totengräber der neuen Urbanität?

Der Geograf Prof. Jürgen Oßenbrügge von der Universität Hamburg betonte, dass der Umgang mit Seuchen eine zentrale Rolle für die Stadtplanung spielte. „Ist Corona der Totengräber der neuen Urbanität?“, stellte er als Frage in den Raum. Die Innenstädte verlieren wegen der sinkenden Büronachfrage und der Krise des Einzelhandels, eine Stadtflucht beginnt. Die Wohnung werde viel wichtiger, wenn die Aufforderung lautet: „Bleiben Sie zu Hause“. „Städte sind eine Ansammlung von Singlehaushalten“, sagte Oßenbrügge.

Der Lockdown werde schnell zur Zumutung, wenn die Wohnungen nicht über einen Balkon oder einen Gartenzugang verfügten und wie ein „erweitertes Gefängnis“ wirkten. Gerade in sozial schwachen Stadtteilen sei die Lage schwierig, hinzu kämen oft Lärm- und Platzprobleme. „Die Zukunftsstadt muss an Pandemien angepasst sein und eine hohe Lebensqualität bieten.“ Der Ruf nach Nachverdichtung werde in Zukunft kritischer gesehen, prophezeite Oßenbrügge. Zugleich werde das Viertel wichtiger – das soziale Quartier übernehme die Funktion einer erweiterten Familie, Wasser und Grün wiederum schafften „therapeutische Inseln in der Stadt“.

Coronavirus: Die Interaktive Karte

Welche psychischen Folgen bringt Corona?

Die psychischen Folgen der Pandemie-Maßnahmen beleuchtete Prof. Tania Lincoln von der Universität Hamburg. „Der Mensch ist ein soziales Wesen und sucht die Nähe und Bindung zu anderen.“ Distanzierungen könne zu psychische Beeinträchtigungen, Symptomen und Störungen führen. Der Blick zurück zeige, dass Epidemien und Quarantäne zu Frustration und Ärger, Schlaf- und Konzentrationsproblemen, Ängsten und Stresssymptomen, Alkoholmissbrauch, Depression und Suizidalität führen könne. Jüngere Menschen, Arme, psychisch Vorbelastete und Frauen seien demnach eher betroffen.

Die Probleme nähmen mit der Länge der Quarantäne tendenziell zu. Eine eigene Studie der Universität kommt indes zu etwas anderen Ergebnissen. Demnach ist die Einsamkeit das Hauptproblem. „Die psychischen Folgen der eher kurzen und milden Maßnahmen im Frühjahr in Deutschland“, so schlussfolgert Lincoln, „scheinen sich bislang in Grenzen gehalten zu haben.“

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Die verfassungsrechtlichen Grenzen des Infektionsschutzes lotete Prof. Horst Dreier von der Universität Würzburg aus. In Deutschland gebe es bislang eben keinen Rückgriff auf ein Notstandsrecht. „Verfassungsrechtlich befinden wir uns in einem außergewöhnlichen Zustand, aber nicht im Ausnahmezustand.“ Es gelte also das normale Prüfprogramm, ob sich die staatlichen Maßnahmen im Rahmen des Grundgesetzes bewegten. Verordnungen könnten nicht auf Dauer die Gesetze ignorieren.

Vorwurf: Selbstentmachtung des Bundestags?

Zudem machte Dreier klar: „Das Parlament ist das Gravitationszentrum der Demokratie und Forum der öffentlichen Debatte.“ Der Bundestag könnte die Rechtsverordnungen in Gesetze gießen, statt ein verfassungsrechtlich nicht existierendes Entscheidungsorgan aus Kanzlerin und Ministerpräsidenten zu akzeptieren. „Das wäre ein großer Legitimationsgewinn. Derzeit erleben wir eine Selbstentmachtung des Bundestags.“ Weiter sagte Dreier: „Der Gesundheitsschutz ist kein Ober- oder Supergrundrecht.“

In der anschließenden Diskussion klang eine Prognose weit über das Symposium "Infektionen und Gesellschaft" der Akademie der Wissenschaften nach. „Wir haben uns zu lange in Sicherheit gewiegt. Die nächste Pandemie wird kommen“, sagte Prof. Martin Lohse von der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. „Wir sollten beim nächsten Mal besser vorbereitet sein.“